Sich erregen ist nicht per se zu kritisieren. Es gibt genügend Tatbestände, die Kopfschütteln und auch mehr verdienen. Aber wenn die Erregung den Raum des Rechts erreicht, ist Vorsicht geboten. Natürlich lassen sich Gesetze auslegen oder auch ändern. Aber nicht umsonst gibt es dafür Regeln. Die kommen den Erregten sicher manchmal altmodisch vor. Sie haben aber letztlich einen guten Grund, sie sollen gewährleisten, einen Sachverhalt sine ira et studio (= ohne Hass und Eifer) zu beurteilen, selbst wenn er auf den ersten, meist flüchtigen Blick eine kräftige Reaktion des Staates erforderte.
Beispiele gefällig? Der Hamburger Innensenator Andy Grote schlug jüngst vor, Straftäter (wieder) nach Afghanistan abzuschieben und wurde breit unterstützt, auch vom Bundeskanzler. Dass in diesem von den Taliban regierten Land keine rechtsstaatlichen Verhältnisse existieren, dürfte kaum außer Frage stehen. Aber der Schutz unserer Bürger und Bürgerinnen sollte, so die fromme Denkungsart des Senators, vom Applaus eilfertiger Abschiebungsapostel begleitet, doch vorgehen. Carsten Linnemann, CDU-Generalsekretär sekundierte in der Welt: »Man muss es nur wollen.«
Das wirft für mich die Frage auf, ob die Bundesrepublik nicht mehr in der Lage ist, ihre Bürgerinnen und Bürger auf ihrem eigenen Territorium zu beschützen. Sind wir also islamistischen Straftätern wehrlos ausgeliefert, wenn wir sie nicht abschieben? Das ähnelt schon sehr den Fantasien der AfD, die diesen Staat bekanntermaßen für unfähig und in den Händen vermeintlicher linker Eliten wähnt. Und außerdem: Stellen wir uns einmal vor, der Täter von Mannheim könnte wirklich ohne deutsches Strafverfahren nach Afghanistan abgeschoben werden und würde dort als Held gefeiert, der den Ungläubigen in Deutschland einen wichtigen Schlag versetzt habe. Ist das wirklich das, was wir wollen? Wenig wahrgenommen wurde da die Erklärung der Innenministerin, die Abschiebung solle erst nach Verbüßung der Strafe erfolgen.
Weiter sind da schon die erregten Versuche, tatsächliche oder vermeintliche antisemitische Stellungnahmen per Gesetz oder Verordnung verbieten zu lassen. Genau das wollte der Berliner Kultursenator Joe Chialo mit einer Klausel, nach der die Bewilligung von Fördergeldern unter anderem an ein Bekenntnis gegen Antisemitismus auch im Hinblick auf Israel verbunden werden sollte – ein Versuch, der schnellstens wieder im senatorischen Papierkorb verschwand, als sich sein Autor an die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes erinnern lassen musste. Das hinderte allerdings die Berliner Justizsenatorin Felor Badenberg nicht, diesen Vorschlag wieder aufzugreifen.
Ähnlich wie Chialo scheint es der Bundesforschungsministerin Stark-Watzinger mit dem von ihr nach Medienberichten angestoßenen Versuch ergangen zu sein, auf Grund eines kritischen Briefes von Berliner Hochschullehrerinnen und -lehrern zur Räumung der FU Berlin nach propalästinensischen Protesten die Möglichkeit prüfen zu lassen, ob gegen sie nicht nur strafrechtliche und disziplinarische Maßnahmen eingeleitet, sondern auch Fördermittel gestrichen werden könnten. Inzwischen bestreitet die Ministerin, davon gewusst zu haben und ließ den Kopf ihrer Staatsekretärin rollen. Da muss man sich neben allem anderen fragen, wie das Bundesministerium disziplinarische Maßnahmen gegen Landesbedienstete ergreifen können soll.
So erbärmlich antisemitische Ausfälle auch sein mögen, rechtfertigt das, Denk- und Sprachverbote per Regierungsanweisung? Glücklicherweise wurden diese Vorstöße schnell und verhältnismäßig geräuschlos beerdigt, ohne dass Gerichte tätig werden mussten. Erregung und Empörung bleiben eben doch schlechte Ratgeber.
Und dann ist da noch Sylt. Demonstrativ stellen sich große Unternehmen gegen die privaten Auswüchse ihrer johlenden Jungmitarbeiter und -mitarbeiterinnen. Tatsächlich könnten hier Straftaten begangen worden sein, Volksverhetzung und auch das Zeigen nationalsozialistischer Zeichen. Doch nicht nur die arbeitsrechtliche Community warnt vor den durchaus zweifelhaften Erfolgsaussichten von Kündigungen. Professor und Rechtsanwalt Arnd Diringer geht sogar so weit, den »Opfern« quasi schon einmal per öffentlicher Aufforderung in der »WELT« Rechtskundeunterricht für erfolgreiche Kündigungsschutzklagen zu erteilen. Auf jeden Fall ist auch hier die Rechtslage nicht so glasklar im Sinne einer Bestrafung, einer Kündigung oder eines Hausverbots an der Universität, wie manche zu meinen glauben.
Die Zahl der Beispiele ließe sich mühelos vervielfachen und wird wohl auch in Zukunft konstant hoch bleiben. Viele machen für diese Auswüchse des »Politikerzorns« und veröffentlichter Stimmen die neuen Medien verantwortlich, die man irrtümlich immer noch »sozial« nennt. Dass sie zu solchen Reaktionen geradezu herausfordern, ist unbestritten. Aber müssen sich die ach so Erregten diesem Druck immer anpassen, der ohnehin nach zehn Tagen oder zwei Wochen verdunstet ist? Die Erregungsmaschine zu bedienen, ist verführerisch, aber auch gefährlich. Denn wenn – wie häufig – auf ihr Ingangsetzen keine nennenswerten Taten folgen, wird nur das Narrativ vom handlungsunfähigen oder -unwilligen Staat genährt. Das spielt meist rechten Kräften mit ihrer Systemkritik in die Karten und erreicht damit eher das Gegenteil als die erhofften Zustimmungsreaktionen. Deshalb: Finger weg von der Erregungsmaschine.