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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Paulskirchen-Kontroverse

Im Mai 1948 wur­de in der gera­de im Wie­der­auf­bau befind­li­chen Frank­fur­ter Pauls­kir­che der Revo­lu­ti­on von 1848 gedacht. Die Hun­dert­jahr­fei­er war durch­aus nicht unum­strit­ten. Ins­be­son­de­re von Sei­ten der Jugend wur­de bemän­gelt, dass der gan­ze »Rum­mel« zu unpo­li­tisch sei.

Der Wie­der­auf­bau der Frank­fur­ter Pauls­kir­che war schon 1946 in Angriff genom­men wor­den. Er wur­de vom Frank­fur­ter SPD-Ober­bür­ger­mei­ster Kolb mas­siv betrie­ben – aber auch von kri­ti­schen Dis­kus­sio­nen in den Zei­tun­gen beglei­tet. Die Aus­ein­an­der­set­zung krei­ste um das Bau­ma­te­ri­al, das beim Woh­nungs­bau (die Frank­fur­ter Innen­stadt z. B. war zu 90 Pro­zent zer­stört) feh­len wür­de, und dar­um, ob nicht die Pauls­kir­chen­rui­ne als Anti-Kriegs-»Denk-mal« zu erhal­ten wäre. Die kriegs­zer­stör­te Pauls­kir­che hat­te nur noch aus fen­ster­lo­sen Außen­mau­ern und den Säu­len der Empo­re bestanden.

Die Kon­tro­ver­se sprach tie­fe­re Schich­ten an: Es ging auch um die poli­tisch auf­ge­la­de­ne Bedeu­tung der Pauls­kir­che, mit der sich die geschei­ter­te bür­ger­li­che Revo­lu­ti­on von 1848/​49 ver­bin­det. Bis heu­te mahnt sie eine bes­se­re Gesell­schaft an und kon­fron­tiert mit den Wun­den der deut­schen Geschich­te. Sich die­sen The­men zu stel­len, wur­de von links her von einer poli­ti­schen Hun­dert­jahr­fei­er erwartet.

Für den sozia­li­sti­schen Jugend­ver­band die »Fal­ken« war klar, dass nach Krieg, Elend und Trüm­mern es nicht aus­reich­te, einen »Rie­sen­rum­mel« zu ver­an­stal­ten. Aus der jüng­sten Geschich­te soll­ten Kon­se­quen­zen gezo­gen wer­den. Die Frank­fur­ter Fal­ken und der Frank­fur­ter Jugend­ring (poli­ti­sches Spek­trum von Katho­li­scher Jugend bis Freie Deut­sche Jugend (FDJ)) lehn­ten erst ein­stim­mig eine Teil­nah­me an der Jugend­fei­er­stun­de ab. Den »Fal­ken« fehl­te »eine mäch­ti­ge poli­ti­sche Mani­fe­sta­ti­on für Sozia­lis­mus und Demo­kra­tie. Hier müss­te zum Aus­druck kom­men, dass wir als Deut­sche nach drei­ma­li­gem Ver­sa­gen erneut vor der Ent­schei­dung gestellt sind. Las­sen wir auch die­se Chan­ce vor­über­ge­hen, so wird uns ein neu­es Cha­os nicht erspart blei­ben« (aus: Mit­tei­lungs­blatt der Fal­ken in Hes­sen-Süd, Nr. 9, 1.05.48, S. 6).

Ober­bür­ger­mei­ster Kolb inter­ve­nier­te am 12.4.48 durch sei­ne Teil­nah­me an einer Sit­zung des Frank­fur­ter Jugend­rin­ges und erläu­ter­te das Fei­er-Pro­gramm. Für die »Fal­ken« erklär­te Her­bert Stett­ner die Posi­ti­on: »Da wir erst am 12.4. die gewünsch­te Auf­klä­rung über den Inhalt der Fei­er erhiel­ten, war es uns nicht mög­lich, in die­ser kur­zen Zeit von uns aus die Din­ge vor­zu­be­rei­ten, die der Jahr­hun­dert­fei­er feh­len. Man woll­te auch nicht unse­re Mit­ar­beit, son­dern nur unse­ren Namen. Wir zogen dar­auf die akti­ve Ableh­nung dem pas­si­ven Unter­ord­nen vor « (vgl. Mit­tei­lungs­blatt – s. o.).

