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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die formierte Gesellschaft

Der Leser des hier emp­foh­le­nen Buches gelangt zu der erschüt­tern­den Erkennt­nis, dass unge­ach­tet von Demo­kra­tie und Pro­pa­gie­rung von Men­schen­rech­ten die Bar­ba­rei in unse­rer Zeit die Gesell­schaft in ver­gleich­ba­rer Wei­se durch­dringt wie zur Zeit des Faschis­mus wäh­rend der ersten Hälf­te des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts. Poli­tisch gelenk­te Bericht­erstat­tung und das Weg­las­sen von Fak­ten füh­ren mas­sen­haft zu gleich­gül­ti­gem Weg­schau­en und viel­fach zustim­men­der Akzep­tanz von Bru­ta­li­tät im Umgang mit ande­ren Men­schen und Völkern.

In Kor­re­spon­denz zum Titel »Nach Odes­sa« betrifft ein The­men­kom­plex die das Jahr­hun­dert prä­gen­de Kon­fron­ta­ti­on des von den USA geführ­ten Westens gegen­über Russ­land, die zur Zeit der Sowjet­uni­on in der Pha­se der Appease­ment­po­li­tik auch wäh­rend des deut­schen Faschis­mus ver­deckt fort­be­stand und ledig­lich im Zwei­ten Welt­krieg in der Anti-Hit­ler­ko­ali­ti­on vor­über­ge­hend über­brückt wur­de. Danach wur­de die Sowjet­uni­on durch den Eiser­nen Vor­hang von der Welt­wirt­schaft weit­ge­hend abge­kop­pelt und im Kal­ten Krieg beim Wie­der­auf­bau gehemmt, der ver­ständ­li­che Start ande­rer ost­eu­ro­päi­scher Län­der in ein anti­ka­pi­ta­li­sti­sches Gesell­schafts­kon­zept aber als sowje­ti­scher Expan­sio­nis­mus und sowje­ti­sche Macht­po­li­tik dif­fa­miert. Zeit­gleich trat dem­ge­gen­über die Expan­si­on des USA-Impe­ria­lis­mus immer deut­li­cher her­vor. Welt­um­span­nend kam es durch direk­te und indi­rek­te Ein­fluss­nah­me – und auch durch die Anstif­tung von Krie­gen – zur Instal­la­ti­on USA-höri­ger Regie­run­gen und Errich­tung von mili­tä­ri­schen Stütz­punk­ten. Ent­ge­gen zwei Jahr­zehn­te zuvor gemach­ter Zusa­gen wur­de die Nato bis 2009 an die West­gren­ze der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on aus­ge­dehnt, und der Nato-Rats­gip­fel in Buka­rest 2008 hat­te eine Opti­on zur spä­te­ren Mit­glied­schaft der seit 1991 selb­stän­di­gen Ukrai­ne durch­aus offengelassen.

Mit dem Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men vom Novem­ber 2013 soll­te die Ukrai­ne zunächst in das west­li­che Wirt­schafts­sy­stem bei schritt­wei­ser Auf­ga­be der Wirt­schafts­ver­flech­tung mit Russ­land ein­be­zo­gen wer­den. Als bei Wah­len von der Mehr­heit der Bevöl­ke­rung der Anschluss an die EU und von der Regie­rung das Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men als unvor­teil­haft zurück­ge­wie­sen wur­de, kam es im Febru­ar 2014 durch direk­te Ein­fluss­nah­me der USA-Admi­ni­stra­ti­on in Kiew zur Instal­la­ti­on einer gegen­über Russ­land feind­lich ein­ge­stell­ten Regie­rung. Vier rechts­ra­di­ka­le Mini­ster der Par­tei Swo­bo­da fan­den dar­in Auf­nah­me, die sich zur Kol­la­bo­ra­ti­on mit der faschi­sti­schen Wehr­macht wäh­rend des Zwei­ten Welt­krie­ges bekann­ten. Die demo­kra­tisch gewähl­te Regie­rung wur­de ver­trie­ben, die selbst ernann­te im Westen sofort aner­kannt und der Putsch in den Medi­en als demo­kra­ti­sche Wil­lens­be­kun­dung eines unter­drück­ten und nach Frei­heit stre­ben­den Vol­kes beschrie­ben. Um der Auf­kün­di­gung einer Nut­zung Sewas­to­pols durch sei­ne Schwarz­meer­flot­te vor­zu­beu­gen, beschloss Russ­land, den in einem Ver­wal­tungs­akt 1954 vor­ge­nom­me­nen Anschluss der Krim an die Ukrai­ne zu kor­ri­gie­ren. Im Ergeb­nis eines Refe­ren­dums mit 96-pro­zen­ti­ger Zustim­mung der über­wie­gend rus­sisch-spra­chi­gen Bevöl­ke­rung wur­de die Halb­in­sel wie­der in die Rus­si­sche Föde­ra­ti­on integriert.

