Der Leser des hier empfohlenen Buches gelangt zu der erschütternden Erkenntnis, dass ungeachtet von Demokratie und Propagierung von Menschenrechten die Barbarei in unserer Zeit die Gesellschaft in vergleichbarer Weise durchdringt wie zur Zeit des Faschismus während der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Politisch gelenkte Berichterstattung und das Weglassen von Fakten führen massenhaft zu gleichgültigem Wegschauen und vielfach zustimmender Akzeptanz von Brutalität im Umgang mit anderen Menschen und Völkern.
In Korrespondenz zum Titel »Nach Odessa« betrifft ein Themenkomplex die das Jahrhundert prägende Konfrontation des von den USA geführten Westens gegenüber Russland, die zur Zeit der Sowjetunion in der Phase der Appeasementpolitik auch während des deutschen Faschismus verdeckt fortbestand und lediglich im Zweiten Weltkrieg in der Anti-Hitlerkoalition vorübergehend überbrückt wurde. Danach wurde die Sowjetunion durch den Eisernen Vorhang von der Weltwirtschaft weitgehend abgekoppelt und im Kalten Krieg beim Wiederaufbau gehemmt, der verständliche Start anderer osteuropäischer Länder in ein antikapitalistisches Gesellschaftskonzept aber als sowjetischer Expansionismus und sowjetische Machtpolitik diffamiert. Zeitgleich trat demgegenüber die Expansion des USA-Imperialismus immer deutlicher hervor. Weltumspannend kam es durch direkte und indirekte Einflussnahme – und auch durch die Anstiftung von Kriegen – zur Installation USA-höriger Regierungen und Errichtung von militärischen Stützpunkten. Entgegen zwei Jahrzehnte zuvor gemachter Zusagen wurde die Nato bis 2009 an die Westgrenze der Russischen Föderation ausgedehnt, und der Nato-Ratsgipfel in Bukarest 2008 hatte eine Option zur späteren Mitgliedschaft der seit 1991 selbständigen Ukraine durchaus offengelassen.
Mit dem Assoziierungsabkommen vom November 2013 sollte die Ukraine zunächst in das westliche Wirtschaftssystem bei schrittweiser Aufgabe der Wirtschaftsverflechtung mit Russland einbezogen werden. Als bei Wahlen von der Mehrheit der Bevölkerung der Anschluss an die EU und von der Regierung das Assoziierungsabkommen als unvorteilhaft zurückgewiesen wurde, kam es im Februar 2014 durch direkte Einflussnahme der USA-Administration in Kiew zur Installation einer gegenüber Russland feindlich eingestellten Regierung. Vier rechtsradikale Minister der Partei Swoboda fanden darin Aufnahme, die sich zur Kollaboration mit der faschistischen Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges bekannten. Die demokratisch gewählte Regierung wurde vertrieben, die selbst ernannte im Westen sofort anerkannt und der Putsch in den Medien als demokratische Willensbekundung eines unterdrückten und nach Freiheit strebenden Volkes beschrieben. Um der Aufkündigung einer Nutzung Sewastopols durch seine Schwarzmeerflotte vorzubeugen, beschloss Russland, den in einem Verwaltungsakt 1954 vorgenommenen Anschluss der Krim an die Ukraine zu korrigieren. Im Ergebnis eines Referendums mit 96-prozentiger Zustimmung der überwiegend russisch-sprachigen Bevölkerung wurde die Halbinsel wieder in die Russische Föderation integriert.
Am 2. Mai 2014 wurden im Gewerkschaftshaus von Odessa, einer historisch gewachsenen russischen Kulturstadt mit einer zu 93 Prozent russischsprachigen Bevölkerung, 48 Menschen, die für ihre kulturelle Identität demonstriert hatten und vor einem national-chauvinistischen ukrainischen Mob dorthin geflüchtet waren, in den Flammen gefangen gehalten und qualvoll ermordet, ohne dass eine Stimme im Westen Europas dagegen Einspruch erhob. Die überwiegend russischstämmige Bevölkerung in der Ostukraine, die eine zumindest partielle Anerkennung ihrer ethnischen Authentizität anstrebte, hatte jahrelang mit Duldung westlicher Verbündeter Artilleriebeschuss durch die Regierung in Kiew und bis zum Eintreten von Russland in den Krieg als Schutzmacht 13.000 Tote zu beklagen. Als Kiew 2022 nach jahrelanger Aufrüstung die Rückeroberung der Krim zum Programm erhob, die Errichtung zahlreicher CIA -Stützpunkte entlang der ukrainischen Grenze zu Russland bekannt wurde, Garantien zu seiner Sicherheit aber nach wie vor unbeachtet beiseitegeschoben wurden und sich Russland schließlich sich zur Wehr setzte, wurde ihm die alleinige Schuld für den seitdem nahezu drei Jahren tobenden Krieg angelastet. Dabei hatte der Nato-Ratsbeschluss 2022 die in Istanbul weit vorangeschrittene Verständigung zur Beilegung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine blockiert.
