Im Berliner Grundsatzprogramm der SPD von 1989, gültig bis 2007(!), heißt es zur Politik der gemeinsamen Sicherheit in Europa: »Friedenspolitik muss Machtkonflikte entschärfen, Interessenausgleich suchen, gemeinsame Interessen aufgreifen, dem Vormachtstreben der Weltmächte durch regionale Zusammenschlüsse entgegenwirken und Gegensätze zwischen Systemen, Ideologien und Religionen im friedlichen Wettbewerb und in einer Kultur des politischen Streits austragen. Friedenspolitik muss die Vorherrschaft militärischer, bürokratischer und rüstungswirtschaftlicher Interessen brechen und Rüstungsproduktion in die Produktion ziviler Güter überführen.«
Das System der militärischen Abschreckung sollte überwunden und blockübergreifend Sicherheit organisiert werden. Weltweit sollten alle Massenvernichtungsmittel beseitigt, Deutschland davon befreit werden. Das Land sollte auch keine Mitverfügung anstreben, stattdessen wollte die SPD den Verzicht auf ABC-Waffen verfassungsrechtlich absichern, die Dynamik der Aufrüstung brechen und eine Dynamik der Abrüstung in Gang setzen; zudem sollte der Export von Waffen und Rüstungsgütern verhindert werden.
Diese Idee scheiterte zuerst an den Kohl-Regierungen und endgültig mit der Beteiligung der rot-grünen Bundesregierung am völkerrechtswidrigen Nato-Krieg gegen Jugoslawien. Die weitere Anpassung der SPD an die Militarisierung Deutschlands im deutsch-atlantischen Bündnis brachte die taz auf den Punkt, indem sie den Weg eines Jusos zum Vorsitzenden dieser Partei überschrieb: »Lars und die Panzer«, das ist der Weg der SPD. Aus dem »lächelnden« Lars Klingbeil (heute Vorsitzender der Partei) ist ein Militarist geworden: Ein ehemaliger Kriegsdienstverweigerer ist nun Bundestagsabgeordneter im Verteidigungsausschuss. Solche militärorientierten Karrieren gibt es nach 1990, vor allem in Institutionen, die sich mit »Sicherheit«, verstanden als Aufrüstung, Abschreckung und Kampfeinsätzen der Bundeswehr, beschäftigen, tausendfach: Der Krieg setzte sich als Mittel der Politik im Denken der Staatsbürokratie, von SPD und grüner Partei fest, völkerrechtswidrige Kriege inklusive. Eine unterschätze Rolle spielen die personell enorm angewachsen »Think Tanks« und Netzwerke, die im US-amerikanischen und eigenen Sinne »atlantische« Aufrüstungspolitik und Militarisierung betreiben, die doch im Jubel deutsch-deutscher Vereinigung unterging. Der besonderen Betonung einer Friedenspolitik, die im Grundgesetz und besonders in den neuen ostdeutschen Länderverfassungen verankert wurde, folgte die politische Praxis nicht. Eine neue Politik und ein neues Europa des Friedens blieben eine unerfüllte Idee. Politik und Medien, Universitäten und Forschungseinrichtungen schlugen, erst verklausuliert, einen entgegengesetzten Weg ein. »Peacekeeping« und »Humanitäre Interventionen« weckten in Teilen der Gesellschaft die Vorstellung von etwas Gutem, das in Wahrheit der Militarisierung den Weg bereitete. Gleichzeitig verloren Anhänger einer kritischen, antimilitaristischen Friedensforschung an Einfluss, was dazu beitrug, der Öffentlichkeit glauben zu machen, das sei der Weg zu einer Friedensordnung.
Man ließ damals Russland verbluten. Keine Integration, keine gemeinsame Sicherheit. US-Amerikanische Wirtschaftsexperten brachten Russland Privatisierung, Bereicherung, kapitalisierten die Ressourcen des größten Landes der Erde. 60 Prozent der Bevölkerung stürzten in Armut. Wenige profitierten davon, später »Oligarchen« genannt, willkommene Bürger Londons, dort kauften sie sich ein. Die von den USA- und Nato-geführten Kriege gegen den Irak, Jugoslawien, Libyen und den »islamistischen Terror« brachten die Idee einer Gemeinsamen Sicherheit in Europa zum Scheitern, noch bevor Strukturen, Regeln und vor allem Manpower bereitstanden. Der politische Wille dafür war in Deutschland nicht vorhanden. Die »Friedensbewegung« und kritische Friedensforschung verloren an Einfluss, jüngere Generationen waren anders sozialisiert, sodass der Nachwuchs am grünen Kriegsbeteiligungsbeschluss 1999 sich spaltete. Joschka Fischer, inzwischen Elder Statesman für Atombewaffnung, plante seine atlantische Karriere, gründete mit Außenministerin Madeleine Albright »Beratungsunternehmen« im Sicherheitsbereich. Karrierewege junger Menschen öffneten sich gegenüber Konzepten, die »Sicherheit« versprachen, krude Zugänge und Argumentationen lieferten, wie beispielsweise der 2016 an die Universität Potsdam berufene »Militärhistoriker« Sönke Neitzel. Scheinbar unverfänglich lehrt er auch »Kulturgeschichte der Gewalt«; ist es nicht eine Unkultur? Was zuvor »Military Studies« hieß, wird bei ihm »War und Conflict Studies«. Dass der Historiker Neitzel Wissenschaft als Propaganda nutzt, als »Experte« für Militärpolitik und Kriegsführungsfähigkeit auftritt, gehört seit Jahren zum Bestand medialer Expertenrunden. Kritik hat da keinen Platz mehr, sonst droht der Ausschluss.
