Leute, die hundertprozentige Parteitreue erwarteten und mit Strafmaßnahmen zu erzwingen versuchten, nannten wir zu vordemokratischen Ostzeiten die Hundertfünfzigprozentigen. Gibt es sie in der Demokratie gar nicht? Wie sieht es überhaupt aus mit dem hundertprozentigen Erfolg als Lebensziel des Durchschnittsmenschen? Von gar keinem Maß bis hin zum alle Grenzen sprengenden Übermaß geht da die Skala der Möglichkeiten. Da bleibt nichts anderes übrig, als ein wenig in die ideologisch-politische Prozentrechnung einzusteigen. Und die geht nun mal von null bis hundert. CENT heißt Hundert.
Erstens WAHLEN. Da fängt das klein an mit der Fünfprozenthürde, an der ganze Parteien scheitern können. Wird erfolgreicher gewählt, ist im Allgemeinen die einfache Mehrheit das Mindeste zur Zufriedenheit. Alles über die Hälfte der Stimmen qualifiziert, ein Wahlamt zu übernehmen. Je mehr Prozente dazu kommen, desto besser für Ansehen und Rückhalt bei anderen. Ein wesentlich Höherprozentiger als diese halbe Portion ist dann nicht mehr auf Partnerschaft mit anderen angewiesen. Insofern ist Mehrheit Gold wert. Und Minderheit gleicht wehrlosem Blech. Erst bei hundert Prozent schlägt die Wertung um. Hundertprozentig Gewählte neigen leider ohne weiteres zur Alleinherrschaft.
Zweitens URTEILE. Wer meint, hundertprozentig recht zu haben, neigt dazu, das ebenfalls für gerecht zu halten. Vorher noch klug Urteilende gleiten ins plump-primitive Verurteilende ab. Ein gerechter Zorn über vermutete Missetaten einer gegnerischen Person schränkt das Sichtvermögen ein. Das geht bis zu extremer Kurzsichtigkeit, Verblendung, ja Erblindung. Die Arroganz erfolgreicher männlicher und weiblicher Leistungsträger schlägt unversehens um in Ignoranz. Von oben herab Urteilende rümpfen die Nase. Ihre extreme Draufsicht verkleinert alle anderen Leistungen womöglich bis zur Unkenntlichkeit. Leider kommt das selten vor: einfach einmal zuzugeben, dass der andere Teil teilweise recht haben könnte. Zu wie viel Prozent, bleibt da tunlichst offen.
Drittens REINHEIT. Unrettbar anders Tickende entdecken die drohende Gefahr eines gegnerischen Andersseins. Das ist an den bis zu wüsten Morddrohungen gehenden verbalen Ausfällen im Internet zu erkennen. Deren Urheberschaft enthüllt sonnenklar, wes Ungeistes Kinder sich da äußern. Eine imaginäre mediale Reinigungsinstitution zum Säubern von rassistischem und sexistischem Müll meldet sich da zu Wort. Hundert Prozent sauber als Endziel. Gibt sie demnächst die Termine für die nächsten verheerenden Enthüllungen bekannt? Mit der Aufforderung, sich mit einschlägigen Papieren zu Missbrauch und folgendem Ausmerzen anstößiger Vokabeln bereitzuhalten?
Viertens BITTEN. Ein hoher Prozentsatz in die Verarmung getriebener Künstlertypen lebt unter uns. Wir sehen sie als Bittsteller am Hofe der Demokratie. Lockender Mammon wird zu sparendem Zaster. Geiz ist geil. Da heißt es erst einmal den Nachweis der Bedürftigkeit zu erbringen. Die büromäßige Hofhaltung demokratischer Mehrheit sieht da genau hin. Ehe für Kunst etwas ausgeworfen wird, sind da viele Hürden zu nehmen. Prozentzahlen sind da ausgesprochen unbeliebt. Einen Prozentsatz Kulturausgaben zu beachten, widerspricht dem Ganzen als Wirtschaftsfaktor. Da ist der Fakt als Kreativwirtschaft zu betrachten. Von einer hochprozentigen Erfüllung der Wünsche ist nur zu träumen.
