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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Endlichkeit des Seins

Wenn Ange­la Mer­kel aus ihrem Woh­nungs­fen­ster schaut, blickt sie direkt auf eine Bau­stel­le. Und das schon seit 2013. Seit­her wird das Welt­kul­tur­er­be auf der Ber­li­ner Muse­ums­in­seln saniert. Der Bau war vor dem Ersten Welt­krieg begon­nen und erst 1930 been­det wor­den: in der Mit­te der Per­ga­mon­al­tar, der dem Muse­um sei­nen Namen gab, links und rechts ein Nord- und ein Süd­flü­gel. Dort zu sehen sind isla­mi­sche Kunst, Expo­na­te archäo­lo­gi­scher Aus­gra­bun­gen in Vor­der­asi­en und monu­men­ta­le Wer­ke der grie­chi­schen und römi­schen Bau­kunst – drei Muse­en unter einem Dach, das inzwi­schen undicht ist. Des­halb wird der Kom­plex nun seit Jah­ren von Grund auf saniert. Und weil der Umbau so gewal­tig ist, wur­de das Welt­kul­tur­er­be erst teil­wei­se, und im Okto­ber vor vier Jah­ren voll­stän­dig für Besu­cher geschlos­sen. Ursprüng­lich, also so um 2000, hat­te man für die Sanie­rung fünf Jah­re und 250 Mil­lio­nen D-Mark geplant, inzwi­schen rech­net man mit 24 Jah­ren und andert­halb Mil­li­ar­den Euro. Erst 2037 soll der Süd­flü­gel wie­der zugäng­lich sein.

Am Wochen­en­de um den Frau­en­tag her­um ließ man für drei Tage Publi­kum in die­sen Süd­flü­gel ein, damit es einen letz­ten Blick auf das Isch­tar-Tor und die Pro­zes­si­ons­stra­ße von Baby­lon sowie das Markt­tor von Milet wer­fen konn­te. Das Tor aus gla­sier­ten blau­en Kacheln, inzwi­schen über zwei­ein­halb­tau­send Jah­re alt, gehör­te zu den sie­ben Welt­wun­dern der Anti­ke, das ande­re, ein paar hun­dert Jah­re jün­ger und aus Mar­mor, ist nicht min­der impo­sant. Wobei mich die aus­ge­stell­ten Fotos aus den spä­ten 1920er Jah­ren fast noch mehr beein­druck­ten. Da sich­te­ten und sor­tier­ten Män­nern in Kit­teln die meh­re­re zehn­tau­send Zie­gel­bruch­stücke, aus denen sie dann das baby­lo­ni­sche Tor und die Mau­ern zusam­men­füg­ten. Und alles ohne Com­pu­ter. Wahnsinn.

Die Ein­tritts­kar­ten für das letz­te Defi­lee waren rasch im Inter­net ver­kauft, ab und an öff­ne­te sich aber ein Zeit­fen­ster für jene, die gedul­dig an der Kas­se in der James-Simon-Gale­rie aus­harr­ten. Inlän­di­sche wie aus­wär­ti­ge Besu­cher – es waren weit über zehn­tau­send an jenen drei Tagen – durch­schrit­ten die Längs­ach­se des Süd­flü­gels, und man­cher nahm erkenn­bar Abschied für immer: Nicht jeder dürf­te bei der Wie­der­eröff­nung im Jahr 2037 noch unter uns wei­len. Im Ange­sicht des uralten Gemäu­ers über­kam auch mich ein Gefühl von Ewig­keit und Vergänglichkeit.

Die Pla­sti­ken und Wand­re­li­efs, Stand­bil­der und Skulp­tu­ren im Vor­der­asia­ti­schen Muse­um waren bereits aus­ge­la­gert, Sockel­stümp­fe und Löcher in den Wän­den ver­rie­ten, dass das, was hier einst stand oder hing, inzwi­schen im Depot oder in der Werk­statt zum Restau­rie­ren ist. Auf die­se Wei­se hat­te man die nöti­ge Bau­frei­heit her­ge­stellt. Nur die baby­lo­ni­schen Groß­ar­chi­tek­tu­ren ver­blei­ben am Ort und erhal­ten, wie es heißt, eine begeh­ba­re, kli­ma­ti­sier­te Schutz­ein­hau­sung. Und so wird es wohl auch den Bau­ten im »Milets­saal« erge­hen, durch den man durchs Isch­tartor gelangt. Das soge­nann­te Markt­tor von Milet (heu­te in der Tür­kei) war einst in der Anti­ke durch ein Erd­be­ben zer­stört wor­den. Um 1900 gru­ben Mit­ar­bei­ter der Ber­li­ner Muse­en die Trüm­mer aus und schick­ten sie in 533 Kisten an die Spree – nach ordent­li­chen Ver­hand­lun­gen, wie es heißt, mit den dafür Zustän­di­gen des Osma­ni­schen Rei­ches. Muse­ums­di­rek­tor und Archi­tekt in Ber­lin krieg­ten sich aber in die Wol­le: Der eine woll­te das wuch­ti­ge Markt­tor im Saal der römi­schen Archi­tek­tur auf­rich­ten las­sen, der ande­re eben wegen sei­ner Dimen­si­on unter frei­em Him­mel. Der Kai­ser sprach 1911 das Macht­wort. Was aus­nahms­wei­se mal rich­tig war: Das anti­ke Bau­werk war und ist an eben die­sem Ort ein Publi­kums­ma­gnet und sorgt für die welt­wei­te Pro­mi­nenz der Museumsinsel.

