Ein Militärbündnis wie die Nato kann ohne Feindbild nicht existieren. Denn wozu ein Schutzbund, wenn es keine gemeinsame Bedrohung gibt? Wozu eine Streitmacht zur Abschreckung von Angriffen, wenn kein Angreifer in Sicht ist? Wenn das Feindbild aber die Allianz dauerhaft legitimieren soll, muss es fest verankert sein und permanent gepflegt werden. Das führt zwangsläufig zu selektiver Wahrnehmung, ob unbewusst oder planvoll gesteuert: Was dem Feindbild entspricht, findet erhöhte Aufmerksamkeit; was ihm nicht entspricht, wird ausgeblendet. Das bleibt nicht ohne Folgen für das Verhalten. Da der vermeintliche Feind als feindselig wahrgenommen wird, wird er feindselig behandelt. Aufgebaut wird so eine aggressive Spannung, die sich selbst verstärkt und zu noch größeren Rüstungsanstrengungen motiviert. So steigert das Bündnis die Bedrohung, vor der es schützen soll. Es dient nicht der Friedenssicherung, sondern erhöht gewollt oder ungewollt die Kriegsgefahr.
Ob das Bündnis auch dazu missbraucht werden kann oder sogar insgeheim zur Aufgabe haben könnte, geopolitische Interessen seiner Führungsmacht mit Gewaltandrohung durchzusetzen, soll hier ebenso unerörtert bleiben wie die moralische Rechtfertigung militärischer Interventionen durch eine vermeintliche Pflicht zum Schutz vor Menschenrechtsverletzungen. Hier soll es allein darum gehen, dass Militärbündnisse grundsätzlich nicht friedenwahrend, sondern kriegstreiberisch wirken.
Seit dem »russischen Angriffskrieg« gegen die Ukraine, der erstmals in der Geschichte als das bezeichnet wird, was Kriege normalerweise sind, wetteifern Politiker darum, wer sich am entschiedensten von der »Illusion der Entspannungspolitik« lossagt. Nüchterne Analyse muss jedoch zu dem Schluss kommen, dass nicht Entspannungspolitik, sondern ihr vollständiges Fehlen zum Krieg geführt hat. Nicht ein Zuviel an Gutgläubigkeit und Vertrauensseligkeit, sondern, im Gegenteil, die komplette Weigerung, den angeblichen Feind in seinen vitalen Interessen und seinen Bedrohtheitsgefühlen wahrzunehmen und auf seinen ausdauernd beteuerten Friedenswillen konstruktiv zu antworten.
Symbolstark verdeutlichte das 2007 die Münchner Sicherheitskonferenz: Die Vertreter des Westens verließen protestierend den Saal, als Putin redete, und die Medien wussten nur zu melden, dass Putin provoziert habe, verschwiegen aber, dass er sich zwar über die Gesprächsverweigerung des Westens bitter beklagt, aber auch nachdrücklich betont hatte, dass seine Hand weiterhin ausgestreckt bleibe. Die massivste Drohgeste gegenüber Russland aber war die Osterweiterung der Nato, die auch von realistisch denkenden, durchaus nicht pazifistisch orientierten US-Machtpolitikern wie George Kennan oder Henry Kissinger als verhängnisvoller Fehler mit potentiell verheerenden Folgewirkungen entschieden verurteilt wurde
Die Neigung, lieber zu rüsten und zu drohen, als an friedlicher Konfliktentschärfung zu arbeiten, beruht auf einer Jahrtausende alten Tradition. Sie begann wohl schon in der späten Jungsteinzeit, als die von der Sesshaftigkeit domestizierten Männer lernten, im kriegerischen Heldentum den Beweis ihrer physischen und moralischen Überlegenheit und die Legitimationsbasis für die Unterjochung des weiblichen Geschlechts zu sehen. In so langer Zeit eingeübte Denkmuster halten sich hartnäckig. Da hilft es auch wenig, wenn das Militärministerium von Frauen geleitet wird, die noch stolz darauf sind, auch mal die kämpfende Truppe inspizieren zu dürfen, oder wenn eine mädchenhaft wirkende Ministerin sich einbildet, »feministische Außenpolitik« zumachen, weil sie besonders penetrant moralisch und »wertebewusst« auftritt.
Eher könnte die Überwindung militaristischen Denkens aus einer Richtung kommen, aus der wir Impulse der Erneuerung kaum mehr erwarten: aus der biblischen Überlieferung, aus der »Bergpredigt« des religiösen Revolutionärs Jesus von Nazareth, der die Feindesliebe lehrte. Feindesliebe – das mag als moralische Überforderung erscheinen und ziemlich weltfremd klingen. Gemeint ist aber die als durchaus lebensklug zu verstehende Empfehlung, im »Feind« den Menschen zu erkennen, der die gleichen Lebensansprüche hat wie wir und darum wie alle Menschen Nächstenliebe verdient – ganz generelle Nächstenliebe, die eben nicht auf Zuneigung beruht, sondern auf dem vernünftigen Überlebensprinzip, andere so zu behandeln, wie wir selbst behandelt werden wollen. Welche Chance der Befreiung für beide Seiten!
