Neben der Tür in seiner winzigen Wohnung hing schon immer dieser Holzkopf. Die Wohnung befand sich in der vierten Etage eines jener Hochhäuser, die die DDR in den siebziger Jahren auf der Fischerinsel im Herzen der Hauptstadt errichtet hatte. Hinsichtlich ihrer Größe traf Heinrich Zilles Satz hundertprozentig zu: »Man kann einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen wie mit einer Axt.«
Der Ausblick auf die Spree mit der Mühlendammschleuse und die alten Schiffe am Historischen Hafen am Märkischen Ufer entschädigten allerdings ein wenig. Die Wände waren voll mit Bildern und Collagen, die Herlt in seinem »Atelier« – dem winzigen Schlafzimmer – geschaffen hatte. Dieser Holzkopf war die einzige Plastik in der Wohnung. Er habe sie mir zugedacht, sagte seine Lebensgefährtin, und gab mir das kiloschwere Stück, als sie die Wohnung räumte.
Es zeigte im Halbrelief einen bärtigen Mann mit Schild und Schwert. Kragen und Kappe deuteten auf einen Adligen und die Ausführung auf einen Amateur: Die Proportionen stimmten irgendwie nicht, die Details waren dilettantisch ausgearbeitet. Ein touristisches Souvenir, Mitbringsel aus dem Urlaub, Gastgeschenk gelegentlich einer Dienstreise? Keine Ahnung. Auf der unbearbeiteten Rückseite des Holzes war ein Name eingeritzt: Walukiewicz. War das ein Ort oder der Name des Künstlers? Google wusste nichts dazu, aber der Schriftzug deutete zumindest auf die Himmelsrichtung seiner Herkunft. Ich erkundigte mich bei meiner langjährigen Druckerei in Warschau. Und siehe da: Dort gab es, einige kunstsinnige Menschen. Ja, das sei von Kazimierz Walukiewicz aus Bydgoszsz, einem Autodidakten, ließen sie mich wissen. Er stamme aus dem früheren polnischen Osten, aus Nowogródek, was heute in Belarus liegt, kämpfte in der polnischen Heimatarmee gegen faschistische Okkupanten wie gegen ukrainische Nationalisten und strandete 1947 in Bromberg, was seither wieder Bydgoszsz heiße. Dort habe er zunächst bei Sklejki, einer Holzfabrik, gearbeitet, war dann beim Gummiproduzenten Stomil und schließlich bis zur Rente in der Zweiradfabrik Romet. Anfang der sechziger Jahre, noch keine vierzig, habe er angefangen zu schnitzen. Und da er krank am Herzen war, arbeitete er mit dem weichen Holz der Linde. Vorzugsweise Persönlichkeiten aus der polnischen Historie habe er Gestalt verliehen wie jenem Edelmann, den ich jetzt habe, der aber von ihnen nicht identifiziert werden könnte.
Richtig berühmt geworden sei Walukiewicz mit dem Bildnis seines/ihres Landsmannes, der als Papst Johannes Paul II. tätig war. Danach durfte der Freizeit-Bildhauer in Paris, München und sonstwo ausstellen. Er erfreute sich der Aufmerksamkeit. 1993, so erfuhr ich weiter, sei Walukiewicz mit 71 Jahren verstorben.
Woher, wie gesagt, Günter Herlt diesen Holzkopf hatte und ob ihm dessen Schöpfer bekannt gewesen ist, konnte ich ihn nicht mehr fragen. Der einstige Korrespondent des DDR-Fernsehens in Bonn und in den achtziger Jahren Chef der Adlershofer TV-Reihe »Alltag im Westen« ist nicht mehr – er verstarb wenige Tage vor Weihnachten mit 89. In den sechziger Jahren schrieb er Reden für Albert Norden, den Chefideologen im Politbüro und Sohn eines Rabbiners. Und Herlt schrieb weiter, insbesondere nach dem Untergang der DDR. Wir kamen in den neunziger Jahren zusammen, er publizierte in fast jedem Jahr ein neues Buch. Herlt hatte, wie das neudeutsch heißt, eine gewaltige Fanbase. Sie teilte seinen Humor, seine Überzeugung, seine begründete Distanz zu diesem Staat, der nicht der seine war.
Diese Geschichte von Walukiewicz und dem Holzkopf, falls sie ihm unbekannt gewesen ist, hätte ihm gewiss gefallen. Mitte Januar wurde seine Urne auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin beigesetzt, viele Freunde und Fernsehkollegen waren gekommen, der einstige Nachrichtensprecher Klaus Feldmann hielt die Rede. Das heißt: Er trug sie vor. Den Text hatte Günter Herlt selbst geschrieben.