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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Niederlage des Siegers

Nun, da US-Prä­si­dent Trump dar­an gehen will, gemein­sam mit dem begei­ster­ten Mini­ster­prä­si­den­ten Isra­els, Netan­ja­hu, den Gaza­strei­fen end­gül­tig von den Palä­sti­nen­se­rin­nen und Palä­sti­nen­sern zu säu­bern und nach den bewähr­ten Kri­te­ri­en der Immo­bi­li­en­bran­che für sei­ne Kli­en­ten her­zu­rich­ten, herrscht in der west­li­chen Welt plötz­lich Über­ra­schung und Empö­rung. Das ist zumin­dest so ver­lo­gen, wie der Umgang mit die­sem zum Völ­ker­mord ent­ar­te­ten Krieg seit dem 7. Okto­ber 2023 ver­lo­gen ist. Denn die Ver­trei­bung der Bewoh­ner und der Umbau – nicht Wie­der­auf­bau – des Strei­fens zu einer inter­na­tio­na­len Han­dels- und Tou­ris­mus­exzel­lenz konn­te man schon län­ger in Plä­nen der Regie­rung in Jeru­sa­lem und von soge­nann­ten Thinktanks lesen. Über­ra­schen soll­te eben­falls nicht die Bru­ta­li­tät, mit der Trump die Ver­trei­bung der palä­sti­nen­si­schen Bevöl­ke­rung, ohne die Chan­ce einer Rück­kehr, durch­set­zen will und dabei die Nach­bar­staa­ten Jor­da­ni­en und Ägyp­ten unter Druck setzt. Netan­ja­hus Stra­te­gie, den Krieg gegen den Gaza­strei­fen so lan­ge hin­aus­zu­zie­hen, bis Trump als neu­er Prä­si­dent der USA neben und hin­ter ihm steht, ist offen­sicht­lich auf­ge­gan­gen. Die Nato-Ver­bün­de­ten, die ein­zi­gen Staa­ten, die einen gewis­sen Ein­fluss auf Trump aus­üben könn­ten, ver­har­ren selbst in Schock­star­re durch die Ver­ord­nungs­flut Trumps, mit der er die alten Ver­trä­ge und Abre­den umstürzt. Der Völ­ker­mord ist noch nicht been­det und schon scheint er durch die neue Kata­stro­phe der tota­len Ver­trei­bung in Ver­ges­sen­heit zu geraten.

In die­ser Situa­ti­on ist es gut, in ein Buch hin­ein­zu­schau­en, wel­ches mit gro­ßem und fak­ten­rei­chem Rea­lis­mus die ver­gan­ge­nen andert­halb Jah­re des Krie­ges doku­men­tiert und ana­ly­siert: Jaques Baud, »Die Nie­der­la­ge des Sie­gers – Der Hamas-Angriff – Hin­ter­grund und Fol­gen«. Der Autor war bis­her der Öffent­lich­keit eher bekannt durch ein Buch über Putin und sei­ne detail­lier­ten und illu­si­ons­lo­sen Ana­ly­sen des Kriegs­ge­sche­hens in den öst­li­chen Pro­vin­zen der Ukrai­ne. Dazu war er als ehe­ma­li­ger Geheim­dienst­ler in Schwei­zer Dien­sten und als Beauf­trag­te der UNO in der Ukrai­ne zwei­fel­los prä­de­sti­niert. In sei­nem neu­en Buch über den Gaza-Krieg mögen ihm die Arbeit und Erfah­run­gen auf dem ukrai­ni­schen Kriegs­schau­platz die not­wen­di­ge Nüch­tern­heit und Distanz zum grau­en­haf­ten Gesche­hen ver­schafft haben, wie es für eine objek­ti­ve Ana­ly­se not­wen­dig ist.

Baud beginnt mit dem histo­ri­schen Kon­text der Palä­sti­na­fra­ge und setzt sich damit deut­lich gegen die übli­che Behand­lung des Über­falls der Hamas in Medi­en und Poli­tik ab, deren Ver­tre­ter den Aus­bruch aus dem her­me­tisch abge­rie­gel­ten Strei­fen als voll­kom­men über­ra­schen­des und unvor­her­seh­ba­res Ter­ror­ver­bre­chen einer kri­mi­nel­len Ter­ror­ban­de ein­ge­ord­net hat. Er geht bis 1948 zurück und dis­ku­tiert die zen­tra­len Fra­gen der Auf­tei­lung Palä­sti­nas, der unge­klär­ten Gren­zen, der Jeru­sa­lem­fra­ge, des Rechts auf Rück­kehr und auf Wider­stand. Erst vor die­sem histo­ri­schen Hin­ter­grund lässt sich erklä­ren, war­um und wie es zu dem furcht­ba­ren Aus­bruch am 7. Okto­ber 2023 gekom­men ist. Eine jahr­zehn­te­lan­ge Unter­drückung, die nicht erst 1967 begann, muss­te zum palä­sti­nen­si­schen Wider­stand füh­ren, der immer wie­der in Auf­stän­den mit offe­ner Gewalt kul­mi­nier­te, ob die Inti­fa­d­as 1987 bis 1993 und 2000 bis 2004 oder jüngst im Okto­ber 2023.

