Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine, der Zeitenwende mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden, der Aufstockung des jährlichen Militärhaushalts von mindestens 2 Prozent des Bundesinlandsproduktes sowie der ausgerufenen »Kriegstüchtigkeit« durch Verteidigungsminister Pistorius ist klar, dass die euroatlantische Sicherheitsordnung der 1990er Jahre Vergangenheit ist. Wir befinden uns in nicht gesicherten Vorkriegszeiten und einer Phase der Entwicklung einer ungebremsten Rüstungsspirale.
Entgegen der vorherrschenden Auffassung, dass die Friedensordnung von fast zwei Jahrzehnten sich in Europa mit dem »unprovozierten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg« Russlands grundsätzlich gewandelt hat, gab es bereits davor maßgebliche Faktoren, die zur aktuellen Situation beigetragen haben.
In der Zeitspanne zwischen 1999 und 2023 wurden in mehreren Schüben 14 Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes in die Nato aufgenommen: eine zunehmende Bedrohungslage für die Russische Föderation durch eine andauernde Ostgrenzverlagerung der Nato an russisches Staatsgebiet.
2018 kündigte der ehemalige US-Präsident Trump ohne Not den Rüstungskontrollvertrag, den Vertrag über Mittelstreckenraketen und zwei Jahre später den Vertrag des offenen Himmels. Alle Regelungen zur Abrüstungs- und Friedenssicherung mit der Vernichtung von Panzern, Artillerie und Mittelstreckenraketen existieren nicht mehr. Trumps Drohung, im selben Jahr aus der Nato auszusteigen, führte zu einer größeren Bereitschaft der meisten Verbündeten, eine Intensivierung ihrer Militärausgaben voranzutreiben. Ein weiterer Schritt, die Sicherheitsordnung Europas zu gefährden.
Mit der Erklärung Georgiens und der Ukraine, der Nato beizutreten, ist nach russischem Verständnis die Südflanke Russlands einer weiteren militärischen Bedrohung ausgesetzt.
Diese Faktoren haben die Sicherheitslage Europas bereits vor der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ukraine destabilisiert. Der völkerrechtswidrige Überfall auf die Ukraine kam nicht aus dem Nichts und hatte seine Vorgeschichte. Sogar Nato-Generalsekretär Stoltenberg erklärte bereits vor einem Jahr, dass der Krieg nicht erst am 24. Februar 2022 (Einmarsch russischer Truppen in den Donbass) begonnen habe, sondern bereits im Jahr 2014.
Der Westen antwortet auf den Krieg mit dem Narrativ, militärische Sicherheit nur durch Aufrüstung und Abschreckung herzustellen zu können. BND-Chef Bruno Kahl geht davon aus, dass Wladimir Putin vor einem Angriff auf die Nato nicht zurückschrecken würde, insbesondere, wenn die Ukraine zum Aufgeben gezwungen wäre. Europa dürfe davor nicht kapitulieren. Stoltenberg erklärt, dass ein »Sieg Russlands über die Ukraine eine Tragödie für die Welt« sei, mit der Aufforderung, unbedingt den militärischen Sieg über Russland nicht aufzugeben. Welche Gefahren diese mit Scheuklappen versehene Auffassung beinhaltet, ist ein Aspekt, der überhaupt nicht vorkommt. Allein die Kriegsentwicklung in der Ukraine zeigt eine permanente militärische Eskalation ohne jegliche Einschränkungen. Die Bundesregierung hat bis dato mindestens 30 Milliarden Euro an Geld, Waffen sowie informeller und logistischer Hilfe an die Ukraine geleitet (die Kosten der Flüchtlingsaufnahme nicht eingerechnet). Die neueste ukrainische Forderung, Taurus-Marschflugkörper geliefert zu bekommen, ist lediglich ein weiterer Schritt in diese Richtung. Grüne und FDP sprechen sich bereits dafür aus. Schritt für Schritt geht es einer Situation entgegen, bei der selbst der Einsatz nuklearer Sprengköpfe nicht mehr auszuschließen wäre.
Mit dem russisch-ukrainischen Krieg geriet die euro-atlantische Sicherheitsarchitektur vollkommen aus dem Lot. »Wir können die Möglichkeit eines Angriffs auf die Souveränität der territorialen Integrität der Bündnispartner nicht ausschließen«, erklären die Nato-Länder. Jahrzehntelang ausgesetzte Großmanöver finden wieder statt. Das vierstufige Großmanöver Quadriga 2024, die größte Nato-Übung seit Jahrzehnten, ist auf einen Zeitraum von über vier Monaten mit 90.000 Soldaten aller Staaten konzipiert. Deutschland beteiligt sich mit 12.000 Soldaten.
Die Nato-Erweiterung durch den Beitritt Finnlands und einem weiteren Nato-Grenzverlauf von 1.300 km zu Russland wird von Putin als Bedrohung gesehen. Laut russischer Verlautbarung sieht Moskau sich gezwungen »militärtechnisch und auf andere Weise« darauf zu reagieren. Russland spricht von einem »zerstörerischen Kurs«. Die euro-atlantische Solidarität sei nichts anderes als ein aggressives Vorgehen gegenüber Russland.
