Welche der drei Insignien der allegorischen Figur Justitia lassen sich wegdenken, ohne dass ihr Fehlen das Funktionieren des Rechtsstaats gefährdet? Die Waage ganz gewiss. »In Deutschland sind tausende Menschen in Haft, die nie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden sind. Sie haben eines gemeinsam: Sie sind arm.« Wer nämlich seine Geldstrafe nicht bezahlen kann, kommt in Haft. »Wer ein paarmal ohne Fahrschein fährt, kann eingesperrt werden; wer Steuern hinterzieht, hat mit guten Anwälten wenig zu befürchten.« Dies erfährt man in der ARD-Dokumentation Arm und Reich vor Gericht. Wie gerecht ist unsere Strafjustiz? Die Frage ist eine rhetorische. Aber Gerechtigkeit war nie etwas anderes als Utopie. Schon im ersten Semester lernen alle Jurastudenten, dass Recht und Gerechtigkeit zwei Paar Stiefel sind. Die Tatsache, dass immer neue philosophischen Theorien (seit Platon) vorgelegt werden, ist ein Indiz für die Unklarheit des Begriffs. Was soll das überhaupt sein: Gerechtigkeit? Dass Justitia unparteiisch wäre, widerlegen Richter immer wieder unaufgefordert. Bis 1985 zum Beispiel wurde in der Bundesrepublik jeder alkoholisierte Verursacher eines Verkehrsunfalls mit einem Todesopfer zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt. Otto Wiesheu, damals der bayerische Wirtschaftsminister, war der erste, der eine zwölfmonatige Freiheitsstrafe erhielt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. »Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Sind sie es auch vor Gericht?« schrieb damals DIE ZEIT. Das Oberlandesgericht München zeigte uns, dass Justitias Augenbinde durchsichtig und ein Schwindel ist.
Was sich jedoch niemals wegdenken lässt, ist bekanntlich das Schwert, denn ohne die Möglichkeit der Gewaltanwendung und der Drohung damit, wären Rechtsnormen und richterliche Urteile in vielen Fällen kaum durchsetzbar. Ein Rechtsstaat ohne Gewaltandrohung ist ein zahnloser Tiger. Das positive Recht ist immer Gewalt. Strafe ist Leidzufügung und die muss gegebenenfalls durch Gewalt erfolgen. Man muss den Rechtsstaat also primär fürchten. Wenn man ihn auch achten und anerkennen soll, muss der Rechtsstaat selber die Gründe dafür beibringen. Es fällt ja auf, wie oft Politiker auf eine angebliche Dignität des Rechtsstaats verweisen, von der völlig unklar ist, ob es sie gibt. Natürlich setzt der Rechtsstaat sich selbst in Szene mit Zeremonien und Roben und bei jedem Urteil mit der Behauptung »im Namen des Volkes« zu sprechen. Aber das ist eben nur eine Inszenierung. Weshalb sollte man sie glauben, wenn behauptete Gerechtigkeit und Unparteilichkeit nur Camouflage einer ursprünglichen Gewalt sind? Es gibt keine guten Gründe dafür.
Die Schwächen des Rechtsstaats sind mannigfaltig. Jedes Gesetz könnte auch ganz anders aussehen, ist also kontingent. Jedes richterliche Urteil – am besten sichtbar bei den höchstrichterlichen – könnte auch anders ausfallen. Wenn dem nicht so wäre, bräuchte man keinen Instanzenweg und keine Höchstgerichte. Gewiss stiftet das Recht eine gewisse Sicherheit und Ordnung. Aber diese Ordnung könnte bei gleichem Quantum an Sicherheit auch anders sein. Die Straßenverkehrsordnung muss nicht den Rechtsverkehr installieren, Linksverkehr ist nicht schlechter. Was in einem Staat verboten ist (im Iran beispielsweise der Ehebruch), ist im anderen erlaubt. In Frankreich ist die Leugnung des Genozids an den Armeniern eine Straftat, in der Türkei ist umgekehrt die Behauptung des Genozids eine Straftat. Die Rechtsordnung könnte immer auch ganz anders sein.
Zweites Beispiel: Im Gefolge der Problematik des Klimawandels entstanden vielfältige Protestformen, auch die Gruppe der sich »Letzte Generation« nennenden Aktivisten, die gewaltfrei Straßen blockieren. Juristisch stellt dieser Protest eine Nötigung und einen Eingriff in den Straßenverkehr dar, weshalb der Rechtsstaat aktiv wird. Bußgeldbescheide, Geldstrafen und sonstige finanzielle Forderung über Kosten treffen die individuellen Aktivisten nicht sonderlich hart, da das Spendenkonto gut gefüllt ist. Es gibt viele brave Bürger, die – aus Furcht vor dem Rechtsstaat – selber nicht in dieser Weise aktiv werden, aber die Aktivsten wenigstens finanziell unterstützen wollen. Das ärgert den Rechtsstaat, zum Beispiel in Person des Münchner Generalstaatsanwalts, der kurzerhand die »Letzte Generation« zur kriminellen Vereinigung erklärt und Razzien an mehreren Orten durchführen und – vor allem – Konten beschlagnahmen lässt. Er hat nämlich verstanden, dass der Rechtsstaat »den Sumpf austrocknen«, d. h. Zugriff auf die finanziellen Mittel der Gruppe bekommen muss. Denn dann bleiben die Aktivisten selber auf den Bußgeldern, Gerichtskosten und Geldstrafen sitzen. Außerdem wird jeder Spender zum Unterstützer einer kriminellen Vereinigung und setzt sich der Strafverfolgung (mit der möglichen Folge einer Haftstrafe) aus. So das Kalkül des Münchner Generalstaatsanwalts. Dass er selber »rechtsstaatswidrig« handelte, als er die Website der »Letzten Generation« mit der Begründung, sie sei eine kriminelle Vereinigung, sperrte und ihre Konten beschlagnahmte, fiel erst später auf. Die Staatsanwaltschaft kann ja nur aufgrund eines Verdachts ermitteln. Ob eine Gruppe tatsächlich eine kriminelle Vereinigung ist, kann nur in einem richterlichen Urteil festgestellt werden. Ein solches gibt es bisher nicht. Und es wird auch keines geben, solange es nicht zu einer Anklage wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung kommt. Keine Staatsanwaltschaft bundesweit hegt die Absicht, diese Klage zu erheben. Der Münchner Generalstaatsanwalt hat nur hoch gepokert und einmal mehr die Lächerlichkeit des Rechtsstaats demonstriert.
