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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Härte des Rechtsstaats

Wel­che der drei Insi­gni­en der alle­go­ri­schen Figur Justi­tia las­sen sich weg­den­ken, ohne dass ihr Feh­len das Funk­tio­nie­ren des Rechts­staats gefähr­det? Die Waa­ge ganz gewiss. »In Deutsch­land sind tau­sen­de Men­schen in Haft, die nie zu einer Gefäng­nis­stra­fe ver­ur­teilt wor­den sind. Sie haben eines gemein­sam: Sie sind arm.« Wer näm­lich sei­ne Geld­stra­fe nicht bezah­len kann, kommt in Haft. »Wer ein paar­mal ohne Fahr­schein fährt, kann ein­ge­sperrt wer­den; wer Steu­ern hin­ter­zieht, hat mit guten Anwäl­ten wenig zu befürch­ten.« Dies erfährt man in der ARD-Doku­men­ta­ti­on Arm und Reich vor Gericht. Wie gerecht ist unse­re Straf­ju­stiz? Die Fra­ge ist eine rhe­to­ri­sche. Aber Gerech­tig­keit war nie etwas ande­res als Uto­pie. Schon im ersten Seme­ster ler­nen alle Jura­stu­den­ten, dass Recht und Gerech­tig­keit zwei Paar Stie­fel sind. Die Tat­sa­che, dass immer neue phi­lo­so­phi­schen Theo­rien (seit Pla­ton) vor­ge­legt wer­den, ist ein Indiz für die Unklar­heit des Begriffs. Was soll das über­haupt sein: Gerech­tig­keit? Dass Justi­tia unpar­tei­isch wäre, wider­le­gen Rich­ter immer wie­der unauf­ge­for­dert. Bis 1985 zum Bei­spiel wur­de in der Bun­des­re­pu­blik jeder alko­ho­li­sier­te Ver­ur­sa­cher eines Ver­kehrs­un­falls mit einem Todes­op­fer zu einer Haft­stra­fe ohne Bewäh­rung ver­ur­teilt. Otto Wiesheu, damals der baye­ri­sche Wirt­schafts­mi­ni­ster, war der erste, der eine zwölf­mo­na­ti­ge Frei­heits­stra­fe erhielt, die zur Bewäh­rung aus­ge­setzt wur­de. »Vor dem Gesetz sind alle Men­schen gleich. Sind sie es auch vor Gericht?« schrieb damals DIE ZEIT. Das Ober­lan­des­ge­richt Mün­chen zeig­te uns, dass Justi­ti­as Augen­bin­de durch­sich­tig und ein Schwin­del ist.

Was sich jedoch nie­mals weg­den­ken lässt, ist bekannt­lich das Schwert, denn ohne die Mög­lich­keit der Gewalt­an­wen­dung und der Dro­hung damit, wären Rechts­nor­men und rich­ter­li­che Urtei­le in vie­len Fäl­len kaum durch­setz­bar. Ein Rechts­staat ohne Gewalt­an­dro­hung ist ein zahn­lo­ser Tiger. Das posi­ti­ve Recht ist immer Gewalt. Stra­fe ist Leid­zu­fü­gung und die muss gege­be­nen­falls durch Gewalt erfol­gen. Man muss den Rechts­staat also pri­mär fürch­ten. Wenn man ihn auch ach­ten und aner­ken­nen soll, muss der Rechts­staat sel­ber die Grün­de dafür bei­brin­gen. Es fällt ja auf, wie oft Poli­ti­ker auf eine angeb­li­che Digni­tät des Rechts­staats ver­wei­sen, von der völ­lig unklar ist, ob es sie gibt. Natür­lich setzt der Rechts­staat sich selbst in Sze­ne mit Zere­mo­nien und Roben und bei jedem Urteil mit der Behaup­tung »im Namen des Vol­kes« zu spre­chen. Aber das ist eben nur eine Insze­nie­rung. Wes­halb soll­te man sie glau­ben, wenn behaup­te­te Gerech­tig­keit und Unpar­tei­lich­keit nur Camou­fla­ge einer ursprüng­li­chen Gewalt sind? Es gibt kei­ne guten Grün­de dafür.

Die Schwä­chen des Rechts­staats sind man­nig­fal­tig. Jedes Gesetz könn­te auch ganz anders aus­se­hen, ist also kon­tin­gent. Jedes rich­ter­li­che Urteil – am besten sicht­bar bei den höchst­rich­ter­li­chen – könn­te auch anders aus­fal­len. Wenn dem nicht so wäre, bräuch­te man kei­nen Instan­zen­weg und kei­ne Höchst­ge­rich­te. Gewiss stif­tet das Recht eine gewis­se Sicher­heit und Ord­nung. Aber die­se Ord­nung könn­te bei glei­chem Quan­tum an Sicher­heit auch anders sein. Die Stra­ßen­ver­kehrs­ord­nung muss nicht den Rechts­ver­kehr instal­lie­ren, Links­ver­kehr ist nicht schlech­ter. Was in einem Staat ver­bo­ten ist (im Iran bei­spiels­wei­se der Ehe­bruch), ist im ande­ren erlaubt. In Frank­reich ist die Leug­nung des Geno­zids an den Arme­ni­ern eine Straf­tat, in der Tür­kei ist umge­kehrt die Behaup­tung des Geno­zids eine Straf­tat. Die Rechts­ord­nung könn­te immer auch ganz anders sein.