Nach Nato-Vorstellungen benötigt die Bundeswehr ein doppelt so hohes Sondervermögen von 200 Milliarden Euro, um den militärischen Ansprüchen der Zukunft zu genügen. Fünfunddreißig neue F 35-Bomber, die in der Lage sind, Atombomben zu transportieren, sind bestellt. Die atomare Teilhabe Deutschlands wird demnächst innerhalb der Nato besprochen. Der Kalte Krieg kehrt zurück, und die Rüstungsspirale schraubt sich ungehindert immer weiter nach oben. Deutschland stellt für die Verteidigung des Nato-Partners Litauen eine Kampfbrigade an die Ostflanke. Mehr Soldaten, mehr Ausgaben, mehr Militärpräsenz. Auf die Frage an Nato-Generalsekretär Stoltenberg, ob wieder ein Kalter Krieg herrsche, antwortete er, dass wir in einer Welt leben, »in der es einen Heißen Krieg in Europa gibt«. Auf dem Gipfeltreffen der Nato-Staaten in Madrid vereinbarten die Alliierten, dass bis Ende 2030 mehr als 20 Milliarden Euro zusätzlich bereitgestellt werden. Den Angaben zufolge soll der zivile und militärische Haushalt von 2023 an jährlich um je 10 Prozent erhöht werden. Die Nato stockt ihre schnelle Eingreiftruppe von 40.000 auf 300.000 Soldaten auf. Die USA signalisieren, dass sie sich an die Beschränkungen von Truppenstationierungen nicht länger gebunden fühlen, die sich aus der Nato-Russland-Grundakte ergeben. In dieser Vereinbarung von 1997 hatte die Nato zugesichert, von der dauerhaften Stationierung größerer Truppenverbände auf dem Gebiet des früheren Warschauer Pakts abzusehen. Die USA kündigt die Verlegung militärischer Einheiten nach Europa an sowie den Aufbau eines neuen Hauptquartiers in Polen. Russland droht mit »Ausgleichsmaßnahmen«.
Die Nato-Planspiele gehen davon aus, dass nach dem russisch-ukrainischen Krieg die baltischen Länder ins Fadenkreuz einer russisch-imperialer Okkupation geraten werden. Bisherige Verteidigungspläne liefen darauf hinaus, dass das Baltikum überrannt und dann von Nato-Truppen freigekämpft würde. Die Einschätzungen gehen von einer Erholungs- und Wiederaufbau-Phase Russlands von sechs bis zehn Jahren aus, bevor es wieder in der Lage wäre, einen neuen Angriffskrieg zu führen. Demnach hätten Nato-Staaten ein Zeitfenster von fünf bis neun Jahren, um einen möglichen Angriff Russlands zu verhindern, so die Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Da die russische Politik bereits jetzt auf Kriegswirtschaft umgestellt habe, bestehe für den Westen ein enormer Nachholbedarf, um aufzuschließen.
Ein Großteil russischer Öltransporte wird über die Ostsee abgewickelt, die zum Schutz von russischer Kriegsmarine begleitet wird. Die Ostsee ist aber ein relativ kleines Operationsgebiet, in dem sich auch Nato-Kriegsschiffe bewegen. Nicht weiter überraschend, waren bereits riskante Schiffsmanöver zu verzeichnen. Gleichermaßen gab es schon eine Reihe von Beinahe-Vorfällen und Zwischenfällen bei Kampfflugzeugen der beiden Militärblöcke. Ein Gefahrenpotential, für das es bislang kein reglementiertes Szenario gibt, um es nicht zu einer unvorhergesehenen Eskalation kommen zu lassen. Ein »dummes Ding«, das aus dem Ruder läuft, kann hochexplosive Folgen nach sich ziehen.
Diese Entwicklung, deren Ende nicht abzusehen ist, hat Konsequenzen: Die Verbraucherpreise schießen in die Höhe, im Sinne von Einsparpotentialen, um eine Aufrüstung zu finanzieren, der Sozialetat wird massiv gekürzt. Die Aufrechterhaltung der Schuldenbremse tut ihr Übriges. Der Gesundheits-, Pflege- und der Bildungsbereich kommen nicht auf die Füße und werden zudem durch Privatisierung weiter nach unten gefahren. Wirtschaftsbereiche geraten ins Minus, Bauern wehren sich gegen das Ausbluten ihres Berufstandes, der Ausbau und Unterhalt der Infrastruktur stagniert, und die Energiewende wird unsichtbar, aber die Verdoppelung der Militärhilfe für die Ukraine stellt kein Problem dar. Bislang wurden der Ukraine 18 Milliarden Euro an Militärhilfe bereitgestellt. Deutschland belegt hierbei Platz zwei nach den USA.
Diese gesellschaftlichen Investitionen in ein derart intensives Aufrüstungsvorhaben müssen aber ihren Grund haben. Der Westen und die Nato gehen noch immer von einem Sieg und der Vertreibung Russlands von ukrainischem Staatsgebiet aus. Sollte es dazu kommen, ist Zahltag, denn die milliardenfachen Kredite, Zahlungen und Investitionen wollen zurücküberwiesen werden. Eine Rückzahlung mittels der Verfügungsgewalt über die umfangreichen ukrainischen Bodenschätze wäre von Seiten der westlichen Geldgeber unabdingbar. Insbesondere Lithium, das für die Energiewende und den Bau von Elektromotoren dringend gebraucht würde, steht hierbei im Mittelpunkt. Die größten Vorkommen in Europa liegen im Donezk-Luhansk-Gebiet. Ein guter Grund, die Ukraine derart massiv militärisch zu unterstützen. Westliche Kapitalinteressen stehen eindeutig im Vordergrund.
Linke und Friedensbewegung stehen vor einer Mammutaufgabe. Nicht nur die kommenden Ostermärsche sollten Anlass geben, umfangreich aufzuklären und zu organisieren. Die massenhaften Teilnehmerzahlen bei Demonstrationen gegen AfD und Rechts können hierbei Ermutigung sein.