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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Liebe und die »dritte Sache«

»Man lernt nur, wenn man liebt.« Die­ser Satz von Fried­rich Schil­ler galt auch und beson­ders für die Arbeits­wei­se von Ber­tolt Brecht, sagt Ruth Ber­lau, sei­ne Mit­ar­bei­te­rin und Gelieb­te, in ihrer Bio­gra­fie »Brechts Lai-tu«. Damit erscheint Brecht gleich in dop­pel­ter Hin­sicht als Dich­ter der Lie­be: Die Lie­be ist Gegen­stand und Quel­le sei­ner Dichtung.

Ruth Ber­lau gehört zu den vier wich­tig­sten Mit­ar­bei­te­rin­nen, neben Ehe­frau Hele­ne Weigel, Eli­sa­beth Haupt­mann und Mar­ga­re­te Stef­fin, ohne die vie­le Wer­ke von Brecht nicht ent­stan­den wären.

In letz­ter Zeit kam häu­fig die Kri­tik auf, Brecht hät­te sei­ne Mit­ar­bei­te­rin­nen aus­ge­nutzt und aus­ge­beu­tet. Dazu Ruth Ber­lau: Brecht arbei­te­te immer und ver­teil­te Auf­ga­ben, und »die Auf­ga­ben waren ja auch so inter­es­sant, dass man sie frei­wil­lig übernahm«.

So hin­ein­ge­zo­gen in den krea­ti­ven Pro­zess haben auch die männ­li­chen Mit­ar­bei­ter Tag und Nacht Brecht zuge­ar­bei­tet: Mate­ri­al gesam­melt, recher­chiert, über­setzt, Manu­skrip­te abge­tippt, Ideen und Ver­bes­se­run­gen ein­ge­bracht etc. Nicht für Geld, son­dern um zu lernen.

Vor­aus­set­zung dafür ist die berühm­te »drit­te Sache«, das gemein­sa­me künst­le­risch-poli­ti­sche, kurz: das kom­mu­ni­sti­sche Ziel, auf das sich die ver­schie­de­nen Künst­ler eini­gen konn­ten. Künst­le­ri­sche Arbeit, Poli­tik und Lie­be bil­den so in Brechts Kol­lek­tiv einen unauf­lös­li­chen Zusammenhang.

Aus Sabi­ne Kebirs Büchern wis­sen wir genau­er, Brecht ver­tritt ein poly­ga­mes Lebens­kon­zept, bei dem sich die Part­ner nicht auf­ge­ben, son­dern ihre Selbst­stän­dig­keit und Auto­no­mie behal­ten sol­len. Ruth Ber­lau ist mit der offe­nen Bezie­hung nicht immer gut klar­ge­kom­men. Es gab auch unschö­ne Ereig­nis­se, die im reich­hal­ti­gen Anhang der Bio­gra­fie doku­men­tiert sind.

Ber­lau zeigt sich als eine sehr eigen­sin­ni­ge, durch­set­zungs­star­ke, manch­mal viel­leicht auch über­re­agie­ren­de Per­son. Als jun­ge Frau in Däne­mark wur­de sie schon bekannt, als sie mit dem Fahr­rad nach Paris und Mos­kau fuhr. Um die­se Rei­sen zu finan­zie­ren, schrieb sie Zei­tungs­ar­ti­kel, häu­fig ver­edelt mit erfun­de­nen Aben­teu­er­ge­schich­ten, um die Erwar­tun­gen der Leser zu erfül­len. Von Sowjet­russ­land war sie so begei­stert, dass sie nach ihrer Rück­kehr der kom­mu­ni­sti­schen Par­tei Däne­marks bei­trat. Alle vier Frau­en waren Kommunistinnen.

Ber­lau lern­te Brecht im August 1933 zu Beginn sei­ner däni­schen Exil­zeit ken­nen und über­nahm sofort Auf­ga­ben. Eine klei­ne Aus­wahl wich­ti­ger Pro­jek­te: 1939 sorgt sie als Ver­le­ge­rin für die Ver­öf­fent­li­chung der »Svend­bor­ger Gedich­te«, nach einer Aus­bil­dung zur Foto­gra­fin doku­men­tiert sie Modell­in­sze­nie­run­gen u. a. der Thea­ter­stücke »Mut­ter Cou­ra­ge« und »Leben des Gali­lei«, schafft mit dem Ablich­ten der Manu­skrip­te die Grund­la­ge des Brecht-Archivs, gibt schließ­lich 1955 im Eulen­spie­gel Ver­lag die bis heu­te lei­der aktu­ell geblie­be­ne »Kriegs­fi­bel« heraus.

Aber ihre wich­tig­ste schrift­stel­le­ri­sche Lei­stung ist mei­nes Erach­tens die­se Bio­gra­fie. Der Her­aus­ge­ber Jan Knopf sieht in einem inter­es­san­ten Bei­trag im Anhang die Bio­gra­fie als ein soge­nann­tes »Bio-Inter­view«, das der sowje­ti­sche Dich­ter Ser­gej Tret­ja­kow Ende der 1920er Jah­ren als neue Form des Erzäh­lens erfand. Weil Ruth Ber­lau kein kor­rek­tes Deutsch konn­te, ließ sie ihre Gesprä­che mit Hans Bun­ge, dem Lei­ter des Brecht-Archivs, auf­zeich­nen und dann von ihm über­set­zen. Frü­her wur­de oft die Kri­tik laut, dass durch Bun­ges Mit­wir­ken die Aus­sa­gen und Inten­tio­nen von Ruth Ber­lau ver­fälscht wür­den. Gegen­ar­gu­ment im Sin­ne eines Bio-Inter­views: Durch Ein­schal­tung der Per­spek­ti­ve eines drit­ten Erzäh­lers gewinnt das Erzäh­len an Objek­ti­vi­tät und Tie­fe. So wird die spe­zi­fisch bear­bei­te­te Bio­gra­fie zu einem dop­pel­bö­di­gen lite­ra­ri­schen Text.

