2014 war es, als der IT-Spezialist Andre Wolf auf Facebook das zornige Posting einer jungen Mutter las: »Warnung. Direkt vor dem Kindergarten steht ein mit Männern besetzter weißer Lieferwagen, rumänisches Kennzeichen. Die Kleinen nähern sich vertrauensselig dem nur hüfthohen Zaun, ohne dass eine Betreuerin einschreitet, geschweige denn in Sicht ist.« Entrüstete Kommentare folgten: »Nicht auszudenken, was da hätte passieren können.« – »Wenn es um Kinder geht, sofort die Polizei rufen.« – »Die Polizei ist doch machtlos. Mein Cousin ist bei der Polizei. Der kann ein Lied davon singen. Es wird alles immer schlimmer.« – »Als Frau traue ich mich sowieso kaum noch aus dem Haus.«
Wolf begann, den Sachverhalt in Internetforen zu überprüfen, und fand heraus: Nicht nur an seinem Wohnort hatte angeblich eine versuchte Kindesentführung mit Hilfe eines weißen Lieferwagens aus Rumänien stattgefunden, sondern in unzähligen anderen Orten. Die Angaben waren teilweise ganz konkret: »Achtung!!! Achtung!!! Liebe Kollegen und Freunde, in der Umgebung Essen und Duisburg werden Kinder von der Organ-Mafia entführt.« Die Nachforschungen ergaben recht schnell, »dass diese gesamte Geschichte nichts anderes als ein Schauermärchen sein konnte, welches von Ort zu Ort weitererzählt wurde«. Und überall gab es die gleichen Reaktionen: »Eltern waren verunsichert, schimpften über Schulen, Erzieher oder die Polizei.«
Nach und nach wurde Wolf klar, dass Falschmeldungen wie diese »einen handfesten politischen Kern« haben, dass mit ihnen »Grundangst und Misstrauen eingepflanzt« werden. »Leider bemerken viele Menschen nicht, was (durch diese Manipulation) mit ihnen passiert. Bis es zu spät ist. Bis Angst und Misstrauen zu ihrer Grundhaltung geworden sind, die eine gewaltige Hürde in der Kommunikation bildet. Rationale Argumente können diese Hürde kaum noch überwinden.«
Andre Wolf befasst sich seit 2014 im Verein zur Aufklärung über Internetmissbrauch, Wien, mit Fake News, Verschwörungsmythen und rechtsextremen Tendenzen. Der Verein nennt sich kurz »Mimikama«, was ein Kunstwort ist, das 2011 durch eine fehlerhafte Übersetzung des Google Translators aus »I Like« entstanden sein soll und keine inhaltliche Bedeutung hat. Dem Gründer des Vereins ging es ursprünglich darum, Menschen vor Fallen auf Facebook zu bewahren.
Im Zuge seiner Arbeit hat Wolf »den anfangs schleichenden, mittlerweile recht lauten Angriff auf unsere demokratischen Werte mitverfolgt«: »Da werden Menschen zum Schweigen gebracht. Da werden mithilfe von Lügen ganze Gruppen von Menschen zum Feindbild deklariert und angegriffen.« Mittlerweile sieht Wolf unsere »pluralistische und offene Gesellschaft in Gefahr, wenn Rechtsextreme über die Social Media ganz unverhohlen ihre Umsturzpläne propagieren«. Konsequenterweise behielt er sein Wissen und seine Erfahrung nicht für sich, sondern schrieb ein Buch mit dem Titel »Angriff auf die Demokratie«, das Anfang März erschienen ist. Ins Visier der Rechtsextremen geraten laut Wolf Flüchtende, Journalisten, Umweltschützer, Linke, Gemäßigte, Humanisten, unabhängige junge Frauen, Homosexuelle, überhaupt alle, die nicht in »klassische« Familienstrukturen und Geschlechterrollen passen.