Zwei­tes Bei­spiel: Im Gefol­ge der Pro­ble­ma­tik des Kli­ma­wan­dels ent­stan­den viel­fäl­ti­ge Pro­test­for­men, auch die Grup­pe der sich »Letz­te Gene­ra­ti­on« nen­nen­den Akti­vi­sten, die gewalt­frei Stra­ßen blockie­ren. Juri­stisch stellt die­ser Pro­test eine Nöti­gung und einen Ein­griff in den Stra­ßen­ver­kehr dar, wes­halb der Rechts­staat aktiv wird. Buß­geld­be­schei­de, Geld­stra­fen und son­sti­ge finan­zi­el­le For­de­rung über Kosten tref­fen die indi­vi­du­el­len Akti­vi­sten nicht son­der­lich hart, da das Spen­den­kon­to gut gefüllt ist. Es gibt vie­le bra­ve Bür­ger, die – aus Furcht vor dem Rechts­staat – sel­ber nicht in die­ser Wei­se aktiv wer­den, aber die Aktiv­sten wenig­stens finan­zi­ell unter­stüt­zen wol­len. Das ärgert den Rechts­staat, zum Bei­spiel in Per­son des Münch­ner Gene­ral­staats­an­walts, der kur­zer­hand die »Letz­te Gene­ra­ti­on« zur kri­mi­nel­len Ver­ei­ni­gung erklärt und Raz­zi­en an meh­re­ren Orten durch­füh­ren und – vor allem – Kon­ten beschlag­nah­men lässt. Er hat näm­lich ver­stan­den, dass der Rechts­staat »den Sumpf aus­trock­nen«, d. h. Zugriff auf die finan­zi­el­len Mit­tel der Grup­pe bekom­men muss. Denn dann blei­ben die Akti­vi­sten sel­ber auf den Buß­gel­dern, Gerichts­ko­sten und Geld­stra­fen sit­zen. Außer­dem wird jeder Spen­der zum Unter­stüt­zer einer kri­mi­nel­len Ver­ei­ni­gung und setzt sich der Straf­ver­fol­gung (mit der mög­li­chen Fol­ge einer Haft­stra­fe) aus. So das Kal­kül des Münch­ner Gene­ral­staats­an­walts. Dass er sel­ber »rechts­staats­wid­rig« han­del­te, als er die Web­site der »Letz­ten Gene­ra­ti­on« mit der Begrün­dung, sie sei eine kri­mi­nel­le Ver­ei­ni­gung, sperr­te und ihre Kon­ten beschlag­nahm­te, fiel erst spä­ter auf. Die Staats­an­walt­schaft kann ja nur auf­grund eines Ver­dachts ermit­teln. Ob eine Grup­pe tat­säch­lich eine kri­mi­nel­le Ver­ei­ni­gung ist, kann nur in einem rich­ter­li­chen Urteil fest­ge­stellt wer­den. Ein sol­ches gibt es bis­her nicht. Und es wird auch kei­nes geben, solan­ge es nicht zu einer Ankla­ge wegen Bil­dung einer kri­mi­nel­len Ver­ei­ni­gung kommt. Kei­ne Staats­an­walt­schaft bun­des­weit hegt die Absicht, die­se Kla­ge zu erhe­ben. Der Münch­ner Gene­ral­staats­an­walt hat nur hoch gepo­kert und ein­mal mehr die Lächer­lich­keit des Rechts­staats demonstriert.

Drit­tes Bei­spiel: Da der Rechts­staat pri­mär immer ein Gewalt­ver­hält­nis dar­stellt, muss er sich um Akzep­tanz bemü­hen. Die blo­ße Behaup­tung, gerecht und unpar­tei­lich zu sein, reicht nicht mehr aus, sie wird nicht mehr ohne wei­te­res geglaubt. In den Schul­bü­chern wird der Rechts­staat so erklärt: Er bedarf einer Ver­fas­sung, der Gewal­ten­tei­lung sowie einer Gesetz­ge­bung auf dem ver­fas­sungs­mä­ßig vor­ge­se­he­nen Weg. Dies sei aber nur ein »for­ma­ler« Rechts­staat, auch »Geset­zes­s­staat« genannt. Ein ech­ter Rechts­staat benö­ti­ge unbe­dingt auch eine »inhalt­li­che« Kom­po­nen­te, und das sei der Schutz der Men­schen­wür­de und Men­schen­rech­te. Was aber, wenn die­ser Rechts­staat sel­ber die Men­schen­rech­te ver­letzt? Wenn er zum Bei­spiel, wie in Guan­ta­na­mo, fol­tert, oder die Fol­ter auf sei­nem Gebiet, wie z. B. die EU-Staa­ten mit den CIA-Fol­ter­ge­fäng­nis­sen, bil­ligt? Genügt es dann, Water­boar­ding umzu­de­fi­nie­ren zu einem »stren­gen Ver­hör«? Ist es Ach­tung der Men­schen­wür­de, wenn die EU Asyl­be­wer­ber in Lagern in Tune­si­en oder Liby­en oder irgend­wo in Afri­ka (Man­fred Weber: »huma­ni­tär ordent­lich«) inter­nie­ren lässt? Oft genug haben west­li­che Demo­kra­tien seit dem Zwei­ten Welt­krieg bis heu­te bru­ta­le Dik­ta­tu­ren unter­stützt oder gar durch Putsch eta­bliert, um sich wirt­schaft­li­che oder macht­po­li­ti­sche Vor­tei­le zu sichern. In Wahr­heit gibt es kei­nen ein­zi­gen Staat, der Men­schen­rech­te vor­be­halt­los schützt. Jeder Staat ach­tet stets zuerst auf sei­ne eige­nen (wirt­schaft­li­chen, finan­zi­el­len und macht­po­li­ti­schen) Vor­tei­le, bevor er sich für Men­schen­rech­te einsetzt.

