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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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»Die Kotze des Glücks«

Nach der Zukunft gefragt haben schon vie­le, Nietz­sches Mei­nung nach zu vie­le. Meist ging es dabei um Muster der Ver­gan­gen­heit, die fort­ge­schrie­ben und so zu Pro­gno­sen wur­den. Annet­te Keh­nel, Pro­fes­so­rin für mit­tel­al­ter­li­che Geschich­te in Mann­heim, tut in ihrem Buch »Wir konn­ten auch anders« etwas Ande­res. Sie liest vor­mo­der­ne Phä­no­me­ne als Alter­na­ti­ven, von denen wir ler­nen kön­nen. Zurück ins Mit­tel­al­ter? Nein, aber raus aus der Spur eines sich abso­lut set­zen­den und dabei selbst zer­stö­ren­den Kapi­ta­lis­mus. Über­zeu­gend ist die Argu­men­ta­ti­on unter ande­rem, weil die letz­ten zwei Jahr­hun­der­te das histo­ri­sche Gedächt­nis des Westens gro­ßen­teils gelöscht haben. Das Mit­tel­al­ter, so Keh­nel, war anders als sein Ruf.

Für die Men­schen der Vor­mo­der­ne waren Din­ge nor­mal wie Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on, Gene­ra­tio­nen­ge­rech­tig­keit und der Bei­trag star­ker, gleich­be­rech­tig­ter Frau­en. Gen­der­ge­rech­te Spra­che fin­det sich flä­chen­deckend in den über­lie­fer­ten Zunft­ord­nun­gen (»es sei man­ne oder frau­we«). Manch­mal braucht es den zwei­ten Blick, dann waren die Abläs­se Instru­men­te von Crowd­fun­ding, bedeu­te­ten die erhoff­ten Gebe­te von Nach­fah­ren deren Ein­ver­ständ­nis damit, wie man sein Leben leb­te. Dass der Boden­see nicht über­fischt wur­de, beruh­te sechs­hun­dert Jah­re lang auf frei­en Über­ein­künf­ten von Fischern dar­über, wie eng die Maschen ihrer Net­ze sein durf­ten. Jung­fi­sche blie­ben übrig und konn­ten sich wei­ter­ver­meh­ren. Erst der kapi­ta­li­sier­te Pri­vat­be­sitz an den Ufer­säu­men zu Anfang des 19. Jahr­hun­derts been­de­te die Erfolgsgeschichte.

Wie koope­riert wur­de, zeigt Keh­nel unter ande­rem am Bei­spiel der Bene­dik­ti­ner­klö­ster. Besitz­lo­sig­keit des und der Ein­zel­nen ver­band sich mit dem wirt­schaft­li­chen Erfolg und ent­spre­chen­dem Reich­tum des Klo­sters. »Tei­len war der Schlüs­sel zum Erfolg des Homo sapi­ens«, zieht die Autorin ihre Sum­me. Mini­ma­lis­mus, die Kon­zen­tra­ti­on aufs Wesent­li­che, war eine Mas­sen­be­we­gung schon bei den alt­grie­chi­schen Kyni­kern. Dem berühm­te­sten von ihnen, Dio­ge­nes von Sinope, war Reich­tum nur »die Kot­ze des Glücks«. Franz von Assi­si und die von ihm initi­ier­te Armuts­be­we­gung beein­fluss­ten Gesell­schaf­ten nicht nur Euro­pas, son­dern auch des Ori­ents. Fran­zis­ka­ni­sche Gelehr­te ent­wickel­ten Wirt­schafts­theo­rien, die über Preis­bil­dung und den Cha­rak­ter des Gel­des fast alles ent­hal­ten, was bis ins 20. Jahr­hun­dert galt. Im Hoch­mit­tel­al­ter ent­stan­den Mikro­kre­dit­ban­ken, bei denen zum Bei­spiel ein Klein­bau­er im Früh­jahr sei­nen Man­tel ver­pfän­den und ihn mit dem so finan­zier­ten Ertrag im Herbst wie­der aus­lö­sen konn­te. Die ita­lie­ni­schen Groß­städ­te ver­pflich­te­ten ihre Ban­ker, ehren­amt­lich die »Mon­ti di Pie­tà« (from­men Geld­ber­ge) zu ver­wal­ten. Das viel­leicht Über­ra­schend­ste: Die Ban­ker schei­nen mit­ge­macht zu haben.

Die letzt­ge­nann­ten Bei­spie­le zei­gen Reak­tio­nen auf die so genann­te kom­mer­zi­el­le Revo­lu­ti­on, in der sich das Kapi­tal­den­ken schon seit dem 11. Jahr­hun­dert her­aus­bil­det. Neben rei­chen Gewin­nern gab es von Anfang an mas­sen­haft Ver­lie­rer, die Hil­fe brauch­ten – und fan­den. Inso­fern bezeu­gen Keh­nels Stu­di­en, wie fle­xi­bel man im Mit­tel­al­ter auf Ver­än­de­run­gen der Groß­struk­tur reagier­te. Eben da sieht die Autorin heu­te ein Defi­zit. Obwohl sich die Scha­dens­bi­lanz des Kapi­ta­lis­mus immer mon­strö­ser zeigt, gelingt ihm kaum ech­te Ver­än­de­rung. Nach den Grün­den dafür hät­te das Buch etwas boh­ren­der fra­gen kön­nen. Eine so extre­me Kon­zen­tra­ti­on des Ver­mö­gens wie heu­te gab es histo­risch noch nie. Und ihre Ent­ste­hung kün­digt sich bereits an in den Bene­dik­ti­ner­klö­stern, die zu Groß­grund­be­sit­zern wur­den, in einem impe­ria­len Papst­tum seit dem 13. Jahr­hun­dert, das sich zeit­wei­se beson­ders auf die Bet­tel­or­den und »Reform­klö­ster« stütz­te. Der Hebel der Ver­än­de­rung muss also län­ger wer­den, als er in die­sem Buch erscheint. Dass und wie heil­sa­mer Wan­del mög­lich ist, belegt aber nie­mand kla­rer als Annet­te Keh­nel. Und das auch noch in einem genuss­rei­chen Schmöker.

Annet­te Keh­nel: Wir konn­ten auch anders. Eine kur­ze Geschich­te der Nach­hal­tig­keit, 488 S., zahl­rei­che Abbil­dun­gen, Bles­sing Ver­lag 2021, 24 €.