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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die pazifistische Vernunft

Ein Mili­tär­bünd­nis wie die Nato kann ohne Feind­bild nicht exi­stie­ren. Denn wozu ein Schutz­bund, wenn es kei­ne gemein­sa­me Bedro­hung gibt? Wozu eine Streit­macht zur Abschreckung von Angrif­fen, wenn kein Angrei­fer in Sicht ist? Wenn das Feind­bild aber die Alli­anz dau­er­haft legi­ti­mie­ren soll, muss es fest ver­an­kert sein und per­ma­nent gepflegt wer­den. Das führt zwangs­läu­fig zu selek­ti­ver Wahr­neh­mung, ob unbe­wusst oder plan­voll gesteu­ert: Was dem Feind­bild ent­spricht, fin­det erhöh­te Auf­merk­sam­keit; was ihm nicht ent­spricht, wird aus­ge­blen­det. Das bleibt nicht ohne Fol­gen für das Ver­hal­ten. Da der ver­meint­li­che Feind als feind­se­lig wahr­ge­nom­men wird, wird er feind­se­lig behan­delt. Auf­ge­baut wird so eine aggres­si­ve Span­nung, die sich selbst ver­stärkt und zu noch grö­ße­ren Rüstungs­an­stren­gun­gen moti­viert. So stei­gert das Bünd­nis die Bedro­hung, vor der es schüt­zen soll. Es dient nicht der Frie­dens­si­che­rung, son­dern erhöht gewollt oder unge­wollt die Kriegsgefahr.

Ob das Bünd­nis auch dazu miss­braucht wer­den kann oder sogar ins­ge­heim zur Auf­ga­be haben könn­te, geo­po­li­ti­sche Inter­es­sen sei­ner Füh­rungs­macht mit Gewalt­an­dro­hung durch­zu­set­zen, soll hier eben­so uner­ör­tert blei­ben wie die mora­li­sche Recht­fer­ti­gung mili­tä­ri­scher Inter­ven­tio­nen durch eine ver­meint­li­che Pflicht zum Schutz vor Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen. Hier soll es allein dar­um gehen, dass Mili­tär­bünd­nis­se grund­sätz­lich nicht frie­den­wah­rend, son­dern kriegs­trei­be­risch wirken.

Seit dem »rus­si­schen Angriffs­krieg« gegen die Ukrai­ne, der erst­mals in der Geschich­te als das bezeich­net wird, was Krie­ge nor­ma­ler­wei­se sind, wett­ei­fern Poli­ti­ker dar­um, wer sich am ent­schie­den­sten von der »Illu­si­on der Ent­span­nungs­po­li­tik« los­sagt. Nüch­ter­ne Ana­ly­se muss jedoch zu dem Schluss kom­men, dass nicht Ent­span­nungs­po­li­tik, son­dern ihr voll­stän­di­ges Feh­len zum Krieg geführt hat. Nicht ein Zuviel an Gut­gläu­big­keit und Ver­trau­ens­se­lig­keit, son­dern, im Gegen­teil, die kom­plet­te Wei­ge­rung, den angeb­li­chen Feind in sei­nen vita­len Inter­es­sen und sei­nen Bedroht­heits­ge­füh­len wahr­zu­neh­men und auf sei­nen aus­dau­ernd beteu­er­ten Frie­dens­wil­len kon­struk­tiv zu antworten.

Sym­bol­stark ver­deut­lich­te das 2007 die Münch­ner Sicher­heits­kon­fe­renz: Die Ver­tre­ter des Westens ver­lie­ßen pro­te­stie­rend den Saal, als Putin rede­te, und die Medi­en wuss­ten nur zu mel­den, dass Putin pro­vo­ziert habe, ver­schwie­gen aber, dass er sich zwar über die Gesprächs­ver­wei­ge­rung des Westens bit­ter beklagt, aber auch nach­drück­lich betont hat­te, dass sei­ne Hand wei­ter­hin aus­ge­streckt blei­be. Die mas­siv­ste Droh­ge­ste gegen­über Russ­land aber war die Ost­erwei­te­rung der Nato, die auch von rea­li­stisch den­ken­den, durch­aus nicht pazi­fi­stisch ori­en­tier­ten US-Macht­po­li­ti­kern wie Geor­ge Kennan oder Hen­ry Kis­sin­ger als ver­häng­nis­vol­ler Feh­ler mit poten­ti­ell ver­hee­ren­den Fol­ge­wir­kun­gen ent­schie­den ver­ur­teilt wurde

