Wenn Angela Merkel aus ihrem Wohnungsfenster schaut, blickt sie direkt auf eine Baustelle. Und das schon seit 2013. Seither wird das Weltkulturerbe auf der Berliner Museumsinseln saniert. Der Bau war vor dem Ersten Weltkrieg begonnen und erst 1930 beendet worden: in der Mitte der Pergamonaltar, der dem Museum seinen Namen gab, links und rechts ein Nord- und ein Südflügel. Dort zu sehen sind islamische Kunst, Exponate archäologischer Ausgrabungen in Vorderasien und monumentale Werke der griechischen und römischen Baukunst – drei Museen unter einem Dach, das inzwischen undicht ist. Deshalb wird der Komplex nun seit Jahren von Grund auf saniert. Und weil der Umbau so gewaltig ist, wurde das Weltkulturerbe erst teilweise, und im Oktober vor vier Jahren vollständig für Besucher geschlossen. Ursprünglich, also so um 2000, hatte man für die Sanierung fünf Jahre und 250 Millionen D-Mark geplant, inzwischen rechnet man mit 24 Jahren und anderthalb Milliarden Euro. Erst 2037 soll der Südflügel wieder zugänglich sein.
Am Wochenende um den Frauentag herum ließ man für drei Tage Publikum in diesen Südflügel ein, damit es einen letzten Blick auf das Ischtar-Tor und die Prozessionsstraße von Babylon sowie das Markttor von Milet werfen konnte. Das Tor aus glasierten blauen Kacheln, inzwischen über zweieinhalbtausend Jahre alt, gehörte zu den sieben Weltwundern der Antike, das andere, ein paar hundert Jahre jünger und aus Marmor, ist nicht minder imposant. Wobei mich die ausgestellten Fotos aus den späten 1920er Jahren fast noch mehr beeindruckten. Da sichteten und sortierten Männern in Kitteln die mehrere zehntausend Ziegelbruchstücke, aus denen sie dann das babylonische Tor und die Mauern zusammenfügten. Und alles ohne Computer. Wahnsinn.
Die Eintrittskarten für das letzte Defilee waren rasch im Internet verkauft, ab und an öffnete sich aber ein Zeitfenster für jene, die geduldig an der Kasse in der James-Simon-Galerie ausharrten. Inländische wie auswärtige Besucher – es waren weit über zehntausend an jenen drei Tagen – durchschritten die Längsachse des Südflügels, und mancher nahm erkennbar Abschied für immer: Nicht jeder dürfte bei der Wiedereröffnung im Jahr 2037 noch unter uns weilen. Im Angesicht des uralten Gemäuers überkam auch mich ein Gefühl von Ewigkeit und Vergänglichkeit.
Die Plastiken und Wandreliefs, Standbilder und Skulpturen im Vorderasiatischen Museum waren bereits ausgelagert, Sockelstümpfe und Löcher in den Wänden verrieten, dass das, was hier einst stand oder hing, inzwischen im Depot oder in der Werkstatt zum Restaurieren ist. Auf diese Weise hatte man die nötige Baufreiheit hergestellt. Nur die babylonischen Großarchitekturen verbleiben am Ort und erhalten, wie es heißt, eine begehbare, klimatisierte Schutzeinhausung. Und so wird es wohl auch den Bauten im »Miletssaal« ergehen, durch den man durchs Ischtartor gelangt. Das sogenannte Markttor von Milet (heute in der Türkei) war einst in der Antike durch ein Erdbeben zerstört worden. Um 1900 gruben Mitarbeiter der Berliner Museen die Trümmer aus und schickten sie in 533 Kisten an die Spree – nach ordentlichen Verhandlungen, wie es heißt, mit den dafür Zuständigen des Osmanischen Reiches. Museumsdirektor und Architekt in Berlin kriegten sich aber in die Wolle: Der eine wollte das wuchtige Markttor im Saal der römischen Architektur aufrichten lassen, der andere eben wegen seiner Dimension unter freiem Himmel. Der Kaiser sprach 1911 das Machtwort. Was ausnahmsweise mal richtig war: Das antike Bauwerk war und ist an eben diesem Ort ein Publikumsmagnet und sorgt für die weltweite Prominenz der Museumsinsel.
Die Räume links und rechts der Prozessionsstraße mit den schreitenden Löwen stehen seit Langem leer. Blanke Ziegel, vom Putz befreit, schauen einen trostlos an. In einem Raum jedoch ist eine Vitrine noch oder schon wieder gefüllt. Mit Gegenständen, die man beim Ausbau der Exponate 2023/24 gefunden hat: Hinterlassenschaften von Bauarbeitern und Besuchern aus den fünfziger Jahren. Zigarettenschachteln (»GOLD SABA. Die berühmte GARBÁTY Mischung extra stark. Ägyptisches Format«), S-Bahn-Fahrkarten, Kleingeld, eine Broschüre (»Schätze der Weltkultur von der Sowjetunion gerettet. 1958 Staatliche Museen zu Berlin«), ein zerrissenes Passbild (Kommentar der Aussteller: »Handelt es sich um das Porträt eines jungen Handwerkers? Eines damaligen Mitarbeiters? Und wer war so zornig oder unglücklich, dass er die Fetzen unter der Stele des Asarhaddon versteckt hatte?«) Bei den Schnapsfläschchen stellt sich die Frage nach Sinn und Verwendung gewiss nicht: Wer den 38-prozentigen Weinbrandverschnitt namens »Pully« (55 ccm für eine Mark) sich hinter die Binde goss und die leeren Pülleken im Mauerwerk entsorgte, scheint wohl klar.
Diese gegenwärtigen Devotionalien – wobei: die stammen inzwischen ja auch schon aus dem vergangenen Jahrtausend – machen den Abschied heiter. Die Idee, sie auszustellen, verdient Beifall. Darauf muss man erst einmal kommen: eine Zigarettenschachtel in der Antikensammlung zu verstecken. Von wegen »ägyptisches Format«.
Verschiedene Durchgänge sind von gelbschwarzen Plastikbändern versperrt, an der einen Pforte hat jemand ein weißrotes Absperrband (Aufdruck: »museumsinsel berlin«) liebevoll zur Schleife gewunden. Ach ja, Abschied tut weh, nur mäßig gedämpft von der Aussicht, dass demnächst eine Photovoltaik-Anlage auf dem Dach die Räume erleuchten und klimatisieren und eine Archäologische Promenade das Bode-, das Pergamon- und das Neue Museum unterirdisch verbinden wird. Draußen scheint die Märzsonne, eine Studentin entlockt einer Violine einige Töne. Die Massen strömen über die Spreebrücke zum Museumseingang, auf den Stufen zur James-Simon-Galerie rasten Familien. Vor dem Wohnhaus von Angela Merkel am Kupfergraben stehen drei Polizisten, zwei mehr als sonst üblich. Vielleicht ist jemand bei ihr zu Besuch, sagt meine Taube, um sich den Südflügel anzusehen.