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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Nato und der neue Kalte Krieg

Seit dem Über­fall Russ­lands auf die Ukrai­ne, der Zei­ten­wen­de mit einem Son­der­ver­mö­gen von 100 Mil­li­ar­den, der Auf­stockung des jähr­li­chen Mili­tär­haus­halts von min­de­stens 2 Pro­zent des Bun­des­in­lands­pro­duk­tes sowie der aus­ge­ru­fe­nen »Kriegs­tüch­tig­keit« durch Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster Pisto­ri­us ist klar, dass die euroat­lan­ti­sche Sicher­heits­ord­nung der 1990er Jah­re Ver­gan­gen­heit ist. Wir befin­den uns in nicht gesi­cher­ten Vor­kriegs­zei­ten und einer Pha­se der Ent­wick­lung einer unge­brem­sten Rüstungsspirale.

Ent­ge­gen der vor­herr­schen­den Auf­fas­sung, dass die Frie­dens­ord­nung von fast zwei Jahr­zehn­ten sich in Euro­pa mit dem »unpro­vo­zier­ten völ­ker­rechts­wid­ri­gen Angriffs­krieg« Russ­lands grund­sätz­lich gewan­delt hat, gab es bereits davor maß­geb­li­che Fak­to­ren, die zur aktu­el­len Situa­ti­on bei­getra­gen haben.

In der Zeit­span­ne zwi­schen 1999 und 2023 wur­den in meh­re­ren Schü­ben 14 Staa­ten des ehe­ma­li­gen War­schau­er Pak­tes in die Nato auf­ge­nom­men: eine zuneh­men­de Bedro­hungs­la­ge für die Rus­si­sche Föde­ra­ti­on durch eine andau­ern­de Ost­grenz­ver­la­ge­rung der Nato an rus­si­sches Staatsgebiet.

2018 kün­dig­te der ehe­ma­li­ge US-Prä­si­dent Trump ohne Not den Rüstungs­kon­troll­ver­trag, den Ver­trag über Mit­tel­strecken­ra­ke­ten und zwei Jah­re spä­ter den Ver­trag des offe­nen Him­mels. Alle Rege­lun­gen zur Abrü­stungs- und Frie­dens­si­che­rung mit der Ver­nich­tung von Pan­zern, Artil­le­rie und Mit­tel­strecken­ra­ke­ten exi­stie­ren nicht mehr. Trumps Dro­hung, im sel­ben Jahr aus der Nato aus­zu­stei­gen, führ­te zu einer grö­ße­ren Bereit­schaft der mei­sten Ver­bün­de­ten, eine Inten­si­vie­rung ihrer Mili­tär­aus­ga­ben vor­an­zu­trei­ben. Ein wei­te­rer Schritt, die Sicher­heits­ord­nung Euro­pas zu gefährden.

Mit der Erklä­rung Geor­gi­ens und der Ukrai­ne, der Nato bei­zu­tre­ten, ist nach rus­si­schem Ver­ständ­nis die Süd­flan­ke Russ­lands einer wei­te­ren mili­tä­ri­schen Bedro­hung ausgesetzt.

Die­se Fak­to­ren haben die Sicher­heits­la­ge Euro­pas bereits vor der Anne­xi­on der Krim und dem Krieg in der Ukrai­ne desta­bi­li­siert. Der völ­ker­rechts­wid­ri­ge Über­fall auf die Ukrai­ne kam nicht aus dem Nichts und hat­te sei­ne Vor­ge­schich­te. Sogar Nato-Gene­ral­se­kre­tär Stol­ten­berg erklär­te bereits vor einem Jahr, dass der Krieg nicht erst am 24. Febru­ar 2022 (Ein­marsch rus­si­scher Trup­pen in den Don­bass) begon­nen habe, son­dern bereits im Jahr 2014.

