»Man lernt nur, wenn man liebt.« Dieser Satz von Friedrich Schiller galt auch und besonders für die Arbeitsweise von Bertolt Brecht, sagt Ruth Berlau, seine Mitarbeiterin und Geliebte, in ihrer Biografie »Brechts Lai-tu«. Damit erscheint Brecht gleich in doppelter Hinsicht als Dichter der Liebe: Die Liebe ist Gegenstand und Quelle seiner Dichtung.
Ruth Berlau gehört zu den vier wichtigsten Mitarbeiterinnen, neben Ehefrau Helene Weigel, Elisabeth Hauptmann und Margarete Steffin, ohne die viele Werke von Brecht nicht entstanden wären.
In letzter Zeit kam häufig die Kritik auf, Brecht hätte seine Mitarbeiterinnen ausgenutzt und ausgebeutet. Dazu Ruth Berlau: Brecht arbeitete immer und verteilte Aufgaben, und »die Aufgaben waren ja auch so interessant, dass man sie freiwillig übernahm«.
So hineingezogen in den kreativen Prozess haben auch die männlichen Mitarbeiter Tag und Nacht Brecht zugearbeitet: Material gesammelt, recherchiert, übersetzt, Manuskripte abgetippt, Ideen und Verbesserungen eingebracht etc. Nicht für Geld, sondern um zu lernen.
Voraussetzung dafür ist die berühmte »dritte Sache«, das gemeinsame künstlerisch-politische, kurz: das kommunistische Ziel, auf das sich die verschiedenen Künstler einigen konnten. Künstlerische Arbeit, Politik und Liebe bilden so in Brechts Kollektiv einen unauflöslichen Zusammenhang.
Aus Sabine Kebirs Büchern wissen wir genauer, Brecht vertritt ein polygames Lebenskonzept, bei dem sich die Partner nicht aufgeben, sondern ihre Selbstständigkeit und Autonomie behalten sollen. Ruth Berlau ist mit der offenen Beziehung nicht immer gut klargekommen. Es gab auch unschöne Ereignisse, die im reichhaltigen Anhang der Biografie dokumentiert sind.
Berlau zeigt sich als eine sehr eigensinnige, durchsetzungsstarke, manchmal vielleicht auch überreagierende Person. Als junge Frau in Dänemark wurde sie schon bekannt, als sie mit dem Fahrrad nach Paris und Moskau fuhr. Um diese Reisen zu finanzieren, schrieb sie Zeitungsartikel, häufig veredelt mit erfundenen Abenteuergeschichten, um die Erwartungen der Leser zu erfüllen. Von Sowjetrussland war sie so begeistert, dass sie nach ihrer Rückkehr der kommunistischen Partei Dänemarks beitrat. Alle vier Frauen waren Kommunistinnen.
Berlau lernte Brecht im August 1933 zu Beginn seiner dänischen Exilzeit kennen und übernahm sofort Aufgaben. Eine kleine Auswahl wichtiger Projekte: 1939 sorgt sie als Verlegerin für die Veröffentlichung der »Svendborger Gedichte«, nach einer Ausbildung zur Fotografin dokumentiert sie Modellinszenierungen u. a. der Theaterstücke »Mutter Courage« und »Leben des Galilei«, schafft mit dem Ablichten der Manuskripte die Grundlage des Brecht-Archivs, gibt schließlich 1955 im Eulenspiegel Verlag die bis heute leider aktuell gebliebene »Kriegsfibel« heraus.
Aber ihre wichtigste schriftstellerische Leistung ist meines Erachtens diese Biografie. Der Herausgeber Jan Knopf sieht in einem interessanten Beitrag im Anhang die Biografie als ein sogenanntes »Bio-Interview«, das der sowjetische Dichter Sergej Tretjakow Ende der 1920er Jahren als neue Form des Erzählens erfand. Weil Ruth Berlau kein korrektes Deutsch konnte, ließ sie ihre Gespräche mit Hans Bunge, dem Leiter des Brecht-Archivs, aufzeichnen und dann von ihm übersetzen. Früher wurde oft die Kritik laut, dass durch Bunges Mitwirken die Aussagen und Intentionen von Ruth Berlau verfälscht würden. Gegenargument im Sinne eines Bio-Interviews: Durch Einschaltung der Perspektive eines dritten Erzählers gewinnt das Erzählen an Objektivität und Tiefe. So wird die spezifisch bearbeitete Biografie zu einem doppelbödigen literarischen Text.
