Der Grünen-Außenpolitiker O. Nouripour befürwortet in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen am 12.12.2021 »die Stationierung zusätzlicher Nato-Truppen an der Ostflanke«, falls Russland angreift; in diesem Fall seien »alle Optionen auf dem Tisch«. Es ist bekannt, dass die Nato eine Atommacht ist. Hier von »allen Optionen« zu sprechen, das eskaliert die Spannungen in einer Atmosphäre wie vor einem großen Krieg noch weiter als ohnehin schon.
Hintergrund der Drohung, die sich des Abschreckungs-Narrativs der Nato bedient, ist die Nato-Osterweiterung mit all ihren brandgefährlichen Konsequenzen. Basis der sogenannten Logik der Abschreckung ist das Bild, demzufolge die abschreckende Nato die gute Kraft ist, wohingegen im Osten der Störenfried lauert, der die Guten zum Atomkrieg zwingen kann. Die Nato-affinen Politiker, Militärs und ihre Lobby verbreiten seit der Krim-Krise eine Darstellung, die den Sound der Vorkriegspropaganda annimmt. Mit der halben Wahrheit fokussieren sie auf einen Bildausschnitt, der ein positives Licht auf die eigenen Akteure wirft, und die Dämonisierung des Gegenübers zielt darauf, dass die Öffentlichkeit die Hochrüstung und Spannungseskalation zumindest achselzuckend hinnimmt.
Das geht so weit, dass die Nato die Krim-Krise als Legitimation für ihre Nuklearrüstung heranzieht, obwohl die Stationierung der nach US-General Cartwright technisch weit gebrauchsfähigeren Nuklearsysteme, die unter anderem für den Standort Büchel bei Koblenz produziert werden, schon 2012 auf dem Nato-Gipfel in Chicago beschlossen wurde. Das Narrativ, mit der Krim habe Russland als erster Staat die Grenzen in Europa nach dem Ende des zweiten Weltkrieges gewaltsam verändert, übergeht die gewaltsame Landnahme des Nato-Staates Türkei auf Zypern, die fast ein halbes Jahrhundert zurückliegt und die von keinem Staat der Erde, außer der Türkei selbst anerkannt ist.
Das Instrument der Benutzung von Halbwahrheiten findet sich in der Nato-Propaganda da, wo sie sich die russischen Rechtsbrüche in der Krim-Krise herauspickt, um Russland als Gefahr darzustellen, und dabei die westlicherseits zu verantwortenden Rechtsbrüche in den Wochen zuvor vergessen macht: Bevor es zum Referendum über den Status der Krim gekommen war, wurde in Kiew die pro-westliche »Übergangsregierung« Jatsenjuk mit einem Bruch der Verfassung installiert.
In der Sunday Times warf Gorbatschow dem Westen im Mai 2016 vor, den Zerfall der Sowjetunion bejubelt zu haben. Damals zitierte ihn das ND im Artikel »Auch Gorbatschow hätte die Krim geholt« wie folgt: »Sie waren nie richtig daran interessiert, dass Russland eine stabile und starke Demokratie wird«. Er sah nicht in der Krim-Krise, sondern in der »Überheblichkeit Washingtons« den Grund für die Abkühlung zwischen dem Westen und Russland.
Diese gefährliche Arroganz des Westens offenbarte sich auch daran, dass man bei den Umtrieben, die den undemokratischen Regierungswechsel in der Ukraine begleiteten, rechtsextreme Gewaltakte zumindest hinnahm. Das bekannteste Verbrechen dieser Tage fand in der Hafenstadt Odessa statt. Im dortigen Gewerkschaftshaus kamen mindestens 46 Menschen zu Tode, die vor rechten Provokateuren Schutz gesucht hatten, ehe diese ein Massaker verübten. Zur Bedeutung der Rechten sagte der Osteuropaexperte Alexander Rahr in der Sendung Panorama vom 06.03.2014, der »rechte Sektor war aus meiner Sicht entscheidend für den Umsturz, weil er eine Organisation ist, die auch bereit war, in Kampfhandlungen mit den Polizisten, mit den Sicherheitskräften einzutreten. Sie waren gut organisiert.« Dies veranschaulichte der Panorama-Berichtstext: »Von Anfang an spielen auch rechtsextreme Kräfte auf dem Maidan eine wichtige Rolle: Die ultranationalistische Partei Swoboda (Freiheit), die mit gut zehn Prozent der Stimmen in der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, sitzt, ist seit Beginn der Proteste ein wichtiger Akteur.« Parteichef Oleh Tjahnybok schimpfte einst über die »russisch-jüdische Mafia«, die die Ukraine kontrolliere. »Doch neben Swoboda sind auf dem Maidan sogar noch radikalere Kräfte aktiv: So zum Beispiel die zu allem entschlossenen, paramilitärisch organisierten Gruppen des ›Rechten Sektors‹. (…) Ihm gehören vor allem Mitglieder neonazistischer Vereinigungen an. Auf der Webseite prahlen einzelne Mitglieder mit ihren angeblichen oder tatsächlichen Kampferfahrungen in Tschetschenien oder im Kosovo. (…) Für die Vertreibung des alten Regimes Ende Februar 2014 waren die auf den Barrikaden meist an vorderster Front kämpfenden Truppen des ›Rechten Sektors‹ mit entscheidend. Demzufolge betrachten sie in ihrer eigenen Propaganda die Ereignisse auch als ihre ›nationale Revolution‹.«
Im Waffenverbund mit den Nazis waren auch US-Söldner-Truppen, die mit Blackwater/Academi in Verbindung gebracht wurden, wie es ein Deutschlandfunk-Interview mit dem damaligen Luxemburgischen Außenminister Jean Asselborn am 12. Mai 2014 offenbarte:
»dlf: Eine kurze Frage noch zu einem anderen Aspekt dieser Krise. Gestern gab es hier in Deutschland Berichte darüber, dass auf Seiten der ukrainischen Regierung mehrere hundert US-Söldner einer privaten Firma arbeiten. Wissen Sie was darüber, und was hat das zu bedeuten, dass dort auf einmal möglicherweise US-amerikanische Söldner auftauchen?
