Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat die Anregung der Linken verworfen, den bevorstehenden Jahrestag im Bundestag als Gedenktag auszurichten, und auch die in diesen Corona-Tagen sonst so geschwätzigen Politiker und Medien möchten sich wohl ebenfalls am Anlass dieses Jahrestages vorbeischleichen: Es handelt sich dabei um das, was vor 80 Jahren, am 22. Juni 1941, geschah: Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion – ohne Kriegserklärung und bei bestehendem Nichtangriffspakt. Mit mehr als drei Millionen Soldaten und 3600 Panzern begann der längst geplante Raub- und Vernichtungskrieg, ein Jahrtausendverbrechen, an dessen Ende 27 Millionen tote Sowjetbürger zu beklagen waren. In der Broschüre »›Barbarossa‹ Raubkrieg in Osten« (Hg. Verlag 8.Mai GmbH, 2020) werden in zahlreichen Beiträgen die Verbrechen an den Menschen der Sowjetunion sowie die deutschen Kriegsplanungen und -handlungen eindrucksvoll dargestellt. Die Autorinnen und Autoren fordern: »Der Jahrestag sollte jedes Jahr im Bundestag begangen werden« und in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen ebenso, damit die Rufe nach einer neuen »Politik der Stärke« gegenüber dem heutigen Russland nicht noch einmal die Völker dort ins Verderben stürzen.
Im Folgenden sollen Texte vorgestellt werden, die erheblich dazu beitrugen, dass die Verbrechen der Wehrmacht überwiegend mit »gutem Gewissen« begangen wurden. Es sind Schlüsseltexte aus der evangelischen Kirche, einer Institution, deren Mitglieder wesentlich zum Aufstieg des Nazi-Bewegung beigetragen haben; beiden, der evangelischen Kirche und den NS-Anhängern, war nämlich der Kampf gegen Bolschewismus, Sozialismus, Liberalismus, Demokratie und Judentum ein gemeinsames Anliegen.
Um diesen gemeinsamen Kampf zum Erfolg zu führen, wurde 1939, ein Tag vor dem deutschen Überfall auf Polen, ein dreiköpfiger »Geistlicher Vertrauensrat« gebildet, der die »Verpflichtungen der Evangelischen Kirche gegen Führer, Volk und Staat« gewährleisten sollte, und das hieß: den bevorstehenden Krieg und alle Kriegshandlungen darin zu rechtfertigen. Sprecher dieses Gremiums wurde der Landesbischof der größten deutschen Landeskirche, August Marahrens. Er hatte seine Bewährungsproben für dieses Amt zuvor glänzend bestanden: Schon im April 1933 schwärmte er als Mitglied eines »Drei-Männer-Kollegiums«, das für sämtliche evangelischen Kirchen in Deutschland sprach, in einer »Kundgebung«: »Zu dieser Wende der Geschichte sprechen wir ein dankbares Ja. Gott hat sie uns geschenkt. Ihm sei die Ehre.« Im April 1938 forderte er die über 1000 Pfarrer seiner hannoverschen Landeskirche auf, einen »Treueid« auf Hitler abzulegen, der ihrem »Ordinationsversprechen« widersprach. Dennoch verweigerten nur zehn Pfarrer den Treueid, worin eine 99prozentige Zuneigung der Pfarrer (und wohl auch der Gemeindeglieder) zu Hitler in Niedersachsen zum Ausdruck kam. Im Mai 1939 unterstützte Marahrens in »fünf Grundsätzen« den Kampf der »nationalsozialistischen Weltanschauung« gegen die »jüdische Rasse« und macht ihn »für den christlichen Deutschen verbindlich«, wodurch die Pastoren seiner Kirche »ihre pfarramtliche Arbeit nach diesen ›Grundsätzen‹ auszurichten« hatten. Verordneter Judenhass, wie Luther ihn schon gepredigt hatte.
Die Höhepunkte in seinem bischöflichen Leben waren dann die Verlautbarungen in der Zeit des Krieges für die gesamte evangelische Kirche, darunter insbesondere das »Telegramm an den Führer« vom 30. Juni 1941« (hier in gekürzter Form):
»Die Deutsche Evangelische Kirche (…) ist mit allen ihren Gebeten bei Ihnen und bei unseren unvergleichlichen Soldaten, die nun mit so gewaltigen Schlägen daran gehen, den Pestherd zu beseitigen, damit in ganz Europa unter Ihrer Führung eine neue Ordnung erstehe und aller inneren Zersetzung, aller Beschmutzung des Heiligsten, aller Schändung der Gewissensfreiheit ein Ende gemacht werde.«
Diese Pestbotschaft des Bischofs Marahrens war das neue Evangelium der Deutschen Evangelischen Kirche. An der »Front« verkündigten es wohl die meisten der circa 580 evangelischen »Feldgeistlichen«. Und so konnten deutsche Soldaten mit »gutem Gewissen« vernichten und ermorden: Kommissare, Partisanen, Kriegsgefangene, Frauen und Kinder, Juden und andere Völker, Schwache und Behinderte, 27 Millionen Menschen.