Die Bedeu­tung der im Frank­fur­ter Jugend­ring zusam­men­ge­schlos­se­nen Jugend­ver­bän­de unter­streicht die von der Frank­fur­ter Rund­schau«(die FR erschien als vier­sei­ti­ge Zei­tung) am 15.05.1948 durch­ge­führ­te »Umfra­ge bei Frank­fur­ter Orga­ni­sa­tio­nen«. Wäh­rend die »Freie Deut­sche Jugend (FDJ) « und Die »Fal­ken« ihr Nein zur geplan­ten Pauls­kir­chen­fei­er und zum Wie­der­auf­bau bekräf­tig­ten, setz­ten sich die um eine Stel­lung­nah­me gebe­te­ne »Katho­li­sche Jugend« und der »Bund der Jugend« hin­ge­gen von ihrem am 06.04.1948 mit­ge­tra­ge­nen Beschluss ab und befür­wor­te­ten jetzt eine Teilnahme.

Da die Posi­tio­nen der »Frei­en Deut­sche Jugend FDJ« und auch der »Fal­ken« zeit­ge­schicht­lich bedeut­sam sind, sol­len die­se Tei­le der FR-Umfra­ge im Ori­gi­nal wie­der­ge­ge­ben werden:

»F r e i e  D e u t s c h e  J u g e n d

Die Pauls­kir­chen­fest­wo­che von 1948 müss­te den Mut haben, die Tra­di­ti­on der Vor­kämp­fer von 1848 wahr­zu­neh­men, und zu einer Wil­lens­kund­ge­bung für die Ein­heit Deutsch­lands wer­den, die von Ver­tre­tern aller Zonen getra­gen wer­den müsste.

Die Jugend­fei­er­stun­de müss­te wei­test­ge­hend von der Jugend selbst gestal­tet und dem Wil­len der Jugend durch die Jugend Aus­druck geben.

Die beim Auf­bau der Pauls­kir­che benö­tig­ten Mate­ria­li­en und Arbeits­kräf­te hät­ten, der Not unse­rer Zeit und unse­res Vol­kes ent­spre­chend, zum Auf­bau von Wohn­häu­sern und Kran­ken­häu­sern ver­wen­det wer­den müs­sen. In einer Sit­zung des Frank­fur­ter Jugend­rin­ges vom 6. März war die Nicht­be­tei­li­gung an dem gemein­sa­men Chor von Sei­ten aller Ver­bän­de als Anlass genom­men wor­den, der Stadt­ver­wal­tung das Nicht­ein­ver­ständ­nis der Jugend­ver­bän­de mit der Pauls­kir­chen­fest­wo­che zum Aus­druck zu brin­gen. In einer Zusam­men­kunft am 12. April, die in Anwe­sen­heit des Ober­bür­ger­mei­sters Wal­ter Kolb und Stadt­rat Pre­stel statt­fand, soll­ten die Jugend­ver­bän­de die­sen ihren Stand­punkt klar­le­gen. In die­ser Sit­zung aber stell­te sich die Mehr­zahl der Jugend­ver­tre­ter ohne wesent­li­che Begrün­dung abseits ihres eige­nen Beschlus­ses vom 6. April. An unse­rer Stel­lung­nah­me hat sich nichts geändert.«

Die »Fal­ken« posi­tio­nie­ren sich wie folgt:

»D i e  F a l k e n

Die Grün­de unse­rer Absa­ge sind fol­gen­de: Wir leh­nen den Auf­bau der Pauls­kir­che ab, da ihre Rui­ne ein bes­se­res Mahn­mal für die Erhal­tung der Demo­kra­tie gewe­sen wäre. Wir kön­nen das Pro­gramm der Jahr­hun­dert­fei­er nicht aner­ken­nen, da es nicht geeig­net ist, die poli­ti­sche Bedeu­tung von 1848 voll zum Aus­druck zu bringen.

Wir leh­nen die Jugend­fei­er­stun­de ab, da ihr Pro­gramm nicht die gemein­sa­me Jugend wider­spie­gelt, da die Red­ner, die unse­rer Mei­nung nach von gro­ßer Bedeu­tung wären, nicht gesi­chert sind, da wir kei­ne Inhalts­an­ga­be des Frei­licht­spiels von den Ver­an­stal­tern zur Ein­sicht bekom­men haben.

Es ist uns unver­ständ­lich, war­um zu die­sem Spiel kei­ne Kin­der Zutritt haben sollen.«

Über die Jugend­fei­er­stun­de am 17. Mai 1948 berich­te­te die Frank­fur­ter Rund­schau unter der Über­schrift »Beginn der Pauls­kir­chen-Fest­wo­che« am 18.05.48: »Etwa 3 000 jun­ge Men­schen, dicht gedrängt zwi­schen rot-wei­ßen Fah­nen und trüm­mer­ver­ber­gen­dem Grün hör­ten am Vor­abend des Zen­tenar­ta­ges bei der Jugend­fei­er-Stun­de auf dem Römer­berg die zum Ver­trau­en mah­nen­den Wor­te von Ober­bür­ger­mei­ster Wal­ter Kolb. ›Wir Jun­gen for­dern ein Deutsch­land ohne Zer­ris­sen­heit‹, rief Rudi Arndt (der spä­te­re Frank­fur­ter Ober­bür­ger­mei­ster Rudi Arndt war bekann­ter ›Fal­ke‹, d. Verf.) als Spre­cher der Jugend, ›und wir for­dern, dass der Krieg und alles, was damit zusam­men­hängt, in der gan­zen Welt geäch­tet wird!‹«

