Was irritiert? Der Untertitel der Ausstellung: »Die jungen Jahre der Alten Meister« (bis 5.1.2020). Wohlgemerkt: Hier geht es um deutsche Meister, Maler. Der Kurator der spektakulären Schau in den Hamburger Deichtorhallen, Götz Adriani, versteht darunter heute nicht Albrecht Dürer, Hans Holbein oder Adam Elsheimer, die im 16. und 17. Jahrhundert international bekannte deutsche Künstler waren, weil sie im Ausland arbeiteten und Maßstäbe setzten. Danach gab es für Adriani keine deutschen Meister mehr. Aber jetzt: das »Kunstmirakel deutscher Herkunft«, die Vierergruppe Baselitz – Richter – Polke – Kiefer. Ihre oft übergroßen Bilder kommen in den geräumigen Deichtorhallen besser zur Geltung als in der Staatsgalerie Stuttgart, wo die Ausstellung vorher gezeigt wurde. Dazu werden hier in Hamburg »nicht nur der Tag des Mauerfalls« am 9. November gefeiert, sondern auch dreißig Jahre des Veranstaltungsortes – mit freiem Eintritt »für Besucher*innen, die im Gründungsjahr der Deichtorhallen 1989 geboren sind«.
Im Begleitbuch (Götz Adriani: »Baselitz, Richter, Polke, Kiefer. Die jungen Jahre der Alten Meister«, Sandstein Verlag, 342 Seiten, 48 €) fragt sich der Kurator Adriani gleich auf Seite 13: »Wie konnte die Kunst, anstelle des von Paul Celan beschworenen Todes, zu einem ›Meister aus Deutschland‹ werden?« Er fragt auch drei der Künstler (Sigmar Polke starb schon 2010), woher es komme, das »Interesse an dem Gütezeichen ›Made in Germany‹«, das gepaart sei mit einer »enormen Nachfrage«, die »unvermindert anhält«. Aus dem Tod, der triumphiert, ist die Kunst geworden, die Deutschland wieder reinwäscht, aus dem »Schattendasein« aufs »internationale Parkett« holt. Bis an die »Spitze des globalen Rankings« seien nun die »Künstler-Koryphäen« aufgestiegen. Sie, die ihre Kindheit und Jugend in Kriegs- und Nachkriegszeit erlebten.
Drei von ihnen in der DDR, ausgeliefert der »drittklassigen Ideologie einer kommunistischen Diktatur«. Ihnen blieb nur die Flucht in das Wunderland BRD. Als sie dann »gemeinsam in den Startlöchern standen und die Fundamente für jenes Kunstwunder legten«, das dem bekannten »Fräuleinwunder der Besatzungssoldaten, dem Fußballwunder von Bern und dem Wirtschaftswunder« folgen sollte, hatten sie schon halb gewonnen. Die jungen Jahre, das ist die Anfangszeit im Westen, sind die 1960er Jahre. Den vorherrschenden Stil, die Abstraktion, lehnten sie ab. Sie wollten neue Wege finden. Da kam ihnen, zumindest Polke und Richter, die Pop-Art der USA gerade recht: einfache Praktiken, austauschbar. Jeder Individualismus sollte verschwinden, das Triviale die Leinwand beherrschen. Das im Westen Vorherrschende: die allgegenwärtige Werbung.
Sigmar Polke (1941 geboren) widmete sich der Aufgabe in ironisch-witziger Form. Würstchen als Sujet oder Flamingos als Raumschmuck. Viel Wunschbilder: Palmen am Meer. Als Bildgrund dienten oft Mustertapeten. Wohlfeiler Exotismus fürs Vertiko, in der Nachkriegszeit modern. Polke liebte die Punkte seiner Rasterbilder. Das unspektakuläre, aber bekannteste Bild Polkes: »Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!« von 1969. An Kasimir Malewitschs »Schwarzes Quadrat« von 1915 – vielleicht auch an Hitlers typische Haartolle, rechts oben – wollte er damit erinnern.
Gerhard Richter (geboren 1932) ging einen anderen Weg. Fotos aus Illustrierten oder aus privaten Alben, die er im Gemälde neu entstehen ließ und – wie aus der Erinnerung – verwischte. Kampfflugzeuge der Alliierten, die Schweinfurt bombardierten. Schöne Luftbilder (aus der Quick von 1963).Was die Bomben anrichteten, sieht man nicht. Und auch sonst keine Hintergründe. Die Maler verstehen sich als »unpolitisch«. Gerhard Richter malte Familienbilder: »Onkel Rudi« (1965) in Wehrmachtsuniform, verwischt. Und seine »Tante Marianne« (1965). Sie – so heißt es – war an Schizophrenie erkrankt und fiel der Euthanasie der Nazis »zum Opfer«. Dann das Bild, ganz harmlos »Familie am Meer« (1964) genannt, darauf der Schwiegervater Richters, ein SS-Arzt, der Zwangssterilisierungen veranlasste und am Euthanasie-Programm teilnahm, im vertrauten Kreis. Die drei Bilder sind nicht in der Ausstellung zu sehen, obwohl sie in den jungen Jahren entstanden.