Gemäß dieses neuen Evangeliums der Deutschen Evangelischen Kirche wurde nun auch in der Heimat ganz ähnlich gepredigt. Dazu erschienen in den »Pastoralblättern« Musterpredigten, etwa »zum Kampf gegen die russischen Bolschewisten, diese Untermenschen«. Eine solche stammt zum Beispiel von einem Seminardirektor in Wolfenbüttel und wurde wahrscheinlich auf Tausenden Kanzeln nachgepredigt. Mit Hinweis auf deutsche Propagandabilder heißt es darin: »Habt ihr die Gesichter der gefangenen Russen gesehen? Stump, leer, verwahrlost und verkommen! So sehen Menschen eines Volkes aus, dem man mit Vorsatz und Bedacht die Seele aus dem Leibe geraubt hat. Was da übrig bleibt, ist nicht mehr ein Menschenantlitz (…); anstelle des menschlichen Gesichtes, durch das das Ebenbild Gottes hindurchleuchtet, ist die Fratze des Bösen getreten, die Maske des Teufels.« Mit dem Predigtwort aus Richterbuch 5 Vers 31 wird dazu aufgerufen: »Sie sollen umkommen, Herr, alle deine Feinde.« In jenen Tagen, als die Predigt in Wolfenbüttel verfasst wurde, wurden 21 000 sowjetische Kriegsgefangene ins nahe Bergen-Belsen gebracht, wo sie in Erdhöhlen unterkommen mussten. Bis Frühjahr 1942 waren 14 000 Gefangene an Hunger und Kälte gestorben, ermordet.
Schließlich und nicht zu vergessen: Rechtzeitig zum Überfall auf die Sowjetunion erschien in Massenauflage eine Schrift mit dem Titel »Der Krieg als geistige Leistung«. Darin erhält der Krieg eine höhere Weihe, weil er als »Werk Gottes« einen »schöpferischen« Charakter habe, eine »neue geschichtliche Ordnung schafft« und für den Soldaten eine »Bewährung seines Glaubens« bedeutet. Deshalb müsse »es nicht nur auf den Koppelschlössern der Soldaten, sondern in Herz und Gewissen stehen: Mit Gott! Nur im Namen Gottes kann man dieses Opfer legitimieren.«
Diese Aussagen gefielen den NS-Propagandisten so gut, dass der Verfasser »amtlich gefördert werden« sollte. Der Göttinger Neutestamentler Gerd Lüdemann schreibt 2004 dazu: »Der spätere Landesbischof der evangelisch-lutherischen Kirche Hannovers setzt die aktive Teilnahme am verbrecherischen Krieg Nazi-Deutschlands mit der Nachfolge Jesu gleich«. Sein Name: Hanns Lilje, der später, 1947, auf Vorschlag Marahrens dessen Nachfolger im Bischofsamt wurde und in den 1950er Jahren gemeinsam mit Otto Dibelius die Remilitarisierung Westdeutschlands betrieb, um gemäß den Vorstellungen des Bundeskanzlers Adenauer der Sowjetunion wieder mit einer »Politik der Stärke« entgegentreten zu können.
Und Bischof Marahrens – was wurde aus dem? Nach der Kontrollratsdirektive Nr. 18 vom 12.10.1946 mit »Verweisung« auf das Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20.12.1945 hätte dieser deutsche Spitzentheologe zwingend einen Prozess vor einem Kriegsverbrechertribunal erhalten müssen. In Art. III/II heißt es dort zu »Belasteten/Aktivisten«, wie auf ihn hin formuliert: »Aktivist ist (…), wer durch Wort oder Tat, insbesondere öffentlich durch Reden und Schriften (…) oder durch Einsetzen seiner Machtstellung im politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Leben wesentlich zur Begründung, Stärkung und Erhaltung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft beigetragen hat.« »Völliger oder teilweiser Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte« wären die mindesten Strafzumessungen für ihn gewesen. Doch dazu kam es nicht, denn die für Hannover zuständige britische Besatzungsmacht hatte die »Entnazifizierung« der Kirchen ausgesetzt und ihnen – wie »einer anderen Institution – eine »Selbstreinigung« übertragen und in den Vorgesprächen zu dieser Selbstreinigung ausgerechnet den hochbelasteten Marahrens als Verhandlungspartner akzeptiert. Und so kam es, dass dieser bei seinem aus Altersgründen erfolgten Rücktritt 1947 von der neugewählten hannoverschen Landessynode mit einer einstimmig angenommenen Entschließung verabschiedet wurde, in der ihm »im Blick auf seine Amtsführung als Ganzes (…) volles Vertrauen und bleibende (sic!) Dankbarkeit (sic!) ausgesprochen« wurde. Vertuschung und Verfälschung als kirchliche Vergangenheitsbewältigung.
In einer Eingabe an die Synode forderte ich im Jahre 2000, jene verwerfliche Entschließung zurückzunehmen und darauf hinzuwirken, dass überall dort, wo diesem Unwürdigen, Marahrens, immer noch Ehre erwiesen wird, diese endlich zu tilgen, wie z. B. seinen Namen von der Marahrens-Heimvolkshochschule Loccum zu nehmen. Dieses Anliegen wurde abgewiesen; Begründung: »Die Rücknahme eines Beschlusses einer früheren Synode ist nach Auffassung des Ausschusses grundsätzlich nicht möglich.«
Wer heute im Internet die Geschichte jener Heimvolkshochschule erforscht, erfährt, dass sie 1953 ihren Namen erhielt. Eine Tilgung desselben wird nicht vermeldet. Es bleibt also dabei: Hier in Loccum und ebenso in Hannover, wo eine Straße immer noch seinen Namen führt, wird ein Mann in Ehren gehalten, der als Mittäter an dem deutschen Jahrtausendverbrechen Anteil hatte. Im Bewusstsein der Gemeindemitglieder ist das auch nach 80 Jahren immer noch nicht angekommen.