Bis zur Jahrtausendwende war das noch anders. Der Friedensforscher Dieter S. Lutz, Nachfolger Egon Bahrs am Hamburger Friedensforschungsinstitut, schaffte es noch, der erste Vorsitzende der neuen Stiftung Friedensforschung (DSF) zu werden. Er hatte viel auf sich genommen, um die SPD vom richtigen Weg zu überzeugen, hatte Einfluss nehmen können, die Kriegspolitik der rot-grünen Koalition infrage zu stellen. Sein Tod im Januar 2003 war der Preis dieser rast- und ruhelosen Hingabe dieses Sozialdemokraten Lutz, der die Gründung der Deutschen Stiftung Friedensforschung im Oktober des Jahres 2000 vorantrieb und mitgestaltete.
Frieden müsse gelernt werden, daran glaubte Dieter S. Lutz. Das sei ein längerer Prozess, der viele Schritte verlange. Deshalb müsse man gemeinsam an der Sicherheit in Europa, dem alten und neuen, arbeiten, Europa, so wie Frankreich und Deutschland versöhnen. Eine Friedensordnung sah er angesichts der völkerrechtswidrigen Militäreinsätze von USA, Nato und Verbündeten nicht gegeben. Nach seinem Tod wandelte sich nach und nach die Besetzung der DSF und der Friedensforschungsinstitute. Sie richteten sich deutsch-atlantisch aus, konzeptionell ging Frieden in »Sicherheit« auf, die vornehmlich macht- und geopolitisch und vor allem militärisch zu garantieren sei.
Der geistige und militärische Umbau der Republik begann in den Jahren der Kohl-Regierungen, vor allem nach der Vereinigung beider deutscher Staaten. Der damalige Generalinspekteur Klaus Naumann (1991-96), Vorsitzender des Militärausschusses der Nato (1996-1999), warb anschließend als ehrenamtlicher Vorstand für die Nato-nahe Deutsch-Atlantischen Gesellschaft (über 3000 Mitglieder). Zuvor hatte er mit Verteidigungsminister Volker Rühe (1992-1998) die Bundeswehr umgebaut. Rühe soll damals gesagt haben, dass es mindestens eine Generation dauere, bis der antimilitaristische Effekt aus dem Bewusstsein öffentlichen Denkens zurückgedrängt sei.
Dieser politischen Ideologie, die »Sicherheit« durch Abschreckung und Aufrüstung als »Frieden« für das westliche Bündnis definiert, folgen Hunderttausende Nato-nahe, deutsch-atlantisch-orientierte Mitglieder von Vereinigungen wie der Deutsch-Atlantischen Gesellschaft, dem Reservistenverband, dem Deutschen Bundeswehrverband, der Clausewitz-Gesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik und der Gesellschaft für Sicherheitspolitik, bei denen Professor Sönke Neitzel (»Deutsche Krieger«) unter vielen anderen Einrichtungen Dauergast ist. Darüber hinaus betreiben tausende selbsternannte und ausgebildete Experten und Expertinnen politische Bildungsarbeit für das Nato-Militärbündnis: über Parteienstiftungen und ihre karrierefördernden Verbindungen zu europäisch-deutsch-atlantischen NGO‘s (»Denkfabriken«, die über globale Strategien und Kriege forschen, dafür »Military Studies« auflegen), wie beispielsweise Atlantik-Brücke e. V., American Council on Germany, Atlantische Initiative e. V., Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik – zumeist von der Bundesregierung wesentlich mitfinanziert.
Abschreckung und Aufrüstung zementieren Machtpositionen in liberalen Demokratien, schaffen neue Schnittstellen. Neue Think-Tanks wurden gegründet, wie das European Council on Foreign Relations (2007); dort teilt man sich die »Erforschung« wachsender geostrategischer Aufgaben mit traditionellen Beratungs-Instituten der Regierenden, so etwa mit der Stiftung Wissenschaft und Politik. Ein Ergebnis: Constanze Stelzenmüller erarbeitete (2013) für den German Marshall Fund ein wegweisendes Papier für die spätere Zeitenwende: Deutschland solle als »Neue Macht – Neue Verantwortung« übernehmen. Die federführenden Autoren Constanze Stelzenmüller und Andreas Kaim verlangten von Deutschland die Übernahme von mehr Verantwortung im Umgang mit »Störern der internationalen Ordnung« und plädierten für eine stärkere sicherheitspolitische Handlungsbereitschaft Deutschlands und der EU: »Europa und Deutschland müssen daher Formate für Nato-Operationen entwickeln, bei denen sie weniger auf US-Hilfe angewiesen sind. Das verlangt mehr militärischen Einsatz und mehr politische Führung. Vor allem muss Europa mehr Sicherheitsvorsorge in der eigenen Nachbarschaft betreiben; das ist Europas ureigene Verantwortung. Deutschland muss dazu einen seinem Gewicht angemessenen Beitrag leisten.« Der »verantwortungsbewusste« Bundespräsident a. D. Joachim Gauck stellte das imperiale Konzept auf der 50. Münchner Sicherheitskonferenz Ende Januar 2014 vor und mahnt seitdem unerbittlich um mehr Abschreckung, Aufrüstung und Waffenbrüderschaft sowie um die führende Rolle Deutschlands im Nato-Bündnis.
Lesehinweis: Helmut Donat/Reinhold Lütgemeier-Davin (Hrsg.): Geschichte und Frieden in Deutschland 1870-2020. Eine Würdigung des Werkes von Wolfram Wette, Bremen 2024.