Warum eignen sich die Social Media besonders für den Angriff auf die Demokratie? Das liegt zum einen an der Massentauglichkeit und der flächendeckenden Verfügbarkeit des Mediums Internet mit seinen Sozialen Plattformen, Messengers, Weblogs, Foren und Communitys. Im Gegensatz zu den traditionellen Kommunikationsmedien Buch und Zeitung, Film, Radio und Fernsehen sind hier die Nutzer Sender und Empfänger zugleich, mit lidschlagschneller weltweiter Resonanz. Zum anderen entwickeln sich Falschmeldungen zu Geschichten, vor allem, wenn sie sich gut weitererzählen und mit bedeutungsschwangereren Worten und Sätzen sowie sinnstiftenden Emotionen aufladen lassen. Lügen in den Sozialen Medien hatten noch nie kurze Beine. Es ist schon paradox: Kein Medium ist weiter vom Buch entfernt als das Internet, dennoch wird den Falschmeldungen häufig so professionell ein Schein von Wahrheit beigegeben, dass der User ihnen vertraut wie einst dem gedruckten Wort. »Sie lügen wie gedruckt«, heißt die passende Redewendung.
In einem weiteren Kapitel behandelt Wolf die »Eskalationsstufen des anhaltenden Angriffs auf die Demokratie«. Seit der Krimkrise im Jahre 2014 beobachtete er eine Zunahme der politischen Inhalte. In diesem Zeitraum entdeckten rechtsextreme europäische Parteien das Internet als Aktionsraum. Der nächste Schub erfolgte 2015/16, als viele Flüchtende nach Europa drängten und in Deutschland und Österreich sogleich das bevorzugte Sujet für die Feindbilder und Falschmeldungen wurden. Abgelöst wurde dieses Motiv ab 2017 durch die Islamophobie. 2019 kam Greta Thunberg hinzu, stellvertretend für die ganze Umweltschutzbewegung.
Wolf verweist darauf, dass Mythen »ihren Teil dazu beitragen können, dass Menschen durchdrehen«: wie 2019 der Attentäter von Halle, der die örtliche Synagoge stürmen wollte; wie der Schwerbewaffnete, der 2016 in eine Filiale einer Pizzeria-Kette in Washington eindrang, weil er der Falschmeldung geglaubt hatte, von dort operiere ein Kinderpornoring, in den Hillary Clinton und andere hochrangige Demokraten verwickelt seien. 2020 kam die Corona-Pandemie, in der die Rechtsextremen die allgemeinen Angstthemen aufgriffen. Auf Veranstaltungen und Demonstrationen sogenannter Querdenker sind seitdem Schulterschlüsse unterschiedlicher Gruppen zu beobachten. Wolf: »In diesem gemeinsamen Protest gegen die Corona-Maßnahmen findet ein Radikalisierungsprozess statt, der auch durch Falschmeldungen und Mythen angestoßen und weiter befeuert wird.«
Was tun? Wolf: »Wenn wir nicht eingreifen, werden die Social Media zu einem Biotop des Hasses verkommen. Die dort organisierten Angriffe auf die Demokratie werden immer erfolgreicher werden. Wenn Social-Media-Plattformen ihre Kontrollpflichten vernachlässigen, sollte der Staat mit Sanktionen eingreifen. Ein unabhängiges Social-Media-Informationszentrum könnte die Rolle einer Schiedsinstanz übernehmen.« Der Staat müsse aktiv werden.
In die gleiche Kerbe schlug in der vergangenen Woche der ehemalige Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi, als er im Hinblick auf die Pandemie und ihre Kritiker »mehr Ehrlichkeit, mehr Fantasie und mehr Mut« in der politischen Debatte einforderte. Nach seinen Worten sollten die Regierungen deutlicher gegenhalten: »Niemand kann die Entwicklung des Virus voraussagen, also ist die Forderung nach einem ›verlässlichen Plan›‹ Unsinn. Warum sagt man das nicht? Oder: Die Wirtschaft, die Gastwirtschaft, der Einzelhandel leiden. Warum sagt die Politik nicht deutlicher, dass Corona-Leugner und Hauspartys die Wirtschaft zerstören?«
Andre Wolf: »Angriff auf die Demokratie – Wie Rechtsextremisten die Sozialen Medien unterwandern«, edition a, Wien; 200 Seiten, 22 €. – Mimikama: www.mimikama.at.