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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Freiheit der Andersdenkenden

Ist von Rosa Luxem­burg heut­zu­ta­ge die Rede – außer viel­leicht im zeit­li­chen Zusam­men­hang mit der all­jähr­li­chen Lieb­knecht-Luxem­burg-Demon­stra­ti­on in Ber­lin Fried­richs­fel­de –, dann fehlt die berühmt gewor­de­ne Rand­no­tiz, dass »die Frei­heit, immer die Frei­heit der Anders­den­ken­den« sei, gewöhn­lich nicht. Oft wird dabei sug­ge­riert, dass die­ser Aus­spruch mehr oder weni­ger die Quint­essenz ihrer Anschau­un­gen sei und die­se dia­me­tral jed­we­der »Dik­ta­tur« ent­ge­gen­ste­he, so auch der Dik­ta­tur des Pro­le­ta­ri­ats. Dass der bür­ger­li­che Main­stream, aber auch lin­ke Refor­mer, Rosa Luxem­burg wie vie­le ande­re zur Legi­ti­ma­ti­on des Kapi­ta­lis­mus miss­brau­chen, ist weder neu noch ori­gi­nell. Wer sich die Mühe macht, tie­fer in das Schrift­gut Rosa Luxem­burgs ein­zu­drin­gen, wird unschwer erken­nen, dass sie nicht zur Kron­zeu­gin bür­ger­li­cher Demo­kra­tie und bür­ger­li­che Frei­heit taugt, son­dern dass sie stets poli­tisch – prak­tisch und theo­re­tisch – kon­se­quen­te Mar­xi­stin war. Für sie stand zeit­le­bens der Sozia­lis­mus gegen den Impe­ria­lis­mus, das bedeu­tet, alles zu tun, um den Impe­ria­lis­mus als Gesell­schafts­ord­nung durch die Dik­ta­tur des Pro­le­ta­ri­ats zu stür­zen und eine neue sozia­li­sti­sche Gesell­schaft zu errich­ten. Zu lan­ge hielt sie dar­an fest, dass die deut­sche Sozi­al­de­mo­kra­tie dabei den ent­schei­den­den Bei­trag lei­sten könne.

Von Marx wis­sen wir, dass die Fra­ge, ob dem mensch­li­chen Den­ken gegen­ständ­li­che Wahr­heit zukom­me, kei­ne theo­re­ti­sche Fra­ge ist, son­dern eine prak­ti­sche. In der Pra­xis zeigt sich, ob die von Men­schen gefun­de­ne Theo­rie taug­lich ist.

Bis unmit­tel­bar vor Kriegs­aus­bruch stand die deut­sche Sozi­al­de­mo­kra­tie auf dem festen Fun­da­ment mar­xi­sti­scher Klas­sen­ana­ly­se zu den Ursa­chen impe­ria­li­sti­scher Krie­ge und den dar­aus resul­tie­ren­den Auf­ga­ben der inter­na­tio­na­len Arbei­ter­klas­se und ihrer Par­tei­en. Das Bas­ler Mani­fest von 1912, ein­stim­mig beschlos­sen, demon­strier­te ein­drucks­voll die­se Ein­heit und Geschlos­sen­heit. Ob die inter­na­tio­na­le, kampf­be­rei­te und geein­te Arbei­ter­klas­se den Sieg davon­ge­tra­gen und einen Welt­krieg ver­hin­dert hät­te, wenn die rech­ten Füh­rer der Sozi­al­de­mo­kra­tie nicht ins impe­ria­li­sti­sche Lager gewech­selt wären, wis­sen wir nicht. Aber wir kön­nen mit Sicher­heit sagen, dass der Ver­rat am Mar­xis­mus, der Ver­rat an den objek­ti­ven und sub­jek­ti­ven Inter­es­sen der Arbei­ter­klas­se mit dazu bei­getra­gen hat, den Impe­ria­lis­mus über ein Jahr­hun­dert mit all sei­nen Schrecken und Mil­lio­nen Toten auf­recht­zu­er­hal­ten und ihn immer mehr zur exi­sten­ti­el­len Bedro­hung der gan­zen Mensch­heit und des Pla­ne­ten wer­den zu lassen.

Für Rosa Luxem­burg hat die welt­ge­schicht­li­che Kata­stro­phe »die Kapi­tu­la­ti­on der inter­na­tio­na­len Sozi­al­de­mo­kra­tie« ein kon­kre­tes Datum: »Und dann kam das Uner­hör­te, das Bei­spiel­lo­se, der 4. August 1914«, schrieb Luxem­burg in ihrer aus­ge­zeich­ne­ten mar­xi­sti­schen Arbeit »Die Kri­se der Sozi­al­de­mo­kra­tie«. »Nir­gends ist die Orga­ni­sa­ti­on des Pro­le­ta­ri­ats so gänz­lich in den Dienst des Impe­ria­lis­mus gespannt (…) wie in Deutschland.«

Drei Tage nach der Kriegs­er­klä­rung Deutsch­lands an Russ­land ver­kün­de­te der SPD-Vor­sit­zen­de Haa­se im Reichs­tag: »Jetzt ste­hen wir vor der eher­nen Tat­sa­che des Krie­ges. Uns dro­hen die Schreck­nis­se der Inva­si­on. Nicht für oder gegen den Krieg haben wir zu ent­schei­den, son­dern über die Fra­ge der für die Ver­tei­di­gung des Lan­des erfor­der­li­chen Mit­tel. (…) Für unser Volk und sei­ne frei­heit­li­che Zukunft steht bei einem Sieg des rus­si­schen Des­po­tis­mus (…) viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt, die­se Gefahr abzu­wen­den und die Unab­hän­gig­keit unse­res eig­nen Lan­des sicherzustellen.«

Wenn wir nicht wüss­ten, dass die­se Wor­te vor 111 Jah­ren gespro­chen wur­den, dann hät­ten sie nahe­zu wort­gleich heut­zu­ta­ge aus einem SPD-Mun­de im Bun­des­tag kom­men können.

Rosa Luxem­burg hat in ihrer »Juni­us-Bro­schü­re« den bei­spiel­lo­sen Bruch der SPD mit den Inter­es­sen der Arbei­ter­klas­se fak­ten­reich und theo­re­tisch nach­ge­wie­sen. Für sie war klar, dass die­se SPD im Kern zu einer arbei­ter­feind­li­chen und kapi­tal­hö­ri­gen Par­tei gewor­den war.  Blicken wir auf die Geschich­te der SPD im 20. Und 21. Jahr­hun­dert, so waren es immer wie­der die rech­ten Par­tei­füh­run­gen, die dem­ago­gisch mit dem Krieg als Mit­tel der Poli­tik im Inter­es­se deut­scher und glo­bal agie­ren­der impe­ria­li­sti­scher Grup­pie­run­gen ris­kant mit­spiel­ten und es auch ver­moch­ten, die SPD auf ihren Kurs zu brin­gen. Gegen­wär­tig gibt es in der SPD nie­man­den, der sich die Frei­heit nimmt, anders zu den­ken, also aus den Erfah­run­gen der Ver­gan­gen­heit Leh­ren für die Zukunft zu zie­hen. Was sag­te Brecht so schön: Wer sich gegen den Sozia­lis­mus stellt, ist nicht ein Anders­den­ken­der, son­dern ein Nicht­den­ken­der oder ein nur Ansich­den­ken­der – ein Feind des Menschengeschlechts.