Der Westen ant­wor­tet auf den Krieg mit dem Nar­ra­tiv, mili­tä­ri­sche Sicher­heit nur durch Auf­rü­stung und Abschreckung her­zu­stel­len zu kön­nen. BND-Chef Bru­no Kahl geht davon aus, dass Wla­di­mir Putin vor einem Angriff auf die Nato nicht zurück­schrecken wür­de, ins­be­son­de­re, wenn die Ukrai­ne zum Auf­ge­ben gezwun­gen wäre. Euro­pa dür­fe davor nicht kapi­tu­lie­ren. Stol­ten­berg erklärt, dass ein »Sieg Russ­lands über die Ukrai­ne eine Tra­gö­die für die Welt« sei, mit der Auf­for­de­rung, unbe­dingt den mili­tä­ri­schen Sieg über Russ­land nicht auf­zu­ge­ben. Wel­che Gefah­ren die­se mit Scheu­klap­pen ver­se­he­ne Auf­fas­sung beinhal­tet, ist ein Aspekt, der über­haupt nicht vor­kommt. Allein die Kriegs­ent­wick­lung in der Ukrai­ne zeigt eine per­ma­nen­te mili­tä­ri­sche Eska­la­ti­on ohne jeg­li­che Ein­schrän­kun­gen. Die Bun­des­re­gie­rung hat bis dato min­de­stens 30 Mil­li­ar­den Euro an Geld, Waf­fen sowie infor­mel­ler und logi­sti­scher Hil­fe an die Ukrai­ne gelei­tet (die Kosten der Flücht­lings­auf­nah­me nicht ein­ge­rech­net). Die neue­ste ukrai­ni­sche For­de­rung, Tau­rus-Marsch­flug­kör­per gelie­fert zu bekom­men, ist ledig­lich ein wei­te­rer Schritt in die­se Rich­tung. Grü­ne und FDP spre­chen sich bereits dafür aus. Schritt für Schritt geht es einer Situa­ti­on ent­ge­gen, bei der selbst der Ein­satz nuklea­rer Spreng­köp­fe nicht mehr aus­zu­schlie­ßen wäre.

Mit dem rus­sisch-ukrai­ni­schen Krieg geriet die euro-atlan­ti­sche Sicher­heits­ar­chi­tek­tur voll­kom­men aus dem Lot. »Wir kön­nen die Mög­lich­keit eines Angriffs auf die Sou­ve­rä­ni­tät der ter­ri­to­ria­len Inte­gri­tät der Bünd­nis­part­ner nicht aus­schlie­ßen«, erklä­ren die Nato-Län­der. Jahr­zehn­te­lang aus­ge­setz­te Groß­ma­nö­ver fin­den wie­der statt. Das vier­stu­fi­ge Groß­ma­nö­ver Qua­dri­ga 2024, die größ­te Nato-Übung seit Jahr­zehn­ten, ist auf einen Zeit­raum von über vier Mona­ten mit 90.000 Sol­da­ten aller Staa­ten kon­zi­piert. Deutsch­land betei­ligt sich mit 12.000 Soldaten.

Die Nato-Erwei­te­rung durch den Bei­tritt Finn­lands und einem wei­te­ren Nato-Grenz­ver­lauf von 1.300 km zu Russ­land wird von Putin als Bedro­hung gese­hen. Laut rus­si­scher Ver­laut­ba­rung sieht Mos­kau sich gezwun­gen »mili­tär­tech­nisch und auf ande­re Wei­se« dar­auf zu reagie­ren. Russ­land spricht von einem »zer­stö­re­ri­schen Kurs«. Die euro-atlan­ti­sche Soli­da­ri­tät sei nichts ande­res als ein aggres­si­ves Vor­ge­hen gegen­über Russland.