Die Nei­gung, lie­ber zu rüsten und zu dro­hen, als an fried­li­cher Kon­flikt­ent­schär­fung zu arbei­ten, beruht auf einer Jahr­tau­sen­de alten Tra­di­ti­on. Sie begann wohl schon in der spä­ten Jung­stein­zeit, als die von der Sess­haf­tig­keit dome­sti­zier­ten Män­ner lern­ten, im krie­ge­ri­schen Hel­den­tum den Beweis ihrer phy­si­schen und mora­li­schen Über­le­gen­heit und die Legi­ti­ma­ti­ons­ba­sis für die Unter­jo­chung des weib­li­chen Geschlechts zu sehen. In so lan­ger Zeit ein­ge­üb­te Denk­mu­ster hal­ten sich hart­näckig. Da hilft es auch wenig, wenn das Mili­tär­mi­ni­ste­ri­um von Frau­en gelei­tet wird, die noch stolz dar­auf sind, auch mal die kämp­fen­de Trup­pe inspi­zie­ren zu dür­fen, oder wenn eine mäd­chen­haft wir­ken­de Mini­ste­rin sich ein­bil­det, »femi­ni­sti­sche Außen­po­li­tik« zuma­chen, weil sie beson­ders pene­trant mora­lisch und »wer­te­be­wusst« auftritt.

Eher könn­te die Über­win­dung mili­ta­ri­sti­schen Den­kens aus einer Rich­tung kom­men, aus der wir Impul­se der Erneue­rung kaum mehr erwar­ten: aus der bibli­schen Über­lie­fe­rung, aus der »Berg­pre­digt« des reli­giö­sen Revo­lu­tio­närs Jesus von Naza­reth, der die Fein­des­lie­be lehr­te. Fein­des­lie­be – das mag als mora­li­sche Über­for­de­rung erschei­nen und ziem­lich welt­fremd klin­gen. Gemeint ist aber die als durch­aus lebens­klug zu ver­ste­hen­de Emp­feh­lung, im »Feind« den Men­schen zu erken­nen, der die glei­chen Lebens­an­sprü­che hat wie wir und dar­um wie alle Men­schen Näch­sten­lie­be ver­dient – ganz gene­rel­le Näch­sten­lie­be, die eben nicht auf Zunei­gung beruht, son­dern auf dem ver­nünf­ti­gen Über­le­bens­prin­zip, ande­re so zu behan­deln, wie wir selbst behan­delt wer­den wol­len. Wel­che Chan­ce der Befrei­ung für bei­de Seiten!

An die Stel­le des Gehor­sams gegen­über tra­dier­ten Gebo­ten und Ver­bo­ten tritt damit ein dia­lo­gi­sches Modell der ethi­schen Ori­en­tie­rung: eine Bezie­hung zwi­schen Men­schen, statt zwi­schen Men­schen und Gesetz, zwi­schen gleich­wer­ti­gen Sub­jek­ten, statt zwi­schen Sub­jekt und Objekt. Die gan­ze Kon­flikt­haf­tig­keit des rea­len Men­schen­le­bens ist so ins Zen­trum der ethi­schen Refle­xi­on gerückt. Der Jesus der Berg­pre­digt ver­langt eben aus­drück­lich nicht das Fest­hal­ten an Regeln, son­dern hat die­sen ethi­schen Fun­da­men­ta­lis­mus als unrea­li­stisch erkannt. Sei­ne Leh­re ist gera­de­zu der Arche­ty­pus einer avan­cier­ten, durch und durch ratio­na­len und dar­um für die heu­ti­ge Zeit taug­li­chen Verantwortungsethik.

Das gilt auch und gera­de für das pro­vo­zie­rend­ste Detail, die schein­bar defä­ti­sti­sche Auf­for­de­rung, auch die ande­re Backe hin­zu­hal­ten, wenn wir geschla­gen wer­den. Jesus hat immer in Gleich­nis­sen gere­det, sei­ne Ein­sich­ten als sym­bo­li­sche Erzäh­lun­gen vor­ge­tra­gen. Er hat kei­ne Vor­schrif­ten for­mu­liert, die wort­wört­lich zu befol­gen wären, son­dern mit der Schil­de­rung von Bei­spiel­si­tua­tio­nen zum Nach­den­ken auf­ge­for­dert. Die ande­re Wan­ge hin­zu­hal­ten, heißt also zunächst ein­mal, anders zu reagie­ren, als es in einer sol­chen Situa­ti­on üblich ist und erwar­tet wird. Also aus­zu­bre­chen aus dem Zwang ein­ge­schlif­fe­ner Ver­hal­tens­mu­ster, bei­spiels­wei­se aus dem ewi­gen Teu­fels­kreis von Gewalt und Gegengewalt.