Die von Rudi Arndt gehal­te­ne Rede wur­de im Wort­laut im Mit­tei­lungs­blatt der Fal­ken in Hes­sen Süd, Nr. 11, 1.06.1948, S. 2 und 3 ver­öf­fent­licht. Dar­aus noch fol­gen­de Aus­zü­ge: »Vor ein­hun­dert Jah­ren geschah es, dass in Deutsch­land eine Jugend durch die Miss­stän­de der Zeit dazu getrie­ben wur­de, mit der Flam­me der Revo­lu­ti­on die bestehen­de Unord­nung zu besei­ti­gen. Anstel­le der Ungleich­heit soll­te die Gleich­heit tre­ten und anstel­le der Unfrei­heit die Frei­heit. Doch die küh­ne Hoff­nung der Kämp­fer von 1848 ging nicht in Erfül­lung. Sie ging des­halb nicht in Erfül­lung, weil das Volk im Ver­trau­en auf die Obrig­keit sein Schick­sal in die Hän­de einer Natio­nal­ver­samm­lung leg­te, die es nicht ver­stand, mit Mut und Ent­schlos­sen­heit die Früch­te der Revo­lu­ti­on zu ern­ten. (…) Strö­me von Blut und Trä­nen waren die Fol­gen die­ses Ver­sa­gens. (…) Wir Jun­gen for­dern ein Deutsch­land, in dem die gei­sti­ge und poli­ti­sche Zer­ris­sen­heit über­wun­den ist, ein Deutsch­land, des­sen Wie­der­auf­bau­kraft allen zugu­te­kommt, des­sen Jugend der Weg zur Bil­dung offen­steht, in dem an Stel­le der Pro­fit­wirt­schaft sozia­le Gerech­tig­keit geschaf­fen wird, in wel­chem wir frei und nicht der Ver­fol­gung und Will­kür aus­ge­setzt sind. Wir for­dern, dass der Krieg und alles, was damit zusam­men­hängt, in der gan­zen Welt geäch­tet wird.«.

Der von mir 1986 inter­view­te Rudi Arndt konn­te noch eine Kurio­si­tät bei­steu­ern: Auf Vor­schlag des Vor­sit­zen­den der Katho­li­schen Jugend konn­te ein Red­ner aus Bay­ern gewon­nen wer­den, der die ableh­nen­de Hal­tung des Frank­fur­ter Jugend­rings gegen­über den Pauls­kir­chen­fei­er­lich­kei­ten argu­men­ta­tiv teil­te. Der Gast aus Bay­ern sprach auf einer Jugend­ring­fei­er vor dem Frank­fur­ter Dom: Es han­del­te sich um Franz-Josef Strauß (dem spä­te­ren CSU-Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster und baye­ri­schen Mini­ster­prä­si­den­ten). Sei­ne Rede wur­de auch von den mit­de­mon­strie­ren­den Fal­ken »stür­misch beklatscht« (so Rudi Arndt). Hier waren Strauß’ denk­wür­di­ge und berühm­te Wor­te gefal­len: »Eher soll einem Deut­schen der Arm abfal­len (ver­dor­ren), bevor er wie­der ein Gewehr in die Hand nimmt!« (von Rudi Arndt aus dem Gedächt­nis zitiert, d. Verf.)

Die Anti­kriegs­hal­tung soll­te in der Pha­se der Wie­der­be­waff­nung die bestim­men­de Posi­ti­on der »Fal­ken« und ande­rer (Arbeiterjugend-)Verbände blei­ben. Dass Leu­te wie Strauß auf­tra­ten, der sich spä­ter als Mini­ster für die Atom­be­waff­nung ein­setz­te, zeigt, dass ein gutes Kli­ma für Ver­än­de­run­gen herrsch­te – auch wenn bereits macht­po­li­tisch die Wür­fel 1948 schon gefal­len waren. Weni­ge Mona­te spä­ter zemen­tier­te die Währungs-»reform« am 20.06.1948 (Umstel­lung einer stark abge­wer­te­ten Reichs­mark auf D-Mark) die von der Lin­ken bekämpf­te deut­sche Spal­tung; ein mas­si­ver Anti­kom­mu­nis­mus hielt Ein­zug, und die deut­sche Wie­der­be­waff­nung kam in Gang.