Wer nach den Kräften sucht, die mithalfen, die NS-Bewegung an die Macht zu bringen und die dann auch mithalfen, diese Macht zu befestigen, der wird am Protestantismus nicht vorbeikommen. 70 bis 80 Prozent der evangelischen Pfarrer vertraten konservativ-nationale Anschauungen, wählten in der frühen Weimarer Republik meist die rechte DNVP wegen deren Ablehnung der Demokratie, des Liberalismus und des Pazifismus. Diese Ablehnung findet sich auch in der NS-Bewegung, die zunehmend den Kampf gegen das Judentum hervorhob. Das gefiel dem Großteil des Protestantismus, war das doch auch eine Kernforderung des späten Martin Luther, dargestellt auf 135 Seiten in seinem Buch »Von den Jüden und ihren Lügen« von 1543, eine Art Vermächtnis von ihm. Ein Schlüsselsatz in diesem menschenmordenden Machwerk gegen die »Jüden« lautet: »Wir wollen gern Geschenk dazu geben, das wir sie loswerden. Denn sie sind uns eine schwere Last, wie eine Plage, Pestilenz und eitel Unglück in unserem Lande.« Über den preußischen Historiker Heinrich von Treitschke wurden diese Worte in seiner Schrift zum Antisemitismusstreit 1879 bekanntlich auf die Formel gebracht: »Die Juden sind unser Unglück« – das war später auch die Parole des nationalsozialistischen Hetzblattes Der Stürmer des Julius Streicher.
Typischer Vertreter des Protestantismus in jenen Jahren war der Landesbischof der Landeskirche Hannovers, August Marahrens, Vorsitzender des Lutherischen Weltkonvents von 1935 bis 1945, der am 31. August 1939 zum Sprecher des dreiköpfigen Geistlichen Vertrauensrates berufen wurde und damit während des Krieges »für die gesamte evangelische Christenheit des Reiches« sprach. Der Kirchenhistoriker Klaus Scholder bezeichnet ihn zu Recht als »politisch gläubigen Anhänger Hitlers«, der sich 1933 in einem Brief an Hitler selbst rühmte, dass sein »Haus seit Jahren mit Hingabe in der Bewegung steht«. Kurz zuvor, am 25. April 1933, hatte er als Mitglied eines Drei-Männer-Kollegiums, das bevollmächtigt war, für sämtliche Kirchen in Deutschland zu sprechen, in einer »Kundgebung« erklärt: »Zu dieser Wende der Geschichte (gemeint: die Machtübergabe an Hitler am 30. Januar 1933, H.H.) sprechen wir ein dankbares Ja. Gott hat sie uns geschenkt. Ihm sei die Ehre!«
Befreundet war Marahrens mit Wilhelm Frick, dem ersten NS-Minister einer Landesregierung, und zwar 1930/31 in Thüringen als Innen- und Volksbildungsminister, der am 05. 04. 1930 den Erlass »Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum« herausgegeben hatte. Frick, der 1933 Reichsinnenminister wurde, endete am 16.10.1946 als Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg am Galgen. Seine Rassenlehre hatte der hannoversche Landesbischof unterstützt. Im Januar 1943 hatte der in einer Eingabe an das Reichsinnenministerium geschrieben: »Die Rassenfrage ist als völkisch-politische Frage durch die verantwortliche politische Führung zu lösen. Sie allein hat das Recht, die notwendigen Maßnahmen zur Reinerhaltung des deutschen Blutes und zur Stärkung der völkischen Kraft zu treffen.« Gelernt hatte Marahrens seine Rassenlehre von dem aus Fallersleben stammenden Reichskirchenminister Hanns Kerrl, dessen Fünf Grundsätze, sich auf Luther berufend, er für sich und seine Kirchenregierung im Juni 1939, leicht überarbeitet, übernommen hatte. Darin heißt es: »Die Evangelische Kirche ehrt im Staate eine von Gott gesetzte Ordnung. Sie fordert von allen ihren Gliedern treuen Dienst in dieser Ordnung und weist sie an, sich in das völkisch-politische Aufbauwerk des Führers mit voller Hingabe einzufügen. (…) Im Bereich des völkischen Lebens ist eine ernste und verantwortungsbewusste Rassenpolitik zur Reinerhaltung unseres Volkes erforderlich.«
Solche Aussagen genügten, um Marahrens bald darauf zum Sprecher des Protestantismus zu machen, der mithelfen würde, den geplanten Vernichtungskrieg zu rechtfertigen. Am 2. September 1939 heißt es in seinem Aufruf: »Seit dem gestrigen Tage steht unser deutsches Volk im Kampf für das Land seiner Väter, damit deutsches Blut zu deutschem Blut heimkehren darf.« Und zum Überfall auf die Sowjetunion versichert er in einem Telegramm »Ihnen, mein Führer, unwandelbare Treue« und Gebetshilfe dafür, »den Pestherd zu beseitigen, damit in ganz Europa unter Ihrer Führung eine neue Ordnung erstehe«. Dann, drei Jahre später, nach dem »verbrecherischen Anschlag auf unseren Führer«, so Marahrens »tief erschüttert«, der Höhepunkt seines unseligen Wirkens, der Dank des Landesbischofs Marahrens »für die gnädige Errettung des Führers« am 20. Juli 1944, der nach seiner Anordnung in den Kirchengemeinden ebenfalls Ausdruck finden sollte. Jetzt, da der Glaube an den erwarteten Siegfrieden brüchig wurde, musste mit Hinweis auf den »Heiligen barmherzigen Gott« zum Durchhalten aufgerufen werden: »Erhalte unserem Volke in unbeirrter Treue Mut und Opfersinn«, also: Durchhalten beim Töten und Getötet-werden. Noch am 15. Februar 1945 treibt der Landesbischof in einem seiner »Wochenbriefe« Soldaten und Bevölkerung mit diesen Worten in den Tod: »Möchte es dem tapferen und opfervollen Widerstand der Soldaten und dem hingebungsvollen Einsatz der Bevölkerung gelingen, dem gewaltigen Ansturm Einhalt zu gebieten.«
Zur ersten Nachkriegssynode im April 1947 gab der Landesbischof, angeblich »aus freiem Ermessen«, seinen Entschluss bekannt, in den Ruhestand zu gehen. In der Diskussion dazu konnte von einem führenden Synodalen unwidersprochen behauptet werden: »Wir kennen unseren Landesbischof. Es ist die übereinstimmende Meinung in der Landeskirche, dass er der Exponent des Widerstandes gegen den Nazismus gewesen ist.« Entsprechend heißt es in der »Verlautbarung an die Gemeinden der Evang.-Luth. Landeskirche Hannovers«: »Die Landessynode, welche am 15. April 1947 zusammengetreten ist, hat ihm im Blick auf seine Amtsführung als Ganzes ihr volles Vertrauen und ihre bleibende Dankbarkeit ausgesprochen.« Im Protokoll wird dazu festgestellt: »Einstimmige Annahme«.