Ruth Berlau ist eine vielseitige Persönlichkeit, die sich auf verschiedenen gesellschaftlichen Handlungsfeldern bewährt: Als Regisseurin erprobt und erarbeitet sie das von Brecht entwickelte epische Theaterspiel, als Verlegerin erweist sie sich als erfolgreiche Unternehmerin, als Kämpferin nimmt sie mit der Waffe am Spanischen Bürgerkrieg teil, als Netzwerkerin pflegt sie für Brecht nützliche Kontakte mit dem Atomphysiker Niels Bohr oder dem schwedischen Diplomaten Georg Branting, der Brecht und seiner Familie die Ausreise nach Schweden ermöglicht.
Mit diesem Pfund an gesellschaftlicher Praxis in der Hinterhand kann sie sich auch gegen Brechts Versuche, sie literarisch zu vereinnahmen, zur Wehr setzen. In den »Me-ti-Geschichten« lässt Brecht sie in der Figur der Lai-tu auftreten. In der ersten Geschichte aus dem Jahr 1937 geht es ums Feuermachen. Dabei kritisiert Me-ti, dass Lai-tu wie eine Sklavin Feuer anfacht, der es vornehmlich um die Erfüllung des Handlungszieles Anfeuern geht, ohne Wert auf die einzelnen Handlungsschritte zu legen.
Diese Geschichte hat einen realen Hintergrund. Berlau: »Das war die Höhe! Ich hatte gegen die Kälte und das Eis gekämpft und wollte das Zimmer schnell warm haben und den Tee aufbrühen, und ich war verzweifelt, dass alles nicht schnell genug ging. Und er (Brecht) hat meine Arbeit als ‚Sklaverei‘ empfunden! Ich hätte ihn durch meine Arbeit als ‚Ausbeuter‘ qualifiziert. Natürlich nahm er nicht mich, sondern sich in Schutz. Ich muss zugeben, dass ich über diese erste Lai-tu-Geschichte nicht gerade begeistert bin.«
Nicht gerade begeistert – Berlau drückt sich häufig in solchen Negationen aus, ähnlich 1941 bei der Einreise in die USA, als sie gefragt wurde, ob sie Mitglied der Kommunistischen Partei sei: »Die ganze Wahrheit konnte ich natürlich nicht sagen.«
Die Biografie kann als Richtigstellung und Widerlegung dieser Lai-tu-Geschichte gelesen werden. Berlau stellt jeden Moment ihres Lebens in seiner relativen Wahrheit und Schönheit, aber auch in seiner zum nächsten Moment überleitenden Unvollkommenheit dar. Beispiel: 1937 inszenierte sie »als sei ich der Teufel selbst« ihr gemeinsam mit Brecht geschriebenes Theaterstück »Alle wissen alles«, doch kurz vor der Premiere verlor sie das Interesse an dem Stück und setzte es kurzerhand ab: »Die Katastrophe habe ich schnell vergessen. Nicht vergessen habe ich aber, was ich beim Schreiben und Inszenieren gelernt habe.«
Ruth Berlau zeigt damit: Nicht das Ziel, nicht die Aufführung war wichtig, sondern der Weg dahin, die dabei erworbenen Fähigkeiten. Jeder Moment ihres Lebens hat seine besondere Bedeutung als Schritt hin zur Verwirklichung der dritten Sache. In dieser stark erweiterten Neuausgabe der 1985 erstmals erschienen Biografie kann der Leser konkret teilhaben an dem Leben einer außergewöhnlichen Künstlerin des 20. Jahrhunderts.
Brechts Lai-tu, erzählt von Ruth Berlau, aufgeschrieben von Hans Bunge, herausgegeben von Jan Knopf. Eulenspiegel Verlag, 384 S., 24 €.