Die Räu­me links und rechts der Pro­zes­si­ons­stra­ße mit den schrei­ten­den Löwen ste­hen seit Lan­gem leer. Blan­ke Zie­gel, vom Putz befreit, schau­en einen trost­los an. In einem Raum jedoch ist eine Vitri­ne noch oder schon wie­der gefüllt. Mit Gegen­stän­den, die man beim Aus­bau der Expo­na­te 2023/​24 gefun­den hat: Hin­ter­las­sen­schaf­ten von Bau­ar­bei­tern und Besu­chern aus den fünf­zi­ger Jah­ren. Ziga­ret­ten­schach­teln (»GOLD SABA. Die berühm­te GARBÁTY Mischung extra stark. Ägyp­ti­sches For­mat«), S-Bahn-Fahr­kar­ten, Klein­geld, eine Bro­schü­re (»Schät­ze der Welt­kul­tur von der Sowjet­uni­on geret­tet. 1958 Staat­li­che Muse­en zu Ber­lin«), ein zer­ris­se­nes Pass­bild (Kom­men­tar der Aus­stel­ler: »Han­delt es sich um das Por­trät eines jun­gen Hand­wer­kers? Eines dama­li­gen Mit­ar­bei­ters? Und wer war so zor­nig oder unglück­lich, dass er die Fet­zen unter der Ste­le des Asar­had­don ver­steckt hat­te?«) Bei den Schnaps­fläsch­chen stellt sich die Fra­ge nach Sinn und Ver­wen­dung gewiss nicht: Wer den 38-pro­zen­ti­gen Wein­brand­ver­schnitt namens »Pul­ly« (55 ccm für eine Mark) sich hin­ter die Bin­de goss und die lee­ren Pül­le­ken im Mau­er­werk ent­sorg­te, scheint wohl klar.

Die­se gegen­wär­ti­gen Devo­tio­na­li­en – wobei: die stam­men inzwi­schen ja auch schon aus dem ver­gan­ge­nen Jahr­tau­send – machen den Abschied hei­ter. Die Idee, sie aus­zu­stel­len, ver­dient Bei­fall. Dar­auf muss man erst ein­mal kom­men: eine Ziga­ret­ten­schach­tel in der Anti­ken­samm­lung zu ver­stecken. Von wegen »ägyp­ti­sches Format«.

Ver­schie­de­ne Durch­gän­ge sind von gelb­schwar­zen Pla­stik­bän­dern ver­sperrt, an der einen Pfor­te hat jemand ein weiß­ro­tes Absperr­band (Auf­druck: »muse­ums­in­sel ber­lin«) lie­be­voll zur Schlei­fe gewun­den. Ach ja, Abschied tut weh, nur mäßig gedämpft von der Aus­sicht, dass dem­nächst eine Pho­to­vol­ta­ik-Anla­ge auf dem Dach die Räu­me erleuch­ten und kli­ma­ti­sie­ren und eine Archäo­lo­gi­sche Pro­me­na­de das Bode-, das Per­ga­mon- und das Neue Muse­um unter­ir­disch ver­bin­den wird. Drau­ßen scheint die März­son­ne, eine Stu­den­tin ent­lockt einer Vio­li­ne eini­ge Töne. Die Mas­sen strö­men über die Spree­brücke zum Muse­ums­ein­gang, auf den Stu­fen zur James-Simon-Gale­rie rasten Fami­li­en. Vor dem Wohn­haus von Ange­la Mer­kel am Kup­fer­gra­ben ste­hen drei Poli­zi­sten, zwei mehr als sonst üblich. Viel­leicht ist jemand bei ihr zu Besuch, sagt mei­ne Tau­be, um sich den Süd­flü­gel anzusehen.