Nach Nato-Vor­stel­lun­gen benö­tigt die Bun­des­wehr ein dop­pelt so hohes Son­der­ver­mö­gen von 200 Mil­li­ar­den Euro, um den mili­tä­ri­schen Ansprü­chen der Zukunft zu genü­gen. Fünf­und­drei­ßig neue F 35-Bom­ber, die in der Lage sind, Atom­bom­ben zu trans­por­tie­ren, sind bestellt. Die ato­ma­re Teil­ha­be Deutsch­lands wird dem­nächst inner­halb der Nato bespro­chen. Der Kal­te Krieg kehrt zurück, und die Rüstungs­spi­ra­le schraubt sich unge­hin­dert immer wei­ter nach oben. Deutsch­land stellt für die Ver­tei­di­gung des Nato-Part­ners Litau­en eine Kampf­bri­ga­de an die Ost­flan­ke. Mehr Sol­da­ten, mehr Aus­ga­ben, mehr Mili­tär­prä­senz. Auf die Fra­ge an Nato-Gene­ral­se­kre­tär Stol­ten­berg, ob wie­der ein Kal­ter Krieg herr­sche, ant­wor­te­te er, dass wir in einer Welt leben, »in der es einen Hei­ßen Krieg in Euro­pa gibt«. Auf dem Gip­fel­tref­fen der Nato-Staa­ten in Madrid ver­ein­bar­ten die Alli­ier­ten, dass bis Ende 2030 mehr als 20 Mil­li­ar­den Euro zusätz­lich bereit­ge­stellt wer­den. Den Anga­ben zufol­ge soll der zivi­le und mili­tä­ri­sche Haus­halt von 2023 an jähr­lich um je 10 Pro­zent erhöht wer­den. Die Nato stockt ihre schnel­le Ein­greif­trup­pe von 40.000 auf 300.000 Sol­da­ten auf. Die USA signa­li­sie­ren, dass sie sich an die Beschrän­kun­gen von Trup­pen­sta­tio­nie­run­gen nicht län­ger gebun­den füh­len, die sich aus der Nato-Russ­land-Grund­ak­te erge­ben. In die­ser Ver­ein­ba­rung von 1997 hat­te die Nato zuge­si­chert, von der dau­er­haf­ten Sta­tio­nie­rung grö­ße­rer Trup­pen­ver­bän­de auf dem Gebiet des frü­he­ren War­schau­er Pakts abzu­se­hen. Die USA kün­digt die Ver­le­gung mili­tä­ri­scher Ein­hei­ten nach Euro­pa an sowie den Auf­bau eines neu­en Haupt­quar­tiers in Polen. Russ­land droht mit »Aus­gleichs­maß­nah­men«.

Die Nato-Plan­spie­le gehen davon aus, dass nach dem rus­sisch-ukrai­ni­schen Krieg die bal­ti­schen Län­der ins Faden­kreuz einer rus­sisch-impe­ria­ler Okku­pa­ti­on gera­ten wer­den. Bis­he­ri­ge Ver­tei­di­gungs­plä­ne lie­fen dar­auf hin­aus, dass das Bal­ti­kum über­rannt und dann von Nato-Trup­pen frei­ge­kämpft wür­de. Die Ein­schät­zun­gen gehen von einer Erho­lungs- und Wie­der­auf­bau-Pha­se Russ­lands von sechs bis zehn Jah­ren aus, bevor es wie­der in der Lage wäre, einen neu­en Angriffs­krieg zu füh­ren. Dem­nach hät­ten Nato-Staa­ten ein Zeit­fen­ster von fünf bis neun Jah­ren, um einen mög­li­chen Angriff Russ­lands zu ver­hin­dern, so die Gesell­schaft für Aus­wär­ti­ge Poli­tik (DGAP). Da die rus­si­sche Poli­tik bereits jetzt auf Kriegs­wirt­schaft umge­stellt habe, bestehe für den Westen ein enor­mer Nach­hol­be­darf, um aufzuschließen.

