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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die langen Beine der Lügen

2014 war es, als der IT-Spe­zia­list And­re Wolf auf Face­book das zor­ni­ge Posting einer jun­gen Mut­ter las: »War­nung. Direkt vor dem Kin­der­gar­ten steht ein mit Män­nern besetz­ter wei­ßer Lie­fer­wa­gen, rumä­ni­sches Kenn­zei­chen. Die Klei­nen nähern sich ver­trau­ens­se­lig dem nur hüft­ho­hen Zaun, ohne dass eine Betreue­rin ein­schrei­tet, geschwei­ge denn in Sicht ist.« Ent­rü­ste­te Kom­men­ta­re folg­ten: »Nicht aus­zu­den­ken, was da hät­te pas­sie­ren kön­nen.« – »Wenn es um Kin­der geht, sofort die Poli­zei rufen.« – »Die Poli­zei ist doch macht­los. Mein Cou­sin ist bei der Poli­zei. Der kann ein Lied davon sin­gen. Es wird alles immer schlim­mer.« – »Als Frau traue ich mich sowie­so kaum noch aus dem Haus.«

Wolf begann, den Sach­ver­halt in Inter­net­fo­ren zu über­prü­fen, und fand her­aus: Nicht nur an sei­nem Wohn­ort hat­te angeb­lich eine ver­such­te Kin­des­ent­füh­rung mit Hil­fe eines wei­ßen Lie­fer­wa­gens aus Rumä­ni­en statt­ge­fun­den, son­dern in unzäh­li­gen ande­ren Orten. Die Anga­ben waren teil­wei­se ganz kon­kret: »Ach­tung!!! Ach­tung!!! Lie­be Kol­le­gen und Freun­de, in der Umge­bung Essen und Duis­burg wer­den Kin­der von der Organ-Mafia ent­führt.« Die Nach­for­schun­gen erga­ben recht schnell, »dass die­se gesam­te Geschich­te nichts ande­res als ein Schau­er­mär­chen sein konn­te, wel­ches von Ort zu Ort wei­ter­erzählt wur­de«. Und über­all gab es die glei­chen Reak­tio­nen: »Eltern waren ver­un­si­chert, schimpf­ten über Schu­len, Erzie­her oder die Polizei.«

Nach und nach wur­de Wolf klar, dass Falsch­mel­dun­gen wie die­se »einen hand­fe­sten poli­ti­schen Kern« haben, dass mit ihnen »Grund­angst und Miss­trau­en ein­ge­pflanzt« wer­den. »Lei­der bemer­ken vie­le Men­schen nicht, was (durch die­se Mani­pu­la­ti­on) mit ihnen pas­siert. Bis es zu spät ist. Bis Angst und Miss­trau­en zu ihrer Grund­hal­tung gewor­den sind, die eine gewal­ti­ge Hür­de in der Kom­mu­ni­ka­ti­on bil­det. Ratio­na­le Argu­men­te kön­nen die­se Hür­de kaum noch überwinden.«

And­re Wolf befasst sich seit 2014 im Ver­ein zur Auf­klä­rung über Inter­net­miss­brauch, Wien, mit Fake News, Ver­schwö­rungs­my­then und rechts­extre­men Ten­den­zen. Der Ver­ein nennt sich kurz »Mimi­ka­ma«, was ein Kunst­wort ist, das 2011 durch eine feh­ler­haf­te Über­set­zung des Goog­le Trans­la­tors aus »I Like« ent­stan­den sein soll und kei­ne inhalt­li­che Bedeu­tung hat. Dem Grün­der des Ver­eins ging es ursprüng­lich dar­um, Men­schen vor Fal­len auf Face­book zu bewah­ren.

Im Zuge sei­ner Arbeit hat Wolf »den anfangs schlei­chen­den, mitt­ler­wei­le recht lau­ten Angriff auf unse­re demo­kra­ti­schen Wer­te mit­ver­folgt«: »Da wer­den Men­schen zum Schwei­gen gebracht. Da wer­den mit­hil­fe von Lügen gan­ze Grup­pen von Men­schen zum Feind­bild dekla­riert und ange­grif­fen.« Mitt­ler­wei­le sieht Wolf unse­re »plu­ra­li­sti­sche und offe­ne Gesell­schaft in Gefahr, wenn Rechts­extre­me über die Social Media ganz unver­hoh­len ihre Umsturz­plä­ne pro­pa­gie­ren«. Kon­se­quen­ter­wei­se behielt er sein Wis­sen und sei­ne Erfah­rung nicht für sich, son­dern schrieb ein Buch mit dem Titel »Angriff auf die Demo­kra­tie«, das Anfang März erschie­nen ist. Ins Visier der Rechts­extre­men gera­ten laut Wolf Flüch­ten­de, Jour­na­li­sten, Umwelt­schüt­zer, Lin­ke, Gemä­ßig­te, Huma­ni­sten, unab­hän­gi­ge jun­ge Frau­en, Homo­se­xu­el­le, über­haupt alle, die nicht in »klas­si­sche« Fami­li­en­struk­tu­ren und Geschlech­ter­rol­len passen.