Die Benennung dieser Fakten durch den Verfasser belegt, dass der Krieg durch die Politik des Westens unter Führung der USA herbeigeführt wurde, deren Ziel seit jeher darin bestand, Russland zu schwächen, um es zur Regionalmacht zu degradieren, und dass die alleinige Schuldzuweisung und Verdrehung seiner Gegenwehr in eine Bedrohung Europas eine zweckdienliche Falschinformation ist.
Ein weiterer Themenkreis behandelt den Faschismus, der im deutschen Nationalsozialismus, seinem Rassismus insbesondere gegen das Judentum, und der Menschenverachtung gegenüber slawischen Völkern seine deutlichste Ausprägung fand. Auf seine Entstehung und treibenden Kräfte in der Finanzoligarchie des III. Reichs wird ebenso wie auf die Vorreiterrolle des italienischen Faschismus und seine Ausstrahlung auf den Austrofaschismus eingegangen. In Spanien konnte sich der Faschismus bis 1975, in Portugal bis 1968 halten. Die Toleranz, die unter Adenauer in der Bundesrepublik Deutschland in der Rechtsnachfolge des III. Reiches mit Fortbestand staatstragender Institutionen in Justiz und Wirtschaft diesen Regimes entgegengebracht wurde, findet wohl darin eine Erklärung. Allen ist die Ausrottung des Marxismus auch nach dem Krieg weiterhin ein zentrales Anliegen.
In einem dritten Themenkreis geht der Autor gemäß Untertitel auf die »Formierte Gesellschaft«, eine Wortschöpfung des westdeutschen Wirtschaftswunders der sechziger Jahre ein, die zunächst zwei Jahrzehnte lang aufgrund einer krisenhaften Entwicklung nicht zum Zuge kam, zu Anfang der neunziger Jahre im Neoliberalismus aber wiederbelebt wurde. Es kam zur Umwandlung von einst staatlich geführten Dienstleistungsunternehmen, wie Post, Fernmelde- und Gesundheitswesen sowie der Bahn, in nach Profit bewertete börsenorientierte und damit private Unternehmungen. Partikularinteressen, wie sie von Gewerkschaften geltend gemacht werden, wurden zugunsten des Staatsganzen eingeschränkt und der demokratische Zugriff auf Entscheidungen des Staates schrittweise zurückgenommen. Parallel dazu waren ein Abbau von Sozialleistungen und den Preisen nachhinkende Löhne zu verzeichnen, was zu einer zunehmenden Abnahme des Anteils Lohnabhängiger am Bruttosozialprodukt und zu einer immer größer werdenden Schere zwischen arm und reich in Deutschland geführt hat. Dieses Staatsganze mutierte zum Ganzen der EU und ist seitdem weitgehend identisch mit den wirtschaftlichen und politischen Interessen der großen Industriekonzerne und des Bankwesens. Eine EU-Kommission kann sich ohne weiteres über nationale Mehrheitsentscheidungen hinwegsetzen. Dabei wird darauf geachtet, die Illusion einer demokratischen Mitwirkung des Volkes aufrecht zu erhalten oder zu schaffen.
Das Buch verhilft zu einer sachbezogenen Kenntnisnahme der gesellschaftlichen Realität, in der wir leben, und zeigt auf, dass die auf dem Grundpfeiler westlicher Werte, dem »Privateigentum an Produktionsmitten«, Herrschenden, geradezu schlafwandlerisch in der formierten Gesellschaft vom Zustandekommen einer schönen neuen Welt träumen, in Wirklichkeit aber blind sind gegenüber den Widersprüchen des Kapitalismus und Imperialismus, sodass auch weiterhin mit Zusammenbrüchen und Krisen zu rechnen ist.
Karl Wimmler: Nach Odessa. Die formierte Gesellschaft reloaded, Verlag Clio Graz 2024, 170 S., 20 €.