Nach der Zukunft gefragt haben schon viele, Nietzsches Meinung nach zu viele. Meist ging es dabei um Muster der Vergangenheit, die fortgeschrieben und so zu Prognosen wurden. Annette Kehnel, Professorin für mittelalterliche Geschichte in Mannheim, tut in ihrem Buch »Wir konnten auch anders« etwas Anderes. Sie liest vormoderne Phänomene als Alternativen, von denen wir lernen können. Zurück ins Mittelalter? Nein, aber raus aus der Spur eines sich absolut setzenden und dabei selbst zerstörenden Kapitalismus. Überzeugend ist die Argumentation unter anderem, weil die letzten zwei Jahrhunderte das historische Gedächtnis des Westens großenteils gelöscht haben. Das Mittelalter, so Kehnel, war anders als sein Ruf.
Für die Menschen der Vormoderne waren Dinge normal wie Selbstorganisation, Generationengerechtigkeit und der Beitrag starker, gleichberechtigter Frauen. Gendergerechte Sprache findet sich flächendeckend in den überlieferten Zunftordnungen (»es sei manne oder frauwe«). Manchmal braucht es den zweiten Blick, dann waren die Ablässe Instrumente von Crowdfunding, bedeuteten die erhofften Gebete von Nachfahren deren Einverständnis damit, wie man sein Leben lebte. Dass der Bodensee nicht überfischt wurde, beruhte sechshundert Jahre lang auf freien Übereinkünften von Fischern darüber, wie eng die Maschen ihrer Netze sein durften. Jungfische blieben übrig und konnten sich weitervermehren. Erst der kapitalisierte Privatbesitz an den Ufersäumen zu Anfang des 19. Jahrhunderts beendete die Erfolgsgeschichte.
Wie kooperiert wurde, zeigt Kehnel unter anderem am Beispiel der Benediktinerklöster. Besitzlosigkeit des und der Einzelnen verband sich mit dem wirtschaftlichen Erfolg und entsprechendem Reichtum des Klosters. »Teilen war der Schlüssel zum Erfolg des Homo sapiens«, zieht die Autorin ihre Summe. Minimalismus, die Konzentration aufs Wesentliche, war eine Massenbewegung schon bei den altgriechischen Kynikern. Dem berühmtesten von ihnen, Diogenes von Sinope, war Reichtum nur »die Kotze des Glücks«. Franz von Assisi und die von ihm initiierte Armutsbewegung beeinflussten Gesellschaften nicht nur Europas, sondern auch des Orients. Franziskanische Gelehrte entwickelten Wirtschaftstheorien, die über Preisbildung und den Charakter des Geldes fast alles enthalten, was bis ins 20. Jahrhundert galt. Im Hochmittelalter entstanden Mikrokreditbanken, bei denen zum Beispiel ein Kleinbauer im Frühjahr seinen Mantel verpfänden und ihn mit dem so finanzierten Ertrag im Herbst wieder auslösen konnte. Die italienischen Großstädte verpflichteten ihre Banker, ehrenamtlich die »Monti di Pietà« (frommen Geldberge) zu verwalten. Das vielleicht Überraschendste: Die Banker scheinen mitgemacht zu haben.
Die letztgenannten Beispiele zeigen Reaktionen auf die so genannte kommerzielle Revolution, in der sich das Kapitaldenken schon seit dem 11. Jahrhundert herausbildet. Neben reichen Gewinnern gab es von Anfang an massenhaft Verlierer, die Hilfe brauchten – und fanden. Insofern bezeugen Kehnels Studien, wie flexibel man im Mittelalter auf Veränderungen der Großstruktur reagierte. Eben da sieht die Autorin heute ein Defizit. Obwohl sich die Schadensbilanz des Kapitalismus immer monströser zeigt, gelingt ihm kaum echte Veränderung. Nach den Gründen dafür hätte das Buch etwas bohrender fragen können. Eine so extreme Konzentration des Vermögens wie heute gab es historisch noch nie. Und ihre Entstehung kündigt sich bereits an in den Benediktinerklöstern, die zu Großgrundbesitzern wurden, in einem imperialen Papsttum seit dem 13. Jahrhundert, das sich zeitweise besonders auf die Bettelorden und »Reformklöster« stützte. Der Hebel der Veränderung muss also länger werden, als er in diesem Buch erscheint. Dass und wie heilsamer Wandel möglich ist, belegt aber niemand klarer als Annette Kehnel. Und das auch noch in einem genussreichen Schmöker.
Annette Kehnel: Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit, 488 S., zahlreiche Abbildungen, Blessing Verlag 2021, 24 €.