Offizielles Gedenken und politische Wirklichkeit haben seit jeher wenig miteinander zu tun. Das gilt auch für den 8. Mai. Im kollektiven Bewusstsein der Deutschen ist er als Tag des Kriegsendes verankert, nicht aber als Tag der Befreiung vom Faschismus. Die überwiegende Mehrheit der Deutschen war mit keinem anderen Regime so verbunden wie mit dem Naziregime. Wie sollten sie da seinen Untergang als Befreiung empfinden?
Befreit gefühlt haben sich 1945 die Wenigen, die im Widerstand waren, die politischen Häftlinge in den Gefängnissen und Konzentrationslagern und die vielen anderen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Alle anderen waren allenfalls erleichtert, dass der Krieg vorbei war und sie ihn überlebt hatten. Jeder war mit sich selbst beschäftigt und scherte sich wenig um die Folgen der Niederlage, wären da nicht die Wenigen gewesen, die sich Sorgen machten, wie es weitergehen sollte mit dem großen Ganzen.
Von ungefähr kam es wohl nicht, dass die Schlussabstimmung im Parlamentarischen Rat über das Grundgesetz am 8. Mai 1949 erfolgte, »für uns Deutsche der erste frohe Tag seit dem Jahre 1933«, sagte sein Präsident, der politische Machtmensch Konrad Adenauer, in einer Aufwallung des Gefühls. Niemals dürften die »Jahre der Knechtschaft von 1933 bis 1945 aus unserem Gedächtnis gewischt werden«. Drei Jahre später, im Oktober 1952, sagte derselbe Konrad Adenauer unter großem Beifall der Regierungsparteien während einer Debatte im Bundestag: »Ich meine, wir sollten mit der Naziriecherei mal Schluss machen.«
Anlass der Debatte war der Bericht eines Untersuchungsausschusses, wonach die leitenden Stellen im Auswärtigen Amt zu zwei Dritteln mit ehemaligen NS-Diplomaten und Parteigängern Hitlers besetzt waren. Der Auschwitz-Überlebende Heinz Galinski, damals Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Berlin, sprach von einer »Renazifizierung des öffentlichen Lebens in der Bundesrepublik«, die sich lautlos und widerstandslos vollziehe. Mehr oder weniger getarnt kehrten prominente Vertreter des Nationalsozialismus zurück, und die demokratischen Kräfte würden wie in der Weimarer Republik zurückgedrängt. (FAZ, 21. Februar 1959).
Nach nichts stand den politisch Verantwortlichen in den Nachkriegsjahren der Sinn weniger, als alljährlich am 8. Mai daran zu erinnern, welchem Schandregime sich das deutsche Volk unterworfen hatte, zumal dieses Regime inzwischen vom Bundesgerichtshof in Bausch und Bogen exkulpiert worden war. Bei allen Völkern seien in einem Kampf um Sein oder Nichtsein von jeher strenge Gesetze zum Staatsschutze erlassen worden, entschied der BGH mit Urteil vom 25. Mai 1956. Jeder Staat habe ein Recht auf Selbstbehauptung. »Auch dem nationalsozialistischen Staate kann man nicht ohne weiteres das Recht absprechen, dass er solche Gesetze erlassen hat.« Mit dieser Begründung wurde ein SS-Richter vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord freigesprochen.
Insofern lag eine gewisse Logik darin, dass das Auswärtige Amt mit dem FDP-Politiker Hans-Dietrich Genscher an der Spitze 1975 alle diplomatischen und konsularischen Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland in einer »Verschlusssache« anwies, die »Teilnahme an Siegesfeierlichkeiten und den aus diesem Anlass veranstalteten Empfängen« sowie an den »üblichen Feiern zum 9. Mai« zu unterlassen. (In den osteuropäischen Ländern finden diese Feiern wegen der Zeitverschiebung nicht am 8. Mai, sondern einen Tag später statt.)
Die Anweisung entsprach dem Zeitgeist. Im April jenes Jahres hatten sich bei einer Befragung 70 Prozent der Deutschen in der Bundesrepublik dafür ausgesprochen, die »Vergangenheit ruhen zu lassen«. Zur selben Zeit erlebte allerdings Frankfurt am Main, wie die Frankfurter Rundschau am 12. Mai 1975 berichtete, »zum 30. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus« die größte Demonstration, die es in der Stadt seit dem Kriegsende gegeben habe. Unter den 25.000 Teilnehmern hätten sich auch Bundeswehrsoldaten in Uniform befunden. Die Rebellion der 1968er hatte zu dieser Zeit bereits manche Verkrustung aufgebrochen, und es wehte ein frischer Wind durch die Amtsstuben.
Dennoch eierte Genschers Parteifreund Walter Scheel in seiner Ansprache als Bundespräsident »Zum 30. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges« immer noch herum. Am 8. Mai 1945 sei nicht nur die Hitler-Diktatur gefallen, sagte er, sondern auch das Deutsche Reich, der Staat der Deutschen. »Und so gedenken wir des Kriegsendes mit Schmerz.« Einen Anlass zu feiern hätten »wir Deutsche« nicht.
So argumentierte auch der CDU-Politiker Richard von Weizsäcker in seiner historischen Rede als Bundespräsident am 40. Jahrestag des Kriegsendes. »Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern«, sagte er. Dennoch sei von Tag zu Tag klarer geworden, »was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.« Damit hatte von Weizsäcker das magische Wort ausgesprochen, dessentwegen er von manchen seiner Parteifreunde schief angesehen wurde und das anderen mittlerweile als sanftes Ruhekissen und Nachweis einer vermeintlich bewältigten Vergangenheit dient.
Aber weder die intellektuelle Redlichkeit eines Richard von Weizsäcker noch der »verordnete Antifaschismus« in der DDR haben verhindern können, dass 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch jeder fünfte Deutsche dem Naziungeist anhängt. Deshalb gilt weiter, was der Auschwitz-Überlebende Primo Levi der Nachwelt hinterlassen hat: »Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen. Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.«