Der Vor­schlag ist also nicht bin­dend und ein­engend, son­dern frei­set­zend – eine Ein­la­dung, bis­her über­se­he­ne Frei­räu­me für alter­na­ti­ves Han­deln zu erkun­den und zwi­schen­mensch­li­che Fan­ta­sie zu ent­wickeln. Auch der Angrei­fer wird durch die uner­war­te­te Reak­ti­on aus sei­nem auto­ma­ti­sier­ten Ver­hal­tens­re­per­toire auf­ge­stört; sein Feind­bild­sche­ma gerät ins Wan­ken, und er gewinnt eine Chan­ce zur Neu­ori­en­tie­rung. Viel­leicht muss er nicht mehr blind­lings zuschlagen.

Das ist kein Patent­re­zept mit Erfolgs­ga­ran­tie, aber eine Ermu­ti­gung zur Krea­ti­vi­tät. Ermu­ti­gung also zur Arbeit. Zur Arbeit nicht nur an bei­spiel­haf­ten Lösungs­mög­lich­kei­ten für kon­kre­te Kon­flikt­si­tua­tio­nen, son­dern an der Ent­wick­lung grund­sätz­li­cher Alter­na­ti­ven zu den ein­ge­üb­ten mili­ta­ri­sti­schen Denk­ge­wohn­hei­ten. Ermu­ti­gung also zur Grund­la­gen­ar­beit für eine künf­ti­ge Frie­dens­si­che­rung ohne Waf­fen. Frie­dens­si­che­rung ohne Waf­fen wird mög­lich, wenn gefähr­li­che Kon­flik­te kon­se­quent diplo­ma­tisch ent­schärft wer­den, bevor die Ent­schei­dung über einen Waf­fen­ein­satz akut wer­den kann.

Ent­schlos­se­nes Umden­ken braucht Zeit. Immer aber gibt es freie Gei­ster, die wei­ter vor­aus­schau­en. Sie kön­nen als Fer­ment wir­ken, das den Gärungs­pro­zess in Gang bringt und beschleu­nigt. Hier haben über­zeug­te Pazi­fi­sten eine wich­ti­ge Funk­ti­on. Sogar für einen Kom­pro­miss im Ukrai­ne-Kon­flikt muss es noch nicht zu spät sein. Immer­hin hat selbst der ukrai­ni­sche Prä­si­dent Selen­skyj, der sein Selbst­be­wusst­sein aus der heroi­schen Durch­hal­te­po­se schöpft, sich bald nach Kriegs­be­ginn kurz­zei­tig bereit­erklärt, über eine Neu­tra­li­sie­rung der Ukrai­ne, also den Ver­zicht auf Nato-Bei­tritt, mit Russ­land zu ver­han­deln. Bis er von den USA, denen der Krieg Vor­tei­le bringt, zurück­ge­pfif­fen wurde.

Mit die­sem Hin­weis auf Draht­zie­her im Hin­ter­grund ist die Fra­ge auf­ge­wor­fen, wie weit wir erfah­ren dür­fen, was wirk­lich geschieht. In der Zeit des Kal­ten Krie­ges durf­te nie­mand erfah­ren, dass die Nato kei­ne rus­si­schen Angriffs­ab­sich­ten für mög­lich hielt. Heu­te wird die Illu­si­on geschürt, in der höchst auto­ri­tä­ren, illi­be­ra­len Ukrai­ne wür­den Frei­heit und Demo­kra­tie für die gan­ze Welt ver­tei­digt. Auch hier gilt: Krea­ti­vi­tät ist gefragt. Waf­fen­hil­fe ist fau­le Aus­flucht. Frie­dens­ar­beit muss end­lich abso­lu­te Prio­ri­tät erhalten.

Nichts ist so töricht, so rea­li­täts­blind, so naiv wie die Erwar­tung, Auf­rü­stung wer­de die Kriegs­ge­fahr bannen.