Ruth Ber­lau ist eine viel­sei­ti­ge Per­sön­lich­keit, die sich auf ver­schie­de­nen gesell­schaft­li­chen Hand­lungs­fel­dern bewährt: Als Regis­seu­rin erprobt und erar­bei­tet sie das von Brecht ent­wickel­te epi­sche Thea­ter­spiel, als Ver­le­ge­rin erweist sie sich als erfolg­rei­che Unter­neh­me­rin, als Kämp­fe­rin nimmt sie mit der Waf­fe am Spa­ni­schen Bür­ger­krieg teil, als Netz­wer­ke­rin pflegt sie für Brecht nütz­li­che Kon­tak­te mit dem Atom­phy­si­ker Niels Bohr oder dem schwe­di­schen Diplo­ma­ten Georg Bran­ting, der Brecht und sei­ner Fami­lie die Aus­rei­se nach Schwe­den ermöglicht.

Mit die­sem Pfund an gesell­schaft­li­cher Pra­xis in der Hin­ter­hand kann sie sich auch gegen Brechts Ver­su­che, sie lite­ra­risch zu ver­ein­nah­men, zur Wehr set­zen. In den »Me-ti-Geschich­ten« lässt Brecht sie in der Figur der Lai-tu auf­tre­ten. In der ersten Geschich­te aus dem Jahr 1937 geht es ums Feu­er­ma­chen. Dabei kri­ti­siert Me-ti, dass Lai-tu wie eine Skla­vin Feu­er anfacht, der es vor­nehm­lich um die Erfül­lung des Hand­lungs­zie­les Anfeu­ern geht, ohne Wert auf die ein­zel­nen Hand­lungs­schrit­te zu legen.

Die­se Geschich­te hat einen rea­len Hin­ter­grund. Ber­lau: »Das war die Höhe! Ich hat­te gegen die Käl­te und das Eis gekämpft und woll­te das Zim­mer schnell warm haben und den Tee auf­brü­hen, und ich war ver­zwei­felt, dass alles nicht schnell genug ging. Und er (Brecht) hat mei­ne Arbeit als ‚Skla­ve­rei‘ emp­fun­den! Ich hät­te ihn durch mei­ne Arbeit als ‚Aus­beu­ter‘ qua­li­fi­ziert. Natür­lich nahm er nicht mich, son­dern sich in Schutz. Ich muss zuge­ben, dass ich über die­se erste Lai-tu-Geschich­te nicht gera­de begei­stert bin.«

Nicht gera­de begei­stert – Ber­lau drückt sich häu­fig in sol­chen Nega­tio­nen aus, ähn­lich 1941 bei der Ein­rei­se in die USA, als sie gefragt wur­de, ob sie Mit­glied der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei sei: »Die gan­ze Wahr­heit konn­te ich natür­lich nicht sagen.«

Die Bio­gra­fie kann als Rich­tig­stel­lung und Wider­le­gung die­ser Lai-tu-Geschich­te gele­sen wer­den. Ber­lau stellt jeden Moment ihres Lebens in sei­ner rela­ti­ven Wahr­heit und Schön­heit, aber auch in sei­ner zum näch­sten Moment über­lei­ten­den Unvoll­kom­men­heit dar. Bei­spiel: 1937 insze­nier­te sie »als sei ich der Teu­fel selbst« ihr gemein­sam mit Brecht geschrie­be­nes Thea­ter­stück »Alle wis­sen alles«, doch kurz vor der Pre­mie­re ver­lor sie das Inter­es­se an dem Stück und setz­te es kur­zer­hand ab: »Die Kata­stro­phe habe ich schnell ver­ges­sen. Nicht ver­ges­sen habe ich aber, was ich beim Schrei­ben und Insze­nie­ren gelernt habe.«

Ruth Ber­lau zeigt damit: Nicht das Ziel, nicht die Auf­füh­rung war wich­tig, son­dern der Weg dahin, die dabei erwor­be­nen Fähig­kei­ten. Jeder Moment ihres Lebens hat sei­ne beson­de­re Bedeu­tung als Schritt hin zur Ver­wirk­li­chung der drit­ten Sache. In die­ser stark erwei­ter­ten Neu­aus­ga­be der 1985 erst­mals erschie­nen Bio­gra­fie kann der Leser kon­kret teil­ha­ben an dem Leben einer außer­ge­wöhn­li­chen Künst­le­rin des 20. Jahrhunderts.

Brechts Lai-tu, erzählt von Ruth Ber­lau, auf­ge­schrie­ben von Hans Bun­ge, her­aus­ge­ge­ben von Jan Knopf. Eulen­spie­gel Ver­lag, 384 S., 24 €.