Asselborn: Ich weiß (…), dass in der Transitionsphase alles gemacht werden muss aus Kiew, dass Dramen wie Odessa, wo die Polizei total versagt hat, dass man das verhindert und dass man auch, glaube ich – und das ist wichtig noch – dieser Aufruf gemacht wird, dass militärische Einsätze von Kiew im Osten nicht offensiv ausgerichtet sind, dass sie nur defensiv, wenn es sein muss, ausgerichtet sind, und dass man auch versucht, selbstverständlich in Kiew wirklich alles zu tun, damit dieser Dialog, den ich angedeutet habe, stattfinden kann und dass man nicht mit Methoden operiert, die an irgendwelche schlechten Erinnerungen erinnern, die uns daran erinnern, wie zum Beispiel in anderen Kriegsgebieten – wir sind ja nicht in einem Kriegsgebiet –, in Afghanistan, in Irak oder irgendwo anders, operiert wurde.«
Auch deutsche Soldaten unterstützten laut dem Redaktionsnetzwerk Deutschland vom 4. Mai 2014 die illegale Übergangsregierung Jatsenjuk u. a. mit einer »Mission unter Leitung der Bundeswehr und auf Einladung des ukrainischen Regimes. Solche Inspektionen (…) haben nicht das breite Mandat einer OSZE-Mission, sondern sind unter den teilnehmenden Staaten selbst vereinbart.«
Wenn die Nato und weitere westliche Mächte, darunter die Bundesregierung, ihre Vorkriegspropaganda gegen Russland wenden, dann handelt es sich um Manöver, die davon ablenken sollen, dass es die Nato war und ist, die mit dem Risiko eines dritten großen Krieges in Europa an der russischen Westgrenze zündelt. Und die bündnisgrüne Führung, nun Teil der Ampel-Regierung, zündelt dabei mit. Sie widerspricht damit nicht nur der Gründungsidee der Grünen als Kraft für Frieden und Ökologie, sie wählt ihre Worte in brandgefährlicher Weise sogar eskalierender als andere Nato-affine Kräfte. Die Friedensbewegung tut gut daran, ohne falsche Hoffnungen auf eine wohlklingende Menschenrechtsrhetorik wachsam ins Jahr 2022 zu gehen.
Die US-Administration der Regierung Biden deutete allerdings im Gespräch mit dem russischen Präsidenten Putin an, dass die USA die Regierung in Kiew auf einen autonomen Status der östlichen Donbass-Region orientieren werde. Dort lebt der dominant russisch-sprachige Teil der Bevölkerung, und um dieses Gebiet schwelt der immer wieder gewaltsam ausgefochtene Konflikt in der Ukraine.
Der von einigen Transatlantikern angestrebte Nato-Beitritt der Ukraine bleibt allerdings ein weiter schwelender Konfliktpunkt zwischen den USA und Russland. Die britische Außenministerin Liz Truss twitterte am 28.12.2021, sie habe in einem Telefonat mit dem Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg das »aggressive Vorgehen Russlands gegen die Ukraine« diskutiert. Sie sei sich mit Herrn Stoltenberg einig gewesen, dass die Nato die Ukraine »entschlossen unterstützt«. Ihr Hinweis, die Souveränität der Ukraine sei zu berücksichtigen, bezog sich auch auf den Beschluss des ukrainischen Parlaments vom 8. Juni 2021, eine Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato zur Priorität der ukrainischen Außenpolitik zu erheben. Der ukrainische Außenminister Dmitri Kuleba hatte kürzlich erklärt, dass weder die Vereinigten Staaten noch die Nato die Forderung Russlands, die Nato-Osterweiterung zu stoppen, akzeptieren würden.
Russland hatte unter Verweis auf die Versprechen der Außenminister der USA und Deutschlands während der Verhandlungen zum Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, die Nato werde sich nicht nach Osten hin ausweiten, verlangt, dass Sicherheitsgarantien der Nato einen Beitritt der Ukraine ausschließen. Das konnten die damals Verantwortlichen offenbar durchaus nachvollziehen. So schrieb der ehemalige US-Verteidigungsminister McNamara 1997 in einem Brief an den damaligen US-Präsidenten Bill Clinton: »Wir glauben, dass eine weitere Nato-Osterweiterung die Sicherheit unserer Alliierten gefährden und die Stabilität in Europa erschüttern könnte.« Ebenfalls 1997 schrieb der US-Diplomat und Historiker George F. Kennan: »Es wäre der verhängnisvollste Fehler amerikanischer Politik in der Zeit nach dem Kalten Krieg, die Nato bis zu den Grenzen Russlands auszuweiten.«
Diese Worte gewinnen in der aktuell zugespitzten Lage eine weitsichtige Brisanz. Die Friedensbewegung ist gefordert, der Nato-Propaganda Aufklärung über die realen Abläufe entgegenzusetzen, um Schlimmeres zu verhindern. Im Atomzeitalter hat Politik die prioritäre Aufgabe, den Frieden zu erhalten, um eine Aussicht auf die Überwindung der Zukunftsgefährdungen zu eröffnen.