War­um eig­nen sich die Social Media beson­ders für den Angriff auf die Demo­kra­tie? Das liegt zum einen an der Mas­sen­taug­lich­keit und der flä­chen­decken­den Ver­füg­bar­keit des Medi­ums Inter­net mit sei­nen Sozia­len Platt­for­men, Mes­sen­gers, Web­logs, Foren und Com­mu­ni­tys. Im Gegen­satz zu den tra­di­tio­nel­len Kom­mu­ni­ka­ti­ons­me­di­en Buch und Zei­tung, Film, Radio und Fern­se­hen sind hier die Nut­zer Sen­der und Emp­fän­ger zugleich, mit lid­schlag­schnel­ler welt­wei­ter Reso­nanz. Zum ande­ren ent­wickeln sich Falsch­mel­dun­gen zu Geschich­ten, vor allem, wenn sie sich gut wei­ter­erzäh­len und mit bedeu­tungs­schwan­ge­re­ren Wor­ten und Sät­zen sowie sinn­stif­ten­den Emo­tio­nen auf­la­den las­sen. Lügen in den Sozia­len Medi­en hat­ten noch nie kur­ze Bei­ne. Es ist schon para­dox: Kein Medi­um ist wei­ter vom Buch ent­fernt als das Inter­net, den­noch wird den Falsch­mel­dun­gen häu­fig so pro­fes­sio­nell ein Schein von Wahr­heit bei­gege­ben, dass der User ihnen ver­traut wie einst dem gedruck­ten Wort. »Sie lügen wie gedruckt«, heißt die pas­sen­de Redewendung.

In einem wei­te­ren Kapi­tel behan­delt Wolf die »Eska­la­ti­ons­stu­fen des anhal­ten­den Angriffs auf die Demo­kra­tie«. Seit der Krim­kri­se im Jah­re 2014 beob­ach­te­te er eine Zunah­me der poli­ti­schen Inhal­te. In die­sem Zeit­raum ent­deck­ten rechts­extre­me euro­päi­sche Par­tei­en das Inter­net als Akti­ons­raum. Der näch­ste Schub erfolg­te 2015/​16, als vie­le Flüch­ten­de nach Euro­pa dräng­ten und in Deutsch­land und Öster­reich sogleich das bevor­zug­te Sujet für die Feind­bil­der und Falsch­mel­dun­gen wur­den. Abge­löst wur­de die­ses Motiv ab 2017 durch die Isla­mo­pho­bie. 2019 kam Gre­ta Thun­berg hin­zu, stell­ver­tre­tend für die gan­ze Umweltschutzbewegung.

Wolf ver­weist dar­auf, dass Mythen »ihren Teil dazu bei­tra­gen kön­nen, dass Men­schen durch­dre­hen«: wie 2019 der Atten­tä­ter von Hal­le, der die ört­li­che Syn­ago­ge stür­men woll­te; wie der Schwer­be­waff­ne­te, der 2016 in eine Filia­le einer Piz­ze­ria-Ket­te in Washing­ton ein­drang, weil er der Falsch­mel­dung geglaubt hat­te, von dort ope­rie­re ein Kin­der­por­no­ring, in den Hil­la­ry Clin­ton und ande­re hoch­ran­gi­ge Demo­kra­ten ver­wickelt sei­en. 2020 kam die Coro­na-Pan­de­mie, in der die Rechts­extre­men die all­ge­mei­nen Angst­the­men auf­grif­fen. Auf Ver­an­stal­tun­gen und Demon­stra­tio­nen soge­nann­ter Quer­den­ker sind seit­dem Schul­ter­schlüs­se unter­schied­li­cher Grup­pen zu beob­ach­ten. Wolf: »In die­sem gemein­sa­men Pro­test gegen die Coro­na-Maß­nah­men fin­det ein Radi­ka­li­sie­rungs­pro­zess statt, der auch durch Falsch­mel­dun­gen und Mythen ange­sto­ßen und wei­ter befeu­ert wird.«

Was tun? Wolf: »Wenn wir nicht ein­grei­fen, wer­den die Social Media zu einem Bio­top des Has­ses ver­kom­men. Die dort orga­ni­sier­ten Angrif­fe auf die Demo­kra­tie wer­den immer erfolg­rei­cher wer­den. Wenn Social-Media-Platt­for­men ihre Kon­troll­pflich­ten ver­nach­läs­si­gen, soll­te der Staat mit Sank­tio­nen ein­grei­fen. Ein unab­hän­gi­ges Social-Media-Infor­ma­ti­ons­zen­trum könn­te die Rol­le einer Schieds­in­stanz über­neh­men.« Der Staat müs­se aktiv werden.

In die glei­che Ker­be schlug in der ver­gan­ge­nen Woche der ehe­ma­li­ge Ham­bur­ger Bür­ger­mei­ster Klaus von Dohn­anyi, als er im Hin­blick auf die Pan­de­mie und ihre Kri­ti­ker »mehr Ehr­lich­keit, mehr Fan­ta­sie und mehr Mut« in der poli­ti­schen Debat­te ein­for­der­te. Nach sei­nen Wor­ten soll­ten die Regie­run­gen deut­li­cher gegen­hal­ten: »Nie­mand kann die Ent­wick­lung des Virus vor­aus­sa­gen, also ist die For­de­rung nach einem ›ver­läss­li­chen Plan›‹ Unsinn. War­um sagt man das nicht? Oder: Die Wirt­schaft, die Gast­wirt­schaft, der Ein­zel­han­del lei­den. War­um sagt die Poli­tik nicht deut­li­cher, dass Coro­na-Leug­ner und Haus­par­tys die Wirt­schaft zerstören?«

And­re Wolf: »Angriff auf die Demo­kra­tie – Wie Rechts­extre­mi­sten die Sozia­len Medi­en unter­wan­dern«, edi­ti­on a, Wien; 200 Sei­ten, 22 €. – Mimi­ka­ma: www.mimikama.at.