Baud dis­ku­tiert die­sen Wider­stand nicht in den engen Klam­mern von Gewalt und Ter­ror, son­dern blickt auf den völ­ker­recht­li­chen Rah­men, der auf der Basis des Selbst­be­stim­mungs­rechts der Völ­ker die­sen »Wider­stand mit allen Mit­teln« in zahl­rei­chen Reso­lu­tio­nen für recht­mä­ßig erklärt. Ter­ror und Gewalt gegen die Zivil­be­völ­ke­rung sind zwei­fel­los Völ­ker­rechts­ver­bre­chen, aber die nüch­ter­ne Bril­le des Völ­ker­rechts ermög­licht ihm einen ande­ren Blick auf die Hamas und die ande­ren Wider­stands­be­we­gun­gen in Gaza. Bei aller Distanz zu den gesell­schaft­li­chen Vor­stel­lun­gen die­ser Bewe­gun­gen erkennt er in ihnen die legi­ti­men Orga­ni­sa­tio­nen des Wider­stands und der Befrei­ung – offen­sicht­lich eine Zumu­tung für hie­si­ge Medi­en und Politik.

Sei­ne stra­te­gisch ana­ly­ti­schen Arbei­ten in Ost­eu­ro­pa für den Schwei­zer Nach­rich­ten­dienst befä­hig­ten Baud offen­sicht­lich auch, die Vor­aus­set­zun­gen, Zie­le und den Ablauf der Ope­ra­ti­on »Al-Aqsa-Flut« mit nüch­ter­ner Distanz und vie­len unter­ge­gan­ge­nen und unter­drück­ten Infor­ma­tio­nen zu erör­tern. So waren die letzt­lich frei­ge­las­se­nen Sol­da­tin­nen im Mili­tär­kib­buz Nahal Oz gefan­gen genom­men wor­den – also kei­ne Gei­seln, son­dern Kriegs­ge­fan­ge­ne nach dem Huma­ni­tä­ren Völ­ker­recht. Wäh­rend der Angriff auf das Festi­val »Super­no­va« zwei­fels­frei ein Kriegs­ver­bre­chen war, ent­pupp­ten sich die lan­ge durch die Pres­se getrie­be­nen Erzäh­lun­gen über 40 ent­haup­te­te Babys, das in den Ofen gesteck­te Baby, die auf­ge­schlitz­te Frau und die zahl­rei­chen Ver­ge­wal­ti­gun­gen als Lügen, deren Wider­ruf nie erfolg­te oder im San­de ver­lief, die Ent­mensch­li­chung der Palä­sti­nen­ser und ihres Kamp­fes in den Augen der Öffent­lich­keit aber verfestigte.

Des­glei­chen unter­zieht Baud die israe­li­sche Reak­ti­on seit dem 8. Okto­ber 2023, die Ope­ra­ti­on »Eiser­ne Schwer­ter«, einer detail­lier­ten und umfang­rei­chen Unter­su­chung. Sie reicht von den Zwei­feln an der Ange­mes­sen­heit der Stra­te­gie und der schlecht aus­ge­bil­de­ten Trup­pe, über die Rol­le der israe­li­schen Has­ba­ra bis zur Kri­tik an der Recht­fer­ti­gung durch das Recht auf Selbst­ver­tei­di­gung und am Ein­satz von Hun­ger, Ver­trei­bung und Gewalt. Baud zögert nicht, die gan­ze Stra­te­gie des Krie­ges und die Bru­ta­li­tät ihrer Umset­zung mit den in der deut­schen Dis­kus­si­on weit­ge­hend ver­pön­ten Begrif­fen der eth­ni­schen Säu­be­rung und des Völ­ker­mor­des zu markieren.

Der Autor wen­det die Auf­merk­sam­keit zum Schluss auf die Nach­bar­staa­ten und ihre gefähr­li­che ter­ri­to­ria­le Nähe zu Isra­el, die kriegs­träch­ti­ge Aus­ein­an­der­set­zung mit der His­bol­lah im Liba­non und die Anwe­sen­heit der USA im Nahen Osten Er kri­ti­siert deut­lich die Abwe­sen­heit der euro­päi­schen Diplo­ma­tie und eine »ara­bi­sche Welt, die ihre Brü­der ver­ges­sen hat«. Wenn er schließ­lich fragt, war­um wir uns stän­dig irren und von Miss­erfolg zu Miss­erfolg uns der Rea­li­tät ver­wei­gern, muss man zurück­fra­gen: Stimmt denn das? So wie Hen­ry Kis­sin­ger bis zu sei­nem Tod der Über­zeu­gung war, dass der Viet­nam­krieg ein Erfolg war, da er die Aus­wei­tung des Kom­mu­nis­mus nach Westen stopp­te, so könn­ten die USA und ihre Vasal­len dar­auf ver­wei­sen, dass sie gemein­sam mit Isra­el gegen die Aus­deh­nung und Stär­kung des US-kri­ti­schen ara­bi­schen Lagers ste­hen. Ins­be­son­de­re in der kom­men­den Aus­ein­an­der­set­zung mit Chi­na brau­che man einen bünd­nis­si­che­ren Nahen Osten, der am besten durch ein mili­tä­risch, tech­no­lo­gisch und öko­no­misch star­kes Isra­el garan­tiert wer­de. Das könn­te sich aller­dings als Irr­tum erwei­sen, ist jedoch der­zeit noch die Grund­la­ge der Stra­te­gie Trumps und der euro­päi­schen Vasal­len, die ihm nolens volens fol­gen. Der Titel des Buches »Die Nie­der­la­ge des Sie­gers« ist daher gut gewählt. Netan­ja­hu und Trump könn­ten den Ver­nich­tungs­feld­zug zu Ende füh­ren und Gaza exe­ku­tie­ren. Es wäre den­noch eine Nie­der­la­ge nicht nur für die Palä­sti­nen­ser, son­dern vor allem für die israe­li­sche Gesell­schaft, die län­ger nach­wir­ken könn­te als der 7. Oktober.

Jaques Baud: Die Nie­der­la­ge des Sie­gers – Der Hamas-Angriff – Hin­ter­grund und Fol­gen, West­end-Ver­lag 2024, 483 S., 32 €.