Im Mai 1948 wurde in der gerade im Wiederaufbau befindlichen Frankfurter Paulskirche der Revolution von 1848 gedacht. Die Hundertjahrfeier war durchaus nicht unumstritten. Insbesondere von Seiten der Jugend wurde bemängelt, dass der ganze »Rummel« zu unpolitisch sei.
Der Wiederaufbau der Frankfurter Paulskirche war schon 1946 in Angriff genommen worden. Er wurde vom Frankfurter SPD-Oberbürgermeister Kolb massiv betrieben – aber auch von kritischen Diskussionen in den Zeitungen begleitet. Die Auseinandersetzung kreiste um das Baumaterial, das beim Wohnungsbau (die Frankfurter Innenstadt z. B. war zu 90 Prozent zerstört) fehlen würde, und darum, ob nicht die Paulskirchenruine als Anti-Kriegs-»Denk-mal« zu erhalten wäre. Die kriegszerstörte Paulskirche hatte nur noch aus fensterlosen Außenmauern und den Säulen der Empore bestanden.
Die Kontroverse sprach tiefere Schichten an: Es ging auch um die politisch aufgeladene Bedeutung der Paulskirche, mit der sich die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848/49 verbindet. Bis heute mahnt sie eine bessere Gesellschaft an und konfrontiert mit den Wunden der deutschen Geschichte. Sich diesen Themen zu stellen, wurde von links her von einer politischen Hundertjahrfeier erwartet.
Für den sozialistischen Jugendverband die »Falken« war klar, dass nach Krieg, Elend und Trümmern es nicht ausreichte, einen »Riesenrummel« zu veranstalten. Aus der jüngsten Geschichte sollten Konsequenzen gezogen werden. Die Frankfurter Falken und der Frankfurter Jugendring (politisches Spektrum von Katholischer Jugend bis Freie Deutsche Jugend (FDJ)) lehnten erst einstimmig eine Teilnahme an der Jugendfeierstunde ab. Den »Falken« fehlte »eine mächtige politische Manifestation für Sozialismus und Demokratie. Hier müsste zum Ausdruck kommen, dass wir als Deutsche nach dreimaligem Versagen erneut vor der Entscheidung gestellt sind. Lassen wir auch diese Chance vorübergehen, so wird uns ein neues Chaos nicht erspart bleiben« (aus: Mitteilungsblatt der Falken in Hessen-Süd, Nr. 9, 1.05.48, S. 6).
Oberbürgermeister Kolb intervenierte am 12.4.48 durch seine Teilnahme an einer Sitzung des Frankfurter Jugendringes und erläuterte das Feier-Programm. Für die »Falken« erklärte Herbert Stettner die Position: »Da wir erst am 12.4. die gewünschte Aufklärung über den Inhalt der Feier erhielten, war es uns nicht möglich, in dieser kurzen Zeit von uns aus die Dinge vorzubereiten, die der Jahrhundertfeier fehlen. Man wollte auch nicht unsere Mitarbeit, sondern nur unseren Namen. Wir zogen darauf die aktive Ablehnung dem passiven Unterordnen vor « (vgl. Mitteilungsblatt – s. o.).
Die Bedeutung der im Frankfurter Jugendring zusammengeschlossenen Jugendverbände unterstreicht die von der Frankfurter Rundschau«(die FR erschien als vierseitige Zeitung) am 15.05.1948 durchgeführte »Umfrage bei Frankfurter Organisationen«. Während die »Freie Deutsche Jugend (FDJ) « und Die »Falken« ihr Nein zur geplanten Paulskirchenfeier und zum Wiederaufbau bekräftigten, setzten sich die um eine Stellungnahme gebetene »Katholische Jugend« und der »Bund der Jugend« hingegen von ihrem am 06.04.1948 mitgetragenen Beschluss ab und befürworteten jetzt eine Teilnahme.
Da die Positionen der »Freien Deutsche Jugend FDJ« und auch der »Falken« zeitgeschichtlich bedeutsam sind, sollen diese Teile der FR-Umfrage im Original wiedergegeben werden:
»F r e i e D e u t s c h e J u g e n d
Die Paulskirchenfestwoche von 1948 müsste den Mut haben, die Tradition der Vorkämpfer von 1848 wahrzunehmen, und zu einer Willenskundgebung für die Einheit Deutschlands werden, die von Vertretern aller Zonen getragen werden müsste.
Die Jugendfeierstunde müsste weitestgehend von der Jugend selbst gestaltet und dem Willen der Jugend durch die Jugend Ausdruck geben.
Die beim Aufbau der Paulskirche benötigten Materialien und Arbeitskräfte hätten, der Not unserer Zeit und unseres Volkes entsprechend, zum Aufbau von Wohnhäusern und Krankenhäusern verwendet werden müssen. In einer Sitzung des Frankfurter Jugendringes vom 6. März war die Nichtbeteiligung an dem gemeinsamen Chor von Seiten aller Verbände als Anlass genommen worden, der Stadtverwaltung das Nichteinverständnis der Jugendverbände mit der Paulskirchenfestwoche zum Ausdruck zu bringen. In einer Zusammenkunft am 12. April, die in Anwesenheit des Oberbürgermeisters Walter Kolb und Stadtrat Prestel stattfand, sollten die Jugendverbände diesen ihren Standpunkt klarlegen. In dieser Sitzung aber stellte sich die Mehrzahl der Jugendvertreter ohne wesentliche Begründung abseits ihres eigenen Beschlusses vom 6. April. An unserer Stellungnahme hat sich nichts geändert.«
Die »Falken« positionieren sich wie folgt:
»D i e F a l k e n
Die Gründe unserer Absage sind folgende: Wir lehnen den Aufbau der Paulskirche ab, da ihre Ruine ein besseres Mahnmal für die Erhaltung der Demokratie gewesen wäre. Wir können das Programm der Jahrhundertfeier nicht anerkennen, da es nicht geeignet ist, die politische Bedeutung von 1848 voll zum Ausdruck zu bringen.