Am 2. Mai 2014 wur­den im Gewerk­schafts­haus von Odes­sa, einer histo­risch gewach­se­nen rus­si­schen Kul­tur­stadt mit einer zu 93 Pro­zent rus­sisch­spra­chi­gen Bevöl­ke­rung, 48 Men­schen, die für ihre kul­tu­rel­le Iden­ti­tät demon­striert hat­ten und vor einem natio­nal-chau­vi­ni­sti­schen ukrai­ni­schen Mob dort­hin geflüch­tet waren, in den Flam­men gefan­gen gehal­ten und qual­voll ermor­det, ohne dass eine Stim­me im Westen Euro­pas dage­gen Ein­spruch erhob. Die über­wie­gend rus­sisch­stäm­mi­ge Bevöl­ke­rung in der Ost­ukrai­ne, die eine zumin­dest par­ti­el­le Aner­ken­nung ihrer eth­ni­schen Authen­ti­zi­tät anstreb­te, hat­te jah­re­lang mit Dul­dung west­li­cher Ver­bün­de­ter Artil­le­rie­be­schuss durch die Regie­rung in Kiew und bis zum Ein­tre­ten von Russ­land in den Krieg als Schutz­macht 13.000 Tote zu bekla­gen. Als Kiew 2022 nach jah­re­lan­ger Auf­rü­stung die Rück­erobe­rung der Krim zum Pro­gramm erhob, die Errich­tung zahl­rei­cher CIA -Stütz­punk­te ent­lang der ukrai­ni­schen Gren­ze zu Russ­land bekannt wur­de, Garan­tien zu sei­ner Sicher­heit aber nach wie vor unbe­ach­tet bei­sei­te­ge­scho­ben wur­den und sich Russ­land schließ­lich sich zur Wehr setz­te, wur­de ihm die allei­ni­ge Schuld für den seit­dem nahe­zu drei Jah­ren toben­den Krieg ange­la­stet. Dabei hat­te der Nato-Rats­be­schluss 2022 die in Istan­bul weit vor­an­ge­schrit­te­ne Ver­stän­di­gung zur Bei­le­gung des Kon­flikts zwi­schen Russ­land und der Ukrai­ne blockiert.

Die Benen­nung die­ser Fak­ten durch den Ver­fas­ser belegt, dass der Krieg durch die Poli­tik des Westens unter Füh­rung der USA her­bei­ge­führt wur­de, deren Ziel seit jeher dar­in bestand, Russ­land zu schwä­chen, um es zur Regio­nal­macht zu degra­die­ren, und dass die allei­ni­ge Schuld­zu­wei­sung und Ver­dre­hung sei­ner Gegen­wehr in eine Bedro­hung Euro­pas eine zweck­dien­li­che Falsch­in­for­ma­ti­on ist.

