Der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares, gedachter Verfasser von Fernando Pessoas »Buch der Unruhe« ist ein elitärer Typ. Seine Devise hätte gut auch die des diktatorischen Estado Novo des Präsidenten António Oliveira Salazar sein können: »Orgulhosamente sós«. (Etwa: »Einsam und stolz«).
Zu Beginn des Eintrags vom 10.4.1930 schreibt er: »Ich spüre physischen Ekel vor der ordinären Menschheit. (…) Und manchmal überkommt mich Lust, diesen Ekel zu vertiefen, so wie man ein Erbrechen hervorrufen kann, um den Brechreiz loszuwerden.«
Brechreiz hervorrufen sollen also die Bruchstücke von Unterhaltungen, die er aufgeschnappt hat. »Intrigen, üble Nachrede, Angeberei mit dem, was man nicht zu tun gewagt hat, die Zufriedenheit jedes armseligen, bekleideten Tiers mit dem unbewussten Bewusstsein der eigenen Seele, die ungewaschene Sexualität, die schreckliche Unwissenheit bezüglich der eigenen Unwichtigkeit.« Dann folgt noch eine selbstbestätigende Phrase, und der Eintrag ist damit beendet.
Wikipedia zitiert ausschließlich bewundernde Reaktionen über das posthum entdeckte Werk Pessoas. Herausgehoben werden soll nur der publizistisch bekannteste Autor: Dennis Scheck. Für ihn »ist das Buch der Unruhe von so grundstürzender Weisheit, dass man aufjauchzen möchte«. Weil Pessoa »zwischen politischen, philosophischen und ästhetischen Haltungen und Standpunkten« hin und her pendele, heiße Pessoa lesen, »sein Hirn in Ambiguitäten trainieren«.
In dem zitierten Abschnitt sind die genannten Qualitäten nicht zu erkennen; es handelt sich im Wesentlichen um eine Ansammlung misanthropischer Deutungen. Hierfür ein äußerlich banales Beispiel: »Und dann hat sie gesagt …« heißt es da, mit anschließender negativer Bewertung: »und der Tonfall deutet ihre Intrige an«.
Um nicht missverstanden zu werden: All dies passt in Bernardo Soares‘ Persönlichkeitsprofil, das in seiner Einseitigkeit schon auch eindrucksvoll wirkt. Über die Bewunderung für Pessoas konsequente Darstellung sollte aber nicht die Möglichkeit vernachlässigt werden, banale Satzfetzen wie den zuletzt zitierten anders zu deuten.
Diese Möglichkeit wird zur Notwendigkeit, weil die Biografie des Dichters dunkle Flecken enthält, die ihm auch bewusstwurden, nachdem er im Jahre 1928 eine politisch so extreme Broschüre veröffentlicht hatte, von der er anschließend behauptete, dass sie »nicht vorhanden« sei. Es handelt sich um »O Interregno – Defesa e Justificação da Ditadura Militar em Portugal« (»Das Interregnum – Verteidigung und Rechtfertigung der Militärdiktatur in Portugal«).
Nun ist eine Rollenprosa nicht mit den Äußerungen des Verfassers gleichzusetzen. Aber das Datum des Eintrags – zwei Jahre nach Erscheinen des »Interregno« – lässt erkennen, dass der politische Fehltritt des Verfassers kein Zufall war.
Zutreffend bezeichnet der Wikipedia-Artikel ihn als »radikal antidemokratischen Denker«. Umso problematischer ist Schecks Begeisterung. Ästhetisch mag sie begründet sein. Aber es empfiehlt sich, die Begeisterung auf diesen Bereich zu begrenzen.
Doch statt jetzt in einer ideologiekritischen Betrachtung zu verharren, möchte ich eine Alternative vorschlagen, die die Perspektive des neugierigen, fantasievollen Mitmenschen einnimmt.
Ich komme auf das von mir als »banal« bezeichnete Beispiel zurück: »Und dann hat sie gesagt …«.
Was für eine fruchtbare Situation! Ich sehe die Gesichter der sprechenden und der zuhörenden Person vor mir, vergleiche sie miteinander. Sind sie miteinander vertraut? Was mag die Ungenannte gesagt haben? Welche Folgen wird das von ihr Gesagte nach sich ziehen?
Die Unvollständigkeit des Gesagten reizt die Fantasie an. Die Voraussetzung ist das Interesse an den Mitmenschen. Für die Verachtung der Redenden oder eine Selbstüberhebung des Zuhörenden ist da noch kein Platz. Warnung ist aber angebracht, wird die Haltung des viel bewunderten Dichters und seiner Figur Bernardo Soares auf den Bereich der Politik übertragen.