Drittes Beispiel: Da der Rechtsstaat primär immer ein Gewaltverhältnis darstellt, muss er sich um Akzeptanz bemühen. Die bloße Behauptung, gerecht und unparteilich zu sein, reicht nicht mehr aus, sie wird nicht mehr ohne weiteres geglaubt. In den Schulbüchern wird der Rechtsstaat so erklärt: Er bedarf einer Verfassung, der Gewaltenteilung sowie einer Gesetzgebung auf dem verfassungsmäßig vorgesehenen Weg. Dies sei aber nur ein »formaler« Rechtsstaat, auch »Gesetzessstaat« genannt. Ein echter Rechtsstaat benötige unbedingt auch eine »inhaltliche« Komponente, und das sei der Schutz der Menschenwürde und Menschenrechte. Was aber, wenn dieser Rechtsstaat selber die Menschenrechte verletzt? Wenn er zum Beispiel, wie in Guantanamo, foltert, oder die Folter auf seinem Gebiet, wie z. B. die EU-Staaten mit den CIA-Foltergefängnissen, billigt? Genügt es dann, Waterboarding umzudefinieren zu einem »strengen Verhör«? Ist es Achtung der Menschenwürde, wenn die EU Asylbewerber in Lagern in Tunesien oder Libyen oder irgendwo in Afrika (Manfred Weber: »humanitär ordentlich«) internieren lässt? Oft genug haben westliche Demokratien seit dem Zweiten Weltkrieg bis heute brutale Diktaturen unterstützt oder gar durch Putsch etabliert, um sich wirtschaftliche oder machtpolitische Vorteile zu sichern. In Wahrheit gibt es keinen einzigen Staat, der Menschenrechte vorbehaltlos schützt. Jeder Staat achtet stets zuerst auf seine eigenen (wirtschaftlichen, finanziellen und machtpolitischen) Vorteile, bevor er sich für Menschenrechte einsetzt.
Gesetzestexte, auch Verfassungsartikel bestehen aus Sätzen und Wörtern. Und diese bedürfen der Interpretation. Und natürlich ist immer jede beliebige Auslegung möglich. Deshalb garantiert eine Verfassung nichts. Jede Verfassung, die Folter verbietet, ermöglicht Folter, solange Legislative, Exekutive und Judikative die Folterpraxis zur erlaubten Verhörmethode, die keine Folter darstellt, erklären. So funktioniert der Rechtsstaat. Er definiert nach Belieben – und wird damit letztlich zum Willkürstaat, zur verkappten Tyrannei, die ihm ja immer schon und a priori wegen seines Gewaltcharakters inhärent ist. Die jeweilige Portion Heuchelei, die der Rechtsstaat mit sich führt, mag unterschiedlich groß sein, aber ohne Heuchelei und Lüge kommt er nicht aus.
Viele Menschen finden sich mit dieser eingespielten willkürlichen Rechtsstaatspraxis nicht mehr ab. Die »Letzte Generation« ist ein gutes Beispiel. Ein Rechtsstaat, der (und sei’s nur wegen einer Klientelpartei wie der FDP) Klimakiller schützt und Klimaschützer drakonisch bestraft, büßt eben langfristig den Glauben der Bevölkerung an seine Legitimität ein. Man kann jedem Staat – auch einer Demokratie, die ihre eigenen Prinzipien verrät – die Loyalität aufkündigen. Den einfachen Gedanken, dass ein sich immer stärker radikalisierender »Rechtsstaat«, der nur noch mit aller Härte zuschlagen will und dabei jedes Augenmaß für Verhältnismäßigkeit verliert, irgendwann kein Rechtsstaat mehr ist, sondern bloß ein Gesetzesstaat, wollen viele Politiker und Juristen nicht nachvollziehen. Denn sie stehen auf der Seite der sich radikalisierenden rechtsstaatlichen »Täter«. Max Webers Erkenntnis, dass der Staat sich nicht nur auf sein Gewaltpotential verlassen darf, sondern immer auch eines hinreichenden »Legitimitätsglaubens« in der Bevölkerung bedarf, wird heute in den Machteliten gern vergessen. Deshalb sind sie von der Motivation der widerständigen Aktivisten so überrascht und können nicht damit umgehen. Die Einsicht, dass das Recht und der Rechtsstaat die falschen Interessen schützen, ist den besitzenden und herrschenden Eliten, in deren Interesse der Rechtsstaat funktioniert, nicht möglich. Ebenso wenig die Einsicht, dass immer mehr Menschen zur Überzeugung gelangen, dass dieser Rechtsstaat keine Loyalität und Anerkennung verdient. Somit steht wieder Gewalt gegen Gewalt. Und es gibt kein Kriterium, aufgrund dessen man behaupten könnte, dass der (noch immer) gewaltlose Protest gegen den Rechtsstaat schlechter und verabscheuungswürdiger ist als die Gewalt des Rechtsstaats selbst und – wie die Politiker so gern sagen – »all seine Härte«.