Wie kam es zum Erfolg? Die Tätigkeit von Sammlern spielte eine entscheidende Rolle, anfangs die der deutschen Industriellen Karl Ströher aus Darmstadt und Peter Ludwig aus Aachen. Sie waren »in über 50 Jahren die unerlässlichen Mitinitiatoren eines von Westdeutschland ausgehenden Kunstbooms«. Bald begann der »Siegeszug« der jungen »Alten Meister« durch die wichtigsten US-amerikanischen Museen, die »Meilensteine auf dem Weg zur internationalen Reputation bedeuteten«. Anselm Kiefer machte den Anfang. USA-weite Tourneen brachten den Durchbruch für die vier Künstler. Sie litten – als Nachgeborene – unter der Vergangenheit. Auch unter dem Schweigen, das sie umgab? Ein Bild von Richter, das nichts zeigt als »Zwei Grau nebeneinander« (1966). Er hält es für eine wichtige Farbe, »die ideale Farbe für Meinungslosigkeit, Aussageverweigerung, Schweigen, Hoffnungslosigkeit«.
Georg Baselitz, 1938 in Deutschbaselitz in Sachsen geboren als Hans-Georg Kern. Sein Vater, ein Lehrer, war NSDAP-Mitglied, in der DDR im Gefängnis, später Berufsverbot – das war gesamtdeutsch, nur: aus unterschiedlichen Gründen. Baselitz, der erst nach Ost-, dann nach Westberlin geht, malt schreiende Hässlichkeit, Verstümmelte, Aufgedunsene, alles, was abstößt. Alles das, was den Bürger aufregt: Penisse. Er will provozieren. Und so werden auch zwei Gemälde 1963 aus einer Berliner Galerie beschlagnahmt wegen ihres »pornografischen« und »obszönen Charakters«. Hier hat der Kurator recht, wenn er feststellt, dass »phallische Monstrositäten weit geeigneter« schienen, »die Medien und die Gerichte auf den Plan zu rufen, als jene ominösen Abkömmlinge der Nazidiktatur«. Die Nazis waren »wieder gefragt« und konnten »nach ihrer Proforma-Entnazifizierung meist ungeschoren in ihre Ämter zurückkehren«. Das eine konfiszierte Gemälde »Große Nacht im Eimer« (1962/63) – in Hamburg. Auch die Umkehr-Motive: »Der Wald auf dem Kopf« (1969), das erste Bild dieser Reihe. Natur. Aber was denkt sich Baselitz, wenn er in Rudi Dutschke die »Reinkarnation von Goebbels« sah – der kam doch auch aus der DDR, aber er hatte »völlig gegenteilige Erlebnisse unter der sozialistischen Diktatur«. Von Adriani befragt über den CIA, der 1958 eine Doppel-Ausstellung in Berlin finanzierte – »American Painting und Jackson Pollock« – als Werbemaßnahme im Kampf gegen das kommunistische Lager, erkennt Baselitz: »Der CIA ist eine staatlich tief moralische Institution in den USA. Wenn der Staat stimmt, stimmt natürlich auch der Geheimdienst.«
In Anselm Kiefer, der 1945 geboren wurde, sieht Baselitz einen »jungen Künstler« – sieben Jahre Altersunterschied –, den würde er nicht zur »Altmeistergeneration« rechnen. Auch Kiefers Vater war Lehrer. Kiefer, der als Erster in den USA Erfolg hatte, wird in Deutschland von vielen abgelehnt. Aus Missverständnis oder doch, weil deutsche Kunstkritiker befangen sind, wenn es um das Thema Faschismus geht? Er sagt, für ihn sei Geschichte immer auch seine Wirklichkeit. Seine Aktion der »Besetzungen« – er steht an Orten, die damals von den Deutschen besetzt wurden, in der Wehrmachtsuniform des Vaters. Und: Er hebt den Arm zum Hitlergruß. Es sei ihm nicht um »Provokation« gegangen, sondern um »Selbsterfahrung«, sagt er. Er wollte am eigenen Leib erfahren, was das war und wie ich mich verhalten hätte. »Dieses Projekt reichte er als Examensarbeit an der Hochschule ein. Entsetzen. Nur sein Lehrer Peter Dreher und der Maler Rainer Küchenmeister verstehen und unterstützen ihn. Küchenmeister war im KZ, sein Vater Mitglied der Roten Kapelle. Er wurde ermordet. Ausgerechnet Kiefers Arbeiten werden als Sympathie für faschistisches Gedankengut gesehen und boykottiert. Kiefers »Heroische Sinnbilder« zeigen ihn im grünen Soldatenmantel vor Denkmälern und Landschaften, die er der Nazi-Zeitschrift Die Kunst im Dritten Reich entnahm. Seine »Künstlerbücher« bilden oft die Grundlage für die großen Gemälde, die sich intensiv mit den deutschen Mythen, mit der Verklärung des Germanentums, dem schwärmerischen Patriotismus auseinandersetzen. »Die Hermanns-Schlacht« (1977), ein Stoff, dessen sich deutsche Dichter wie Kleist, Klopstock und Grabbe annahmen. Arminius, Hermann, der Etrusker, der Held der Deutschen – Kiefer setzt ihn in Beziehung zu Literaten, Philosophen, Musikern, Militärs und Waffenproduzenten wie Krupp. Auch Eichmann ist auf dem Bild »Wege« (1977/80). Kiefer arbeitet nicht nur mit Farbe, auch Materialien wie Holz, Stroh, Kohle und Blei geben den Gemälden etwas Lebendiges. Wie aber ist es zu verstehen, wenn der Kurator zu Kiefer abschließend feststellt: »Unbestritten hast Du mit die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Kunst und nicht mehr der von Paul Celan beschworene Tod zu einem ›Meister aus Deutschland‹ werden konnte.«
Am 20. November findet in der Ausstellung eine Sonderveranstaltung in Kooperation mit der Universität Hamburg statt: »Wie politisch waren die Alten Meister?«