Ein wei­te­rer The­men­kreis behan­delt den Faschis­mus, der im deut­schen Natio­nal­so­zia­lis­mus, sei­nem Ras­sis­mus ins­be­son­de­re gegen das Juden­tum, und der Men­schen­ver­ach­tung gegen­über sla­wi­schen Völ­kern sei­ne deut­lich­ste Aus­prä­gung fand. Auf sei­ne Ent­ste­hung und trei­ben­den Kräf­te in der Finanz­olig­ar­chie des III. Reichs wird eben­so wie auf die Vor­rei­ter­rol­le des ita­lie­ni­schen Faschis­mus und sei­ne Aus­strah­lung auf den Austro­fa­schis­mus ein­ge­gan­gen. In Spa­ni­en konn­te sich der Faschis­mus bis 1975, in Por­tu­gal bis 1968 hal­ten. Die Tole­ranz, die unter Ade­nau­er in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land in der Rechts­nach­fol­ge des III. Rei­ches mit Fort­be­stand staats­tra­gen­der Insti­tu­tio­nen in Justiz und Wirt­schaft die­sen Regimes ent­ge­gen­ge­bracht wur­de, fin­det wohl dar­in eine Erklä­rung. Allen ist die Aus­rot­tung des Mar­xis­mus auch nach dem Krieg wei­ter­hin ein zen­tra­les Anliegen.

In einem drit­ten The­men­kreis geht der Autor gemäß Unter­ti­tel auf die »For­mier­te Gesell­schaft«, eine Wort­schöp­fung des west­deut­schen Wirt­schafts­wun­ders der sech­zi­ger Jah­re ein, die zunächst zwei Jahr­zehn­te lang auf­grund einer kri­sen­haf­ten Ent­wick­lung nicht zum Zuge kam, zu Anfang der neun­zi­ger Jah­re im Neo­li­be­ra­lis­mus aber wie­der­be­lebt wur­de. Es kam zur Umwand­lung von einst staat­lich geführ­ten Dienst­lei­stungs­un­ter­neh­men, wie Post, Fern­mel­de- und Gesund­heits­we­sen sowie der Bahn, in nach Pro­fit bewer­te­te bör­sen­ori­en­tier­te und damit pri­va­te Unter­neh­mun­gen. Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen, wie sie von Gewerk­schaf­ten gel­tend gemacht wer­den, wur­den zugun­sten des Staats­gan­zen ein­ge­schränkt und der demo­kra­ti­sche Zugriff auf Ent­schei­dun­gen des Staa­tes schritt­wei­se zurück­ge­nom­men. Par­al­lel dazu waren ein Abbau von Sozi­al­lei­stun­gen und den Prei­sen nach­hin­ken­de Löh­ne zu ver­zeich­nen, was zu einer zuneh­men­den Abnah­me des Anteils Lohn­ab­hän­gi­ger am Brut­to­so­zi­al­pro­dukt und zu einer immer grö­ßer wer­den­den Sche­re zwi­schen arm und reich in Deutsch­land geführt hat. Die­ses Staats­gan­ze mutier­te zum Gan­zen der EU und ist seit­dem weit­ge­hend iden­tisch mit den wirt­schaft­li­chen und poli­ti­schen Inter­es­sen der gro­ßen Indu­strie­kon­zer­ne und des Bank­we­sens. Eine EU-Kom­mis­si­on kann sich ohne wei­te­res über natio­na­le Mehr­heits­ent­schei­dun­gen hin­weg­set­zen. Dabei wird dar­auf geach­tet, die Illu­si­on einer demo­kra­ti­schen Mit­wir­kung des Vol­kes auf­recht zu erhal­ten oder zu schaffen.

Das Buch ver­hilft zu einer sach­be­zo­ge­nen Kennt­nis­nah­me der gesell­schaft­li­chen Rea­li­tät, in der wir leben, und zeigt auf, dass die auf dem Grund­pfei­ler west­li­cher Wer­te, dem »Pri­vat­ei­gen­tum an Pro­duk­ti­ons­mit­ten«, Herr­schen­den, gera­de­zu schlaf­wand­le­risch in der for­mier­ten Gesell­schaft vom Zustan­de­kom­men einer schö­nen neu­en Welt träu­men, in Wirk­lich­keit aber blind sind gegen­über den Wider­sprü­chen des Kapi­ta­lis­mus und Impe­ria­lis­mus, sodass auch wei­ter­hin mit Zusam­men­brü­chen und Kri­sen zu rech­nen ist.

 Karl Wimm­ler: Nach Odes­sa. Die for­mier­te Gesell­schaft rel­oa­ded, Ver­lag Clio Graz 2024, 170 S., 20 €.