An die Stelle des Gehorsams gegenüber tradierten Geboten und Verboten tritt damit ein dialogisches Modell der ethischen Orientierung: eine Beziehung zwischen Menschen, statt zwischen Menschen und Gesetz, zwischen gleichwertigen Subjekten, statt zwischen Subjekt und Objekt. Die ganze Konflikthaftigkeit des realen Menschenlebens ist so ins Zentrum der ethischen Reflexion gerückt. Der Jesus der Bergpredigt verlangt eben ausdrücklich nicht das Festhalten an Regeln, sondern hat diesen ethischen Fundamentalismus als unrealistisch erkannt. Seine Lehre ist geradezu der Archetypus einer avancierten, durch und durch rationalen und darum für die heutige Zeit tauglichen Verantwortungsethik.
Das gilt auch und gerade für das provozierendste Detail, die scheinbar defätistische Aufforderung, auch die andere Backe hinzuhalten, wenn wir geschlagen werden. Jesus hat immer in Gleichnissen geredet, seine Einsichten als symbolische Erzählungen vorgetragen. Er hat keine Vorschriften formuliert, die wortwörtlich zu befolgen wären, sondern mit der Schilderung von Beispielsituationen zum Nachdenken aufgefordert. Die andere Wange hinzuhalten, heißt also zunächst einmal, anders zu reagieren, als es in einer solchen Situation üblich ist und erwartet wird. Also auszubrechen aus dem Zwang eingeschliffener Verhaltensmuster, beispielsweise aus dem ewigen Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt.
Der Vorschlag ist also nicht bindend und einengend, sondern freisetzend – eine Einladung, bisher übersehene Freiräume für alternatives Handeln zu erkunden und zwischenmenschliche Fantasie zu entwickeln. Auch der Angreifer wird durch die unerwartete Reaktion aus seinem automatisierten Verhaltensrepertoire aufgestört; sein Feindbildschema gerät ins Wanken, und er gewinnt eine Chance zur Neuorientierung. Vielleicht muss er nicht mehr blindlings zuschlagen.
Das ist kein Patentrezept mit Erfolgsgarantie, aber eine Ermutigung zur Kreativität. Ermutigung also zur Arbeit. Zur Arbeit nicht nur an beispielhaften Lösungsmöglichkeiten für konkrete Konfliktsituationen, sondern an der Entwicklung grundsätzlicher Alternativen zu den eingeübten militaristischen Denkgewohnheiten. Ermutigung also zur Grundlagenarbeit für eine künftige Friedenssicherung ohne Waffen. Friedenssicherung ohne Waffen wird möglich, wenn gefährliche Konflikte konsequent diplomatisch entschärft werden, bevor die Entscheidung über einen Waffeneinsatz akut werden kann.
Entschlossenes Umdenken braucht Zeit. Immer aber gibt es freie Geister, die weiter vorausschauen. Sie können als Ferment wirken, das den Gärungsprozess in Gang bringt und beschleunigt. Hier haben überzeugte Pazifisten eine wichtige Funktion. Sogar für einen Kompromiss im Ukraine-Konflikt muss es noch nicht zu spät sein. Immerhin hat selbst der ukrainische Präsident Selenskyj, der sein Selbstbewusstsein aus der heroischen Durchhaltepose schöpft, sich bald nach Kriegsbeginn kurzzeitig bereiterklärt, über eine Neutralisierung der Ukraine, also den Verzicht auf Nato-Beitritt, mit Russland zu verhandeln. Bis er von den USA, denen der Krieg Vorteile bringt, zurückgepfiffen wurde.
Mit diesem Hinweis auf Drahtzieher im Hintergrund ist die Frage aufgeworfen, wie weit wir erfahren dürfen, was wirklich geschieht. In der Zeit des Kalten Krieges durfte niemand erfahren, dass die Nato keine russischen Angriffsabsichten für möglich hielt. Heute wird die Illusion geschürt, in der höchst autoritären, illiberalen Ukraine würden Freiheit und Demokratie für die ganze Welt verteidigt. Auch hier gilt: Kreativität ist gefragt. Waffenhilfe ist faule Ausflucht. Friedensarbeit muss endlich absolute Priorität erhalten.
Nichts ist so töricht, so realitätsblind, so naiv wie die Erwartung, Aufrüstung werde die Kriegsgefahr bannen.