Fünftens STEUERN. Um Geldflüsse richtig zu »steuern«, braucht es Regularien wie Steuern. Wie wird das Staats-Schiff in den Geldströmen der Finanzwirtschaft gesteuert – das ist da die Frage. Wie viel Prozent darf da von Gewinnen oben weggesteuert werden? Und wie viel Prozent muss von unteren Einkommen unbedingt steuerlich einbehalten werden? In der oberen Etage wird das zu einer Frage des geschickten Ausrechnens und Vermeidens: Wie viel Prozent vom Profit kann abgesetzt werden? Und an der Basis das Problem, wie viel Prozent zum Überleben bleiben.
Sechstens FEINDE. Der Durchschnittsmensch braucht Feindbilder. Wenn er schon keine neuen Götter hat – ohne neue Teufel ist er nicht aus der Reserve zu locken. Demokratie braucht Diktatur als Feindbild. Zum Gespenst aufgeblasene Chefteufel sind da unentbehrlich. An denen darf nichts Positives mehr dran sein. Der Bedeutungsverlust eines Feindes muss radikal sein. Wenn sein Image nicht gegen Null tendiert, stellt er noch eine Gefahr da. Und Demokratie wird auf dem Papier von Verfassungen und Gesetzgebungen zu hundert Prozent durchgesetzt. Anfällig für Fehlleistungen? Nicht eingeplant.
Siebtens ALKOHOL. Bekanntlich steigt der Suchtfaktor mit dem höheren Alkoholgehalt von Spirituosen so weit, dass er die Gefahr der Alkoholvergiftung heraufbeschwört. Die »Sto«, russisch für hundert Gramm des ostwärts recht weit verbreiteten Wodkas, beziehen sich ja nicht nur auf die vom militärischen Volkskommissar Woroschilow eingeführte Mengenbezeichnung. Wenn die sechzig Prozent als Marke überschritten werden, wird es schon gefährlich. Höhere Prozente genießen also hier ganz unverdient den Idealstatus. Der Weg zum Missbrauch von Gin, Korn und Whisky ist mit hohen Prozentzahlen gepflastert. Fragen Sie Ihren Arzt, Barkeeper oder Apotheker, was sie riskieren können.
Achtens MATHEMATIK. Letzten Endes kommt der neugierig Forschende doch auf den Ursprung jeder Prozentrechnung zurück. Von den Sequenzen bis zu Netto-und-Bruttobeträgen tut sich da ein weites Feld auf. Viertel und Halbe als Maßeinheiten können dagegen nur als unwissenschaftlich ins Abseits gestellt werden. Die Babylonier werden schon ganz gut gewusst haben, warum sie seinerzeit alles in Bezug auf Hundert gesetzt haben. Der Weg bis ins hiesige mitteleuropäische Mittelalter war zugegeben recht weit. Nunmehr lohnte sich bei den anfallenden höheren Geldbeträgen offenbar die Einführung der Hunderter-Gliederung. Doch bis zur Messung in Metern im metrischen System gab es Widerstand zu überwinden – die Zehn als Angelpunkt zum Zählen ist halt so bescheiden.
Neuntens 150 PROZENT. Nunmehr bei den Hundertfünfzigprozentigen angekommen, kann von Bescheidenheit keine Rede mehr sein. Menschen mit dieser Ambition des Auftretens sehen das eben gar nicht gern, wenn ihnen übersteigerte Radikalität oder Fundamentalismus vorgeworfen wird. Denn sie treten als die Gralshüter heiliger Werte auf. Die für sie halben und lauen Haltungen anderer Menschen sind ihnen zutiefst zuwider. Hundert Prozent genügt da keineswegs. So rabiat sie auftreten, kann sie keinerlei Widerspruch beirren. Im Gegenteil – dieser kratzt sie gewaltig. Es ist mit allen verfügbaren Mitteln dagegen einzuschreiten, Die dafür eingesetzten entsprechenden aktuellen Schlagworte müssen hier nicht wiederholt werden. Sie plagen uns als Ohrwürmer jeden Tag.