Wir Kinder in Adamstal hielten es für normal, dass wir den ganzen Sommer über barfuß zur Schule gingen. Schuhe wurden in den 1920er und 30er Jahren erst angezogen, wenn der Erdboden so kalt war, dass es weh tat. Das war etwa ab Mitte September der Fall, wenn auf den Feldern die ersten Kartoffelfeuer qualmten und die Kühe zur Weide aus dem Stall mussten. Schuhe für den Sommer hatten die wenigsten von uns.
Der Name unseres kleinen Heimatortes deckt sich mit dem des gleichnamigen Tales, dessen Verlauf von der Aupa bestimmt wird, einem Nebenfluss der Elbe. Beide entspringen nahe der Schneekoppe im Riesengebirge. Das Aupatal ist Schauplatz des Romans Babička (Die Großmutter), mit dem Božena Němcová 1855 als Begründerin der tschechischen Nationalkultur weltberühmt wurde. Der Name geht auf den ihres Mannes Josef Němec zurück, was übersetzt der Deutsche heißt
Über Armut machten wir uns in der einsamen Gegend an der Sprachgrenze keine Gedanken. Den tschechischen Kindern ging es nicht besser als den deutschen. Meine jüngere Schwester Margit und ich fühlten uns allenfalls dadurch etwas benachteiligt, dass unser Vater nicht bei seiner Familie wohnte, sondern bei einer anderen Frau in der Stadt. Die Eltern lebten seit Jahre getrennt.
Mein Vater hatte sich nach Abschluss seiner Lehre als Gärtner der Politik zugewandt und entwickelte als kommunistischer Redakteur und Parteisekretär in Nordböhmen eine beträchtliche Aktivität, wie eine deutsch-tschechische Historikerin später in den Akten des tschechischen Nationalarchivs feststellen konnte. Er überwarf sich jedoch 1929 politisch mit seiner Partei, weil er nicht damit einverstanden war, bei einem Streik notfalls auch Gewalt anzuwenden, und wurde auf die Straße gesetzt. Doch sein Bekenntnis zur kommunistischen Idee wurde davon nicht berührt. Zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, da Arbeitsplätze rar waren, fand so einer wie er nur schwer eine neue Verdienstmöglichkeit.
Unseren arbeitslosen Vater sahen wir nur alle zwei Wochen, wenn er mit zwei Aktentaschen voll mit Lebensmitteln kam, die er mit Gutscheinen der Sozialfürsorge in der Kreisstadt gekauft hatte. Meiner Schwester schmeckte die mitgebrachte Butter nicht, da sie an die billige Margarine gewöhnt war.
Deswegen, aber auch aus anderen Gründen, gab es bei den Besuchen des Vaters jedes Mal Streit. Unser Vater meinte, wir sähen so schlecht aus, weil Mama und Oma uns falsch ernährten. Er bat den einzigen Arzt, den es weit und breit gab, in Adamstal nach dem Rechten zu sehen. Der schrieb dem »sehr geehrten Herrn Redakteur«, die Großmutter habe sich geäußert, sie hätten nicht einmal Mittel, um Kartoffeln zu kaufen. »Es kann sich somit nicht allein um unzweckmäßige Ernährung, sondern um beträchtliche Unterernährung handeln, wofür auch das Aussehen spricht.«
Diesen Brief legte unser Vater der deutschen Jugendfürsorge in Trautenau vor, die ihm daraufhin »im Interesse der armen Kinder« weitere Lebensmittelkarten bewilligte. Czech-Karten hießen diese Gutscheine, benannt nach dem deutschen Sozialminister in der tschechischen Prager Regierung, der während der Naziherrschaft als verfolgter Jude in Theresienstadt zu Tode kam.
Zu den lästigen Pflichtaufgaben von Margit und mir gehörte es, während des Sommers mit Oma im Wald Brennholz für den Winter zu sammeln, das gemeinhin als Diebesgut galt. Eingewickelt in einen alten Sack lag eine Handsäge auf dem Boden von Omas Rückenkorb. mit der wir den einen oder anderen verdorrten Baum in Stücke zerlegten. Obendrauf packte Oma einen Berg vertrockneter Zweige. Begegneten wir auf dem Heimweg dem Förster, hob er den Korb mit zwei Fingern an und fragte streng: »Na, Frau Sedllatschek, wieder nur Reisig im Korb?« Dabei erkannt er schon am Gewicht, was unter dem Berg von vertrockneten Ästen lag.
Wurst und Fleisch gab es bei uns zu Hause nur einmal in der Woche. Die Wurst kam am Freitag auf den Tisch, wenn Mama ihren Wochenlohn bekam. Sie hatte, wie damals üblich, keinen Beruf erlernt und arbeitete in einer Flachgarnspinnerei als Hilfsarbeiterin. Auf dem Heimweg von der Arbeit erledigte sie am Freitag die Einkäufe für das Wochenende. Den Sonntag erkannte man in Adamstal daran, dass aus den geöffneten Fenstern die Fleisch-Klopfer zu hören waren, mit denen Schnitzel oder Koteletts mürbe geklopft wurden.
Sehr viel üppiger haben wir auch während der Nazizeit nicht gelebt. Mein Vater hätte 1938 nach England emigrieren können. Der Kinder wegen, wie er sagte, blieb er im Lande, auf Schritt und Tritt beobachtet und überwacht von den braunen Bonzen. Mit einem Monatsgehalt von 100 Mark brutto fand er am 1. Mai 1939 in der Kreisstadt Trautenau (Trutnov) als administrative Hilfskraft Unterschlupf bei der deutsch-österreichischen Baufirma Pittel und Brausewetter. Dank der »Schirmherrschaft« des italienischen Chefs konnte er sich dort halten bis zum Ende des Krieges.
Ich selbst bekam als Schüler am Wirtschaftsgymnasium in Trautenau immer wieder das Missvergnügen der Nazilehrer zu spüren. Sie wollten sich nicht damit abfinden, den Sohn eines alten Kommunisten unterrichten zu müssen. Wenn ich an der Haltstelle Bausnitz aus dem Zug stieg, zog ich als erstes meine Schuhe aus und legte den restlichen Weg nach Adamstal wie gewohnt barfuß zurück.