Eine am 15. Januar im Londoner Economist referierte Untersuchung der drei Ökonomen Katarzyna Szarzec, Akos Dombi und Piotr Matuszak zählt für den Zeitraum von 2007 bis 2016 für 30 von ihnen untersuchten europäischen Ländern insgesamt 1.160 Privatisierung von vorher staatlich betriebenen oder beherrschten Unternehmen – bei nur 60 Verstaatlichungen. Die OECD beziffert für das Ende des Jahres 2020 den Wert von öffentlichen Beteiligungen an Unternehmen auf rund 11 Billionen Dollar; das entspräche einem Anteil an allen von der OECD erfassten Eigentumstiteln an Unternehmen von 10 Prozent. Nur drei Jahre vorher, 2017, waren es noch 14 Prozent. Von 1990 bis 2016 haben Staaten rund um die Welt Vermögensanteile von insgesamt rund 3,6 Billionen Dollar verkauft.
Das sind die statistischen Eckwerte der seit dem Sieg der freien Marktwirtschaft über den sozialistischen Anlauf in Osteuropa 1990 bis heute rollenden Privatisierungswelle. Verkauft wurde in den Hochburgen des Kapitals so ziemlich alles, was sich profitträchtig von einem gemeinwirtschaftlich erzeugten Gut in eine Ware verwandeln ließ: Krankenhäuser, Schienennetze, Wasserwerke, Stromnetze, Gasversorgungsunternehmen, Schulen und Hochschulen, Altersversorgungssysteme und Kindergärten.
Vor den Folgen gewarnt haben damals – oft mit matter Stimme angesichts der epochalen Niederlage von 1989/90 – nicht nur Sozialisten aller Schattierungen. Auch die sich sonst meist aus politischen Grabenkämpfen heraushaltenden Rechnungshöfe in Bund und mehreren Ländern haben von Anfang an Wasser in den Wein der Privatisierungseuphoriker gegossen. Letztlich, so wandten sie angesichts der Schönrechnereien bei den Debatten um »Öffentlich-Private Partnerschaften« (ÖPP) ein, werde privates Kapital immer nur dann investiert, wenn unter dem Strich nach Jahrzehnten Gewinne winken würden. Diese Gewinne aber müssten dann von den Verbrauchern zusätzlich zu den Herstellungskosten des privatisierten Gutes beglichen werden – entweder durch höhere Preise oder durch schlechtere Leistung oder durch beides.
Gekommen ist es genau so: Aus den gleich zu Beginn der Privatisierungswelle verkauften und seitdem nicht ständig gepflegten, sondern nur im äußersten Notfall geflickten Rohren des Vereinigten Königsreiches läuft von der Grafschaft Kent bis zu den Highlands das Wasser. In Deutschland, wo die Versorgung mit Gas, Wasser und Strom über Jahrzehnte eine günstige und unaufgeregte Selbstverständlichkeit war, bangen jetzt zehntausende von Kunden, deren Versorger durch die Schwankungen auf dem Energiemarkt aus der Kurve geflogen sind und nun von den Stadtwerken – allerdings eben zu Marktpreisen – »aufgefangen« werden müssen, den nächsten Rechnungen entgegen. Vor allem aber: Ob sie es wussten oder nicht, sind die nach tausenden zählenden Toten der Covid-19-Pandemie im neuen Wilden Westen auch Opfer des seit den 90er Jahren privatisierten, personell ausgedünnten, dem Gewinnstreben unterworfenen und ausgebluteten Gesundheitswesens.
Die Herrschenden von Washington über London bis Berlin dürften längst ahnen, dass die große Privatisierungswelle, die den Reichen seit 1990 so viele Milliarden Dollar, Pfund und Euros zusätzlich in die Kassen gespült hat, an der Erkenntnis der Millionen Menschen in ihren Ländern brechen könnte, dass dies ein Irrweg war. Das ist der Grund dafür, dass hierzulande die Frankfurter Allgemeine Zeitung und das Handelsblatt nicht müde werden, die neue Regierung vor zu viel Regulierung oder gar vor Verstaatlichungen zu warnen, und der Economist seiner Ausgabe vom 15. Januar einen »Special Report« zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat beigefügt hat, der mit dem genauso blödsinnigen wie beschwörenden Satz endet: »Trotz aller Unvollkommenheiten bleibt der liberale Kapitalismus eine entscheidende Kraft des Guten.«
Die Linke ist in Westeuropa und den Vereinigten Staaten noch nicht wieder so erstarkt, dass sie in der Lage wäre, das alte Lied wiederaufleben zu lassen, in dem es heißt: »Hoch vom Dach, da pfeift die Dohle – brecht die Macht der Monopole«. Aber angesichts der offenkundig von der Gegenseite selbst erkannten Bilanz der Privatisierungswelle der letzten drei Jahrzehnte wäre es an der Zeit und läge es im Bereich unserer Möglichkeiten, wenigstens diese Welle zu brechen – als Start vielleicht mit der Forderung nach Vergesellschaftung der Energieunternehmen und des Gesundheitswesens.