In Europa lässt man arbeiten, bis man nicht mehr kann, so ähnlich schrieb die französische Humanite am 24. Januar. Denn Nicolas Lambert, Forschungsingenieur bei der staatlichen Forschungsanstalt CNRS im Fachbereich »Geografische Information«, hat ein Mantra der französischen Regierung Macron wie auch der deutschen Bundesregierung in der Rentenfrage widerlegt: Man lebe länger, also müsse auch länger gearbeitet werden. Er widerlegte dieses Märchen gleich in zweifacher Weise. Nach Eurostat betrug die Lebenserwartung bei der Geburt 2020 im Durchschnitt der siebenundzwanzig Länder der Europäischen Union 80,4 Jahre, im Jahr 2010 waren es 80 Jahre. Das heißt, die Lebenserwartung stagniert in Europa.
Aber Nicolas Lambert geht noch weiter. Die Lebenserwartung ohne mehr oder weniger große gesundheitliche Probleme gelte es als Grundlage zu nehmen, das Ziel der arbeitenden Menschen ist: »ein paar gesunde Jahre in Rente«. Und in der EU ist die »Lebenserwartung in guter Gesundheit« bis zum Jahr 2020 auf 64 Jahre gestiegen. Im Jahr 2004 betrug sie noch 63 Jahre, die Europäer haben gerade ein gesundes Jahr im Durchschnitt gewonnen. Der Forscher hat dazu eine Karte angelegt, die den Vergleich ermöglicht: So beträgt die »gesunde Lebenserwartung« in Deutschland 65,7 Jahre, in Frankreich 64,6 Jahre (https://www.touteleurope.eu/economie-et-social/l-age-legal-de-depart-a-la-retraite-dans-l-union-).
Mit der Karte von Nicolas Lambert wird es also möglich, die Rentensysteme zu beurteilen. Wenn man den Zahlen zur Lebenserwartung bei guter Gesundheit die gesetzlichen Renteneintrittszeiten gegenüberstellt, wird die brutale Rücksichtslosigkeit der deutschen wie französischen Rentenreform deutlich.
Denn wenn das gesetzliche Renteneintrittsalter auf 67 Jahre festgelegt wird, während die Lebenserwartung bei guter Gesundheit bei 64 Jahren liegt, bedeutet dies nicht mehr und nicht weniger, als gesunde Rentenjahre abzuschaffen. Oder anders gesagt: Es läuft darauf hinaus, die Menschen so lange arbeiten zu lassen, bis sie zum Wegwerfen taugen.
Dabei berücksichtigen diese Zahlen nicht die soziale Lage der Bevölkerung. Im Jahr 2018 hatte die französische Statistikbehörde INSEE in einer Studie der Jahre 2012-2016 festgestellt, dass man umso länger lebt, je reicher man ist. Nur die Hälfte der fünf Prozent wirtschaftlich Schwächsten wird 75 Jahre alt, jedoch 83 Prozent der fünf Prozent wirtschaftlich Stärksten. Ein Viertel der Ärmsten überlebt das Alter von 62 Jahren nicht.
Bei den Männern sei das besonders ausgeprägt: Die Lebenserwartung bei der Geburt der oberen fünf Prozent (mit einem Einkommen von über 5.800 Euro) war 84,4 Jahre, während sie bei denen, die zu den ärmsten gehören (bei einem durchschnittlichen Einkommen von 466 Euro/Monat), auf 71,7 Jahren sinkt – also eine Differenz von fast 13 Jahren in der Lebenserwartung. Kapitalismus ohne Maske!