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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Prozent-Demokratie

Leu­te, die hun­dert­pro­zen­ti­ge Par­tei­treue erwar­te­ten und mit Straf­maß­nah­men zu erzwin­gen ver­such­ten, nann­ten wir zu vor­de­mo­kra­ti­schen Ost­zei­ten die Hun­dert­fünf­zig­pro­zen­ti­gen. Gibt es sie in der Demo­kra­tie gar nicht? Wie sieht es über­haupt aus mit dem hun­dert­pro­zen­ti­gen Erfolg als Lebens­ziel des Durch­schnitts­men­schen? Von gar kei­nem Maß bis hin zum alle Gren­zen spren­gen­den Über­maß geht da die Ska­la der Mög­lich­kei­ten. Da bleibt nichts ande­res übrig, als ein wenig in die ideo­lo­gisch-poli­ti­sche Pro­zent­rech­nung ein­zu­stei­gen. Und die geht nun mal von null bis hun­dert. CENT heißt Hundert.

Erstens WAHLEN. Da fängt das klein an mit der Fünf­pro­zent­hür­de, an der gan­ze Par­tei­en schei­tern kön­nen. Wird erfolg­rei­cher gewählt, ist im All­ge­mei­nen die ein­fa­che Mehr­heit das Min­de­ste zur Zufrie­den­heit. Alles über die Hälf­te der Stim­men qua­li­fi­ziert, ein Wahl­amt zu über­neh­men. Je mehr Pro­zen­te dazu kom­men, desto bes­ser für Anse­hen und Rück­halt bei ande­ren. Ein wesent­lich Höher­pro­zen­ti­ger als die­se hal­be Por­ti­on ist dann nicht mehr auf Part­ner­schaft mit ande­ren ange­wie­sen. Inso­fern ist Mehr­heit Gold wert. Und Min­der­heit gleicht wehr­lo­sem Blech. Erst bei hun­dert Pro­zent schlägt die Wer­tung um. Hun­dert­pro­zen­tig Gewähl­te nei­gen lei­der ohne wei­te­res zur Alleinherrschaft.

Zwei­tens URTEILE. Wer meint, hun­dert­pro­zen­tig recht zu haben, neigt dazu, das eben­falls für gerecht zu hal­ten. Vor­her noch klug Urtei­len­de glei­ten ins plump-pri­mi­ti­ve Ver­ur­tei­len­de ab. Ein gerech­ter Zorn über ver­mu­te­te Mis­se­ta­ten einer geg­ne­ri­schen Per­son schränkt das Sicht­ver­mö­gen ein. Das geht bis zu extre­mer Kurz­sich­tig­keit, Ver­blen­dung, ja Erblin­dung. Die Arro­ganz erfolg­rei­cher männ­li­cher und weib­li­cher Lei­stungs­trä­ger schlägt unver­se­hens um in Igno­ranz. Von oben her­ab Urtei­len­de rümp­fen die Nase. Ihre extre­me Drauf­sicht ver­klei­nert alle ande­ren Lei­stun­gen womög­lich bis zur Unkennt­lich­keit. Lei­der kommt das sel­ten vor: ein­fach ein­mal zuzu­ge­ben, dass der ande­re Teil teil­wei­se recht haben könn­te. Zu wie viel Pro­zent, bleibt da tun­lichst offen.

Drit­tens REINHEIT. Unrett­bar anders Ticken­de ent­decken die dro­hen­de Gefahr eines geg­ne­ri­schen Anders­seins. Das ist an den bis zu wüsten Mord­dro­hun­gen gehen­den ver­ba­len Aus­fäl­len im Inter­net zu erken­nen. Deren Urhe­ber­schaft ent­hüllt son­nen­klar, wes Ungei­stes Kin­der sich da äußern. Eine ima­gi­nä­re media­le Rei­ni­gungs­in­sti­tu­ti­on zum Säu­bern von ras­si­sti­schem und sexi­sti­schem Müll mel­det sich da zu Wort. Hun­dert Pro­zent sau­ber als End­ziel. Gibt sie dem­nächst die Ter­mi­ne für die näch­sten ver­hee­ren­den Ent­hül­lun­gen bekannt? Mit der Auf­for­de­rung, sich mit ein­schlä­gi­gen Papie­ren zu Miss­brauch und fol­gen­dem Aus­mer­zen anstö­ßi­ger Voka­beln bereitzuhalten?

Vier­tens BITTEN. Ein hoher Pro­zent­satz in die Ver­ar­mung getrie­be­ner Künst­ler­ty­pen lebt unter uns. Wir sehen sie als Bitt­stel­ler am Hofe der Demo­kra­tie. Locken­der Mam­mon wird zu spa­ren­dem Zaster. Geiz ist geil. Da heißt es erst ein­mal den Nach­weis der Bedürf­tig­keit zu erbrin­gen. Die büro­mä­ßi­ge Hof­hal­tung demo­kra­ti­scher Mehr­heit sieht da genau hin. Ehe für Kunst etwas aus­ge­wor­fen wird, sind da vie­le Hür­den zu neh­men. Pro­zent­zah­len sind da aus­ge­spro­chen unbe­liebt. Einen Pro­zent­satz Kul­tur­aus­ga­ben zu beach­ten, wider­spricht dem Gan­zen als Wirt­schafts­fak­tor. Da ist der Fakt als Krea­tiv­wirt­schaft zu betrach­ten. Von einer hoch­pro­zen­ti­gen Erfül­lung der Wün­sche ist nur zu träumen.