Geset­zes­tex­te, auch Ver­fas­sungs­ar­ti­kel bestehen aus Sät­zen und Wör­tern. Und die­se bedür­fen der Inter­pre­ta­ti­on. Und natür­lich ist immer jede belie­bi­ge Aus­le­gung mög­lich. Des­halb garan­tiert eine Ver­fas­sung nichts. Jede Ver­fas­sung, die Fol­ter ver­bie­tet, ermög­licht Fol­ter, solan­ge Legis­la­ti­ve, Exe­ku­ti­ve und Judi­ka­ti­ve die Fol­ter­pra­xis zur erlaub­ten Ver­hör­me­tho­de, die kei­ne Fol­ter dar­stellt, erklä­ren. So funk­tio­niert der Rechts­staat. Er defi­niert nach Belie­ben – und wird damit letzt­lich zum Will­kür­staat, zur ver­kapp­ten Tyran­nei, die ihm ja immer schon und a prio­ri wegen sei­nes Gewalt­cha­rak­ters inhä­rent ist. Die jewei­li­ge Por­ti­on Heu­che­lei, die der Rechts­staat mit sich führt, mag unter­schied­lich groß sein, aber ohne Heu­che­lei und Lüge kommt er nicht aus.

Vie­le Men­schen fin­den sich mit die­ser ein­ge­spiel­ten will­kür­li­chen Rechts­staats­pra­xis nicht mehr ab. Die »Letz­te Gene­ra­ti­on« ist ein gutes Bei­spiel. Ein Rechts­staat, der (und sei’s nur wegen einer Kli­en­tel­par­tei wie der FDP) Kli­ma­kil­ler schützt und Kli­ma­schüt­zer dra­ko­nisch bestraft, büßt eben lang­fri­stig den Glau­ben der Bevöl­ke­rung an sei­ne Legi­ti­mi­tät ein. Man kann jedem Staat – auch einer Demo­kra­tie, die ihre eige­nen Prin­zi­pi­en ver­rät – die Loya­li­tät auf­kün­di­gen. Den ein­fa­chen Gedan­ken, dass ein sich immer stär­ker radi­ka­li­sie­ren­der »Rechts­staat«, der nur noch mit aller Här­te zuschla­gen will und dabei jedes Augen­maß für Ver­hält­nis­mä­ßig­keit ver­liert, irgend­wann kein Rechts­staat mehr ist, son­dern bloß ein Geset­zes­staat, wol­len vie­le Poli­ti­ker und Juri­sten nicht nach­voll­zie­hen. Denn sie ste­hen auf der Sei­te der sich radi­ka­li­sie­ren­den rechts­staat­li­chen »Täter«. Max Webers Erkennt­nis, dass der Staat sich nicht nur auf sein Gewalt­po­ten­ti­al ver­las­sen darf, son­dern immer auch eines hin­rei­chen­den »Legi­ti­mi­täts­glau­bens« in der Bevöl­ke­rung bedarf, wird heu­te in den Macht­eli­ten gern ver­ges­sen. Des­halb sind sie von der Moti­va­ti­on der wider­stän­di­gen Akti­vi­sten so über­rascht und kön­nen nicht damit umge­hen. Die Ein­sicht, dass das Recht und der Rechts­staat die fal­schen Inter­es­sen schüt­zen, ist den besit­zen­den und herr­schen­den Eli­ten, in deren Inter­es­se der Rechts­staat funk­tio­niert, nicht mög­lich. Eben­so wenig die Ein­sicht, dass immer mehr Men­schen zur Über­zeu­gung gelan­gen, dass die­ser Rechts­staat kei­ne Loya­li­tät und Aner­ken­nung ver­dient. Somit steht wie­der Gewalt gegen Gewalt. Und es gibt kein Kri­te­ri­um, auf­grund des­sen man behaup­ten könn­te, dass der (noch immer) gewalt­lo­se Pro­test gegen den Rechts­staat schlech­ter und ver­ab­scheu­ungs­wür­di­ger ist als die Gewalt des Rechts­staats selbst und – wie die Poli­ti­ker so gern sagen – »all sei­ne Härte«.