Ist von Rosa Luxemburg heutzutage die Rede – außer vielleicht im zeitlichen Zusammenhang mit der alljährlichen Liebknecht-Luxemburg-Demonstration in Berlin Friedrichsfelde –, dann fehlt die berühmt gewordene Randnotiz, dass »die Freiheit, immer die Freiheit der Andersdenkenden« sei, gewöhnlich nicht. Oft wird dabei suggeriert, dass dieser Ausspruch mehr oder weniger die Quintessenz ihrer Anschauungen sei und diese diametral jedweder »Diktatur« entgegenstehe, so auch der Diktatur des Proletariats. Dass der bürgerliche Mainstream, aber auch linke Reformer, Rosa Luxemburg wie viele andere zur Legitimation des Kapitalismus missbrauchen, ist weder neu noch originell. Wer sich die Mühe macht, tiefer in das Schriftgut Rosa Luxemburgs einzudringen, wird unschwer erkennen, dass sie nicht zur Kronzeugin bürgerlicher Demokratie und bürgerliche Freiheit taugt, sondern dass sie stets politisch – praktisch und theoretisch – konsequente Marxistin war. Für sie stand zeitlebens der Sozialismus gegen den Imperialismus, das bedeutet, alles zu tun, um den Imperialismus als Gesellschaftsordnung durch die Diktatur des Proletariats zu stürzen und eine neue sozialistische Gesellschaft zu errichten. Zu lange hielt sie daran fest, dass die deutsche Sozialdemokratie dabei den entscheidenden Beitrag leisten könne.
Von Marx wissen wir, dass die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, keine theoretische Frage ist, sondern eine praktische. In der Praxis zeigt sich, ob die von Menschen gefundene Theorie tauglich ist.
Bis unmittelbar vor Kriegsausbruch stand die deutsche Sozialdemokratie auf dem festen Fundament marxistischer Klassenanalyse zu den Ursachen imperialistischer Kriege und den daraus resultierenden Aufgaben der internationalen Arbeiterklasse und ihrer Parteien. Das Basler Manifest von 1912, einstimmig beschlossen, demonstrierte eindrucksvoll diese Einheit und Geschlossenheit. Ob die internationale, kampfbereite und geeinte Arbeiterklasse den Sieg davongetragen und einen Weltkrieg verhindert hätte, wenn die rechten Führer der Sozialdemokratie nicht ins imperialistische Lager gewechselt wären, wissen wir nicht. Aber wir können mit Sicherheit sagen, dass der Verrat am Marxismus, der Verrat an den objektiven und subjektiven Interessen der Arbeiterklasse mit dazu beigetragen hat, den Imperialismus über ein Jahrhundert mit all seinen Schrecken und Millionen Toten aufrechtzuerhalten und ihn immer mehr zur existentiellen Bedrohung der ganzen Menschheit und des Planeten werden zu lassen.
Für Rosa Luxemburg hat die weltgeschichtliche Katastrophe »die Kapitulation der internationalen Sozialdemokratie« ein konkretes Datum: »Und dann kam das Unerhörte, das Beispiellose, der 4. August 1914«, schrieb Luxemburg in ihrer ausgezeichneten marxistischen Arbeit »Die Krise der Sozialdemokratie«. »Nirgends ist die Organisation des Proletariats so gänzlich in den Dienst des Imperialismus gespannt (…) wie in Deutschland.«
Drei Tage nach der Kriegserklärung Deutschlands an Russland verkündete der SPD-Vorsitzende Haase im Reichstag: »Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges. Uns drohen die Schrecknisse der Invasion. Nicht für oder gegen den Krieg haben wir zu entscheiden, sondern über die Frage der für die Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel. (…) Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Sieg des russischen Despotismus (…) viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt, diese Gefahr abzuwenden und die Unabhängigkeit unseres eignen Landes sicherzustellen.«
Wenn wir nicht wüssten, dass diese Worte vor 111 Jahren gesprochen wurden, dann hätten sie nahezu wortgleich heutzutage aus einem SPD-Munde im Bundestag kommen können.
Rosa Luxemburg hat in ihrer »Junius-Broschüre« den beispiellosen Bruch der SPD mit den Interessen der Arbeiterklasse faktenreich und theoretisch nachgewiesen. Für sie war klar, dass diese SPD im Kern zu einer arbeiterfeindlichen und kapitalhörigen Partei geworden war. Blicken wir auf die Geschichte der SPD im 20. Und 21. Jahrhundert, so waren es immer wieder die rechten Parteiführungen, die demagogisch mit dem Krieg als Mittel der Politik im Interesse deutscher und global agierender imperialistischer Gruppierungen riskant mitspielten und es auch vermochten, die SPD auf ihren Kurs zu bringen. Gegenwärtig gibt es in der SPD niemanden, der sich die Freiheit nimmt, anders zu denken, also aus den Erfahrungen der Vergangenheit Lehren für die Zukunft zu ziehen. Was sagte Brecht so schön: Wer sich gegen den Sozialismus stellt, ist nicht ein Andersdenkender, sondern ein Nichtdenkender oder ein nur Ansichdenkender – ein Feind des Menschengeschlechts.