Fünf­tens STEUERN. Um Geld­flüs­se rich­tig zu »steu­ern«, braucht es Regu­la­ri­en wie Steu­ern. Wie wird das Staats-Schiff in den Geld­strö­men der Finanz­wirt­schaft gesteu­ert – das ist da die Fra­ge. Wie viel Pro­zent darf da von Gewin­nen oben weg­ge­steu­ert wer­den? Und wie viel Pro­zent muss von unte­ren Ein­kom­men unbe­dingt steu­er­lich ein­be­hal­ten wer­den? In der obe­ren Eta­ge wird das zu einer Fra­ge des geschick­ten Aus­rech­nens und Ver­mei­dens: Wie viel Pro­zent vom Pro­fit kann abge­setzt wer­den? Und an der Basis das Pro­blem, wie viel Pro­zent zum Über­le­ben bleiben.

Sech­stens FEINDE. Der Durch­schnitts­mensch braucht Feind­bil­der. Wenn er schon kei­ne neu­en Göt­ter hat – ohne neue Teu­fel ist er nicht aus der Reser­ve zu locken. Demo­kra­tie braucht Dik­ta­tur als Feind­bild. Zum Gespenst auf­ge­bla­se­ne Chef­te­u­fel sind da unent­behr­lich. An denen darf nichts Posi­ti­ves mehr dran sein. Der Bedeu­tungs­ver­lust eines Fein­des muss radi­kal sein. Wenn sein Image nicht gegen Null ten­diert, stellt er noch eine Gefahr da. Und Demo­kra­tie wird auf dem Papier von Ver­fas­sun­gen und Gesetz­ge­bun­gen zu hun­dert Pro­zent durch­ge­setzt. Anfäl­lig für Fehl­lei­stun­gen? Nicht eingeplant.

Sieb­tens ALKOHOL. Bekannt­lich steigt der Sucht­fak­tor mit dem höhe­ren Alko­hol­ge­halt von Spi­ri­tuo­sen so weit, dass er die Gefahr der Alko­hol­ver­gif­tung her­auf­be­schwört. Die »Sto«, rus­sisch für hun­dert Gramm des ost­wärts recht weit ver­brei­te­ten Wod­kas, bezie­hen sich ja nicht nur auf die vom mili­tä­ri­schen Volks­kom­mis­sar Woro­schi­low ein­ge­führ­te Men­gen­be­zeich­nung. Wenn die sech­zig Pro­zent als Mar­ke über­schrit­ten wer­den, wird es schon gefähr­lich. Höhe­re Pro­zen­te genie­ßen also hier ganz unver­dient den Ide­al­sta­tus. Der Weg zum Miss­brauch von Gin, Korn und Whis­ky ist mit hohen Pro­zent­zah­len gepfla­stert. Fra­gen Sie Ihren Arzt, Bar­kee­per oder Apo­the­ker, was sie ris­kie­ren können.

Ach­tens MATHEMATIK. Letz­ten Endes kommt der neu­gie­rig For­schen­de doch auf den Ursprung jeder Pro­zent­rech­nung zurück. Von den Sequen­zen bis zu Net­to-und-Brut­to­be­trä­gen tut sich da ein wei­tes Feld auf. Vier­tel und Hal­be als Maß­ein­hei­ten kön­nen dage­gen nur als unwis­sen­schaft­lich ins Abseits gestellt wer­den. Die Baby­lo­ni­er wer­den schon ganz gut gewusst haben, war­um sie sei­ner­zeit alles in Bezug auf Hun­dert gesetzt haben. Der Weg bis ins hie­si­ge mit­tel­eu­ro­päi­sche Mit­tel­al­ter war zuge­ge­ben recht weit. Nun­mehr lohn­te sich bei den anfal­len­den höhe­ren Geld­be­trä­gen offen­bar die Ein­füh­rung der Hun­der­ter-Glie­de­rung. Doch bis zur Mes­sung in Metern im metri­schen System gab es Wider­stand zu über­win­den – die Zehn als Angel­punkt zum Zäh­len ist halt so bescheiden.

Neun­tens 150 PROZENT. Nun­mehr bei den Hun­dert­fünf­zig­pro­zen­ti­gen ange­kom­men, kann von Beschei­den­heit kei­ne Rede mehr sein. Men­schen mit die­ser Ambi­ti­on des Auf­tre­tens sehen das eben gar nicht gern, wenn ihnen über­stei­ger­te Radi­ka­li­tät oder Fun­da­men­ta­lis­mus vor­ge­wor­fen wird. Denn sie tre­ten als die Grals­hü­ter hei­li­ger Wer­te auf. Die für sie hal­ben und lau­en Hal­tun­gen ande­rer Men­schen sind ihnen zutiefst zuwi­der. Hun­dert Pro­zent genügt da kei­nes­wegs. So rabi­at sie auf­tre­ten, kann sie kei­ner­lei Wider­spruch beir­ren. Im Gegen­teil – die­ser kratzt sie gewal­tig. Es ist mit allen ver­füg­ba­ren Mit­teln dage­gen ein­zu­schrei­ten, Die dafür ein­ge­setz­ten ent­spre­chen­den aktu­el­len Schlag­wor­te müs­sen hier nicht wie­der­holt wer­den. Sie pla­gen uns als Ohr­wür­mer jeden Tag.