Wir lehnen die Jugendfeierstunde ab, da ihr Programm nicht die gemeinsame Jugend widerspiegelt, da die Redner, die unserer Meinung nach von großer Bedeutung wären, nicht gesichert sind, da wir keine Inhaltsangabe des Freilichtspiels von den Veranstaltern zur Einsicht bekommen haben.
Es ist uns unverständlich, warum zu diesem Spiel keine Kinder Zutritt haben sollen.«
Über die Jugendfeierstunde am 17. Mai 1948 berichtete die Frankfurter Rundschau unter der Überschrift »Beginn der Paulskirchen-Festwoche« am 18.05.48: »Etwa 3 000 junge Menschen, dicht gedrängt zwischen rot-weißen Fahnen und trümmerverbergendem Grün hörten am Vorabend des Zentenartages bei der Jugendfeier-Stunde auf dem Römerberg die zum Vertrauen mahnenden Worte von Oberbürgermeister Walter Kolb. ›Wir Jungen fordern ein Deutschland ohne Zerrissenheit‹, rief Rudi Arndt (der spätere Frankfurter Oberbürgermeister Rudi Arndt war bekannter ›Falke‹, d. Verf.) als Sprecher der Jugend, ›und wir fordern, dass der Krieg und alles, was damit zusammenhängt, in der ganzen Welt geächtet wird!‹«
Die von Rudi Arndt gehaltene Rede wurde im Wortlaut im Mitteilungsblatt der Falken in Hessen Süd, Nr. 11, 1.06.1948, S. 2 und 3 veröffentlicht. Daraus noch folgende Auszüge: »Vor einhundert Jahren geschah es, dass in Deutschland eine Jugend durch die Missstände der Zeit dazu getrieben wurde, mit der Flamme der Revolution die bestehende Unordnung zu beseitigen. Anstelle der Ungleichheit sollte die Gleichheit treten und anstelle der Unfreiheit die Freiheit. Doch die kühne Hoffnung der Kämpfer von 1848 ging nicht in Erfüllung. Sie ging deshalb nicht in Erfüllung, weil das Volk im Vertrauen auf die Obrigkeit sein Schicksal in die Hände einer Nationalversammlung legte, die es nicht verstand, mit Mut und Entschlossenheit die Früchte der Revolution zu ernten. (…) Ströme von Blut und Tränen waren die Folgen dieses Versagens. (…) Wir Jungen fordern ein Deutschland, in dem die geistige und politische Zerrissenheit überwunden ist, ein Deutschland, dessen Wiederaufbaukraft allen zugutekommt, dessen Jugend der Weg zur Bildung offensteht, in dem an Stelle der Profitwirtschaft soziale Gerechtigkeit geschaffen wird, in welchem wir frei und nicht der Verfolgung und Willkür ausgesetzt sind. Wir fordern, dass der Krieg und alles, was damit zusammenhängt, in der ganzen Welt geächtet wird.«.
Der von mir 1986 interviewte Rudi Arndt konnte noch eine Kuriosität beisteuern: Auf Vorschlag des Vorsitzenden der Katholischen Jugend konnte ein Redner aus Bayern gewonnen werden, der die ablehnende Haltung des Frankfurter Jugendrings gegenüber den Paulskirchenfeierlichkeiten argumentativ teilte. Der Gast aus Bayern sprach auf einer Jugendringfeier vor dem Frankfurter Dom: Es handelte sich um Franz-Josef Strauß (dem späteren CSU-Verteidigungsminister und bayerischen Ministerpräsidenten). Seine Rede wurde auch von den mitdemonstrierenden Falken »stürmisch beklatscht« (so Rudi Arndt). Hier waren Strauß’ denkwürdige und berühmte Worte gefallen: »Eher soll einem Deutschen der Arm abfallen (verdorren), bevor er wieder ein Gewehr in die Hand nimmt!« (von Rudi Arndt aus dem Gedächtnis zitiert, d. Verf.)
Die Antikriegshaltung sollte in der Phase der Wiederbewaffnung die bestimmende Position der »Falken« und anderer (Arbeiterjugend-)Verbände bleiben. Dass Leute wie Strauß auftraten, der sich später als Minister für die Atombewaffnung einsetzte, zeigt, dass ein gutes Klima für Veränderungen herrschte – auch wenn bereits machtpolitisch die Würfel 1948 schon gefallen waren. Wenige Monate später zementierte die Währungs-»reform« am 20.06.1948 (Umstellung einer stark abgewerteten Reichsmark auf D-Mark) die von der Linken bekämpfte deutsche Spaltung; ein massiver Antikommunismus hielt Einzug, und die deutsche Wiederbewaffnung kam in Gang.