Ein Groß­teil rus­si­scher Öltrans­por­te wird über die Ost­see abge­wickelt, die zum Schutz von rus­si­scher Kriegs­ma­ri­ne beglei­tet wird. Die Ost­see ist aber ein rela­tiv klei­nes Ope­ra­ti­ons­ge­biet, in dem sich auch Nato-Kriegs­schif­fe bewe­gen. Nicht wei­ter über­ra­schend, waren bereits ris­kan­te Schiffs­ma­nö­ver zu ver­zeich­nen. Glei­cher­ma­ßen gab es schon eine Rei­he von Bei­na­he-Vor­fäl­len und Zwi­schen­fäl­len bei Kampf­flug­zeu­gen der bei­den Mili­tär­blöcke. Ein Gefah­ren­po­ten­ti­al, für das es bis­lang kein regle­men­tier­tes Sze­na­rio gibt, um es nicht zu einer unvor­her­ge­se­he­nen Eska­la­ti­on kom­men zu las­sen. Ein »dum­mes Ding«, das aus dem Ruder läuft, kann hoch­ex­plo­si­ve Fol­gen nach sich ziehen.

Die­se Ent­wick­lung, deren Ende nicht abzu­se­hen ist, hat Kon­se­quen­zen: Die Ver­brau­cher­prei­se schie­ßen in die Höhe, im Sin­ne von Ein­spar­po­ten­tia­len, um eine Auf­rü­stung zu finan­zie­ren, der Sozi­al­etat wird mas­siv gekürzt. Die Auf­recht­erhal­tung der Schul­den­brem­se tut ihr Übri­ges. Der Gesund­heits-, Pfle­ge- und der Bil­dungs­be­reich kom­men nicht auf die Füße und wer­den zudem durch Pri­va­ti­sie­rung wei­ter nach unten gefah­ren. Wirt­schafts­be­rei­che gera­ten ins Minus, Bau­ern weh­ren sich gegen das Aus­blu­ten ihres Berufs­tan­des, der Aus­bau und Unter­halt der Infra­struk­tur sta­gniert, und die Ener­gie­wen­de wird unsicht­bar, aber die Ver­dop­pe­lung der Mili­tär­hil­fe für die Ukrai­ne stellt kein Pro­blem dar. Bis­lang wur­den der Ukrai­ne 18 Mil­li­ar­den Euro an Mili­tär­hil­fe bereit­ge­stellt. Deutsch­land belegt hier­bei Platz zwei nach den USA.

Die­se gesell­schaft­li­chen Inve­sti­tio­nen in ein der­art inten­si­ves Auf­rü­stungs­vor­ha­ben müs­sen aber ihren Grund haben. Der Westen und die Nato gehen noch immer von einem Sieg und der Ver­trei­bung Russ­lands von ukrai­ni­schem Staats­ge­biet aus. Soll­te es dazu kom­men, ist Zahl­tag, denn die mil­li­ar­den­fa­chen Kre­di­te, Zah­lun­gen und Inve­sti­tio­nen wol­len zurück­über­wie­sen wer­den. Eine Rück­zah­lung mit­tels der Ver­fü­gungs­ge­walt über die umfang­rei­chen ukrai­ni­schen Boden­schät­ze wäre von Sei­ten der west­li­chen Geld­ge­ber unab­ding­bar. Ins­be­son­de­re Lithi­um, das für die Ener­gie­wen­de und den Bau von Elek­tro­mo­to­ren drin­gend gebraucht wür­de, steht hier­bei im Mit­tel­punkt. Die größ­ten Vor­kom­men in Euro­pa lie­gen im Donezk-Luhansk-Gebiet. Ein guter Grund, die Ukrai­ne der­art mas­siv mili­tä­risch zu unter­stüt­zen. West­li­che Kapi­tal­in­ter­es­sen ste­hen ein­deu­tig im Vordergrund.

Lin­ke und Frie­dens­be­we­gung ste­hen vor einer Mam­mut­auf­ga­be. Nicht nur die kom­men­den Oster­mär­sche soll­ten Anlass geben, umfang­reich auf­zu­klä­ren und zu orga­ni­sie­ren. Die mas­sen­haf­ten Teil­neh­mer­zah­len bei Demon­stra­tio­nen gegen AfD und Rechts kön­nen hier­bei Ermu­ti­gung sein.