Am 11. September 1973 putschte sich das Militär unter der Führung des von den USA maßgeblich geförderten Generals Augusto Pinochet in Chile an die Macht und stürzte den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Mit seinem Tod endete der Versuch eines demokratischen Sozialismus auf dem südamerikanischen Kontinent, der weltweit Beachtung fand. An den Putsch schloss sich eine 17-jährige Militärdiktatur an, in der bis 1990 Zehntausende politische Gegner eingesperrt, gefoltert oder umgebracht wurden.
Unter den literarischen Werken, die sich mit der Zeit der Diktatur auseinandersetzten, ist Carlos Franz‘ Roman »El desierto« (dt. Die Wüste) der komplexeste. Der chilenische Autor erhielt im Erscheinungsjahr 2005 den Premio Novela de la Nación-Sudamericana für seinen Schlüsselroman, der jetzt zum 50. Jahrestag des Militärputsches erstmals in einer deutschen Übersetzung von Lutz Kliche im Mitteldeutschen Verlag erschienen ist.
»Wo warst du, Mama, als all diese schrecklichen Dinge in deiner Stadt passierten?« Diese Frage, die der Juristin Laura Larco von ihrer Tochter Claudia gestellt wurde, ist die Frage, mit der sich diejenigen, die Tag für Tag in einer Diktatur leben mussten, konfrontiert sehen. Nach zwanzig Jahren selbst auferlegtem Exil in Berlin kehrt Laura zurück in die fiktive Stadt Pampa Hundida, einer versteckten Oase in der Atacama-Wüste. Sie will ihrer Tochter die Antwort in Briefform selber überbringen.
Ausführlich schildert der Roman die Situation der Stadt während der Diktatur. Damals hatte die junge Laura eine erste Anstellung als Richterin; doch nach dem Putsch wurde das Gesetz in Stücke zerrissen und in Pampa Hundida ein politisches Gefängnis auf den Ruinen eines verlassenen Salpeterbüros errichtet. Alle Gefangenen des Lagers wurden zum Tode verurteilt, und so ließ der Leiter, der finstere Major Mariano Cáceres, jeden Morgen einen Gefangenen hinrichten. Jeden Morgen ertönten Schüsse über Pampa Hundida und quälten die stumme Bevölkerung.
Da traten »zehn gerechte Bürger« der Stadt an Laura heran mit der Bitte, sich an den Major, der ein Auge auf sie geworfen hatte, zu wenden, um das Morden zu beenden. Als Laura zu ihm geht, foltert und vergewaltigt er sie und schlägt ihr einen Pakt vor: Solange sie ihn weiterhin regelmäßig besucht, wird er aufhören, Gefangene zu erschießen. Schließlich gelang es Laura, diesem »Pakt mit dem Teufel« zu entrinnen, sie floh aus ihrem Heimatland nach Berlin.
In den Jahren ihres Exils, in denen sie ihre Tochter allein großziehen musste, erlangte Laura nicht nur akademischen Ruhm, sondern veröffentlichte auch ein viel beachtetes Buch über Gerechtigkeit, doch nun verfolgt sie die Vergangenheit unerbittlich. Während andere ehemalige Bewohner, die ebenfalls verstrickt waren, sich vor der Verantwortung drücken, setzt sich Laura in ihrem »Geständnisschreiben« kritisch mit ihrer Rolle in der Diktatur und all den »schrecklichen Dingen« auseinander, die vor zwei Jahrzehnten in Pampa Hundida passierten.
Der kraftvolle Roman hat zwei Spannungslinien, die immer wieder zusammenlaufen: Lauras Rückkehr und den Brief, den sie an ihre Tochter noch in Berlin verfasst hatte. Die beiden Teile sind zwar durch unterschiedliche Schriftarten gekennzeichnet; dennoch erfordert die Lektüre einige Konzentration. Neben dem persönlichen Schicksal seiner Protagonistin ist dem Autor auch ein historisches Panorama der chilenischen Militärdiktatur gelungen sowie ihrer Auswirkungen auf die chilenische Gesellschaft.
Carlos Franz: Das verschwundene Meer, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2023, 480 S., 30 €.