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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Bedeutungslosigkeit der Schriftsteller

Frü­her ein­mal waren Schrift­stel­ler und Lite­ra­tur maß­ge­bend für die Mei­nungs­bil­dung der Gesell­schaft, nicht nur der Ari­sto­kra­tie und der »geho­be­nen Stän­de«, also des betuch­ten Bür­ger­tums, son­dern auch der ein­fa­chen Leu­te. Das hing damit zusam­men, dass es neben dem gedruck­ten Wort von Autoren wenig Mög­lich­kei­ten der öffent­li­chen Mei­nungs­bil­dung gab: Pla­ka­tie­run­gen, Pre­dig­ten von der Kan­zel und Aus­hän­ge der Behör­den – also alle­samt Mit­tei­lun­gen der jeweils Herr­schen­den. Lite­ra­tur im weit­rei­chen­den Sinn und ihre Autoren waren somit fast die ein­zi­gen, die Oppo­si­ti­on wag­ten – und damit nicht sel­ten erheb­li­che Risi­ken eingingen.

Das beginnt mit dem Anschlag von Luthers 95 The­sen gegen die katho­li­sche Kir­che im Okto­ber 1517 an der Schloss­kir­che in Wit­ten­berg. Im 17. Jahr­hun­dert dann die Kri­tik des iri­schen Autors und Sati­ri­kers Jona­than Swift (»Gul­li­vers Rei­sen«) an der eng­li­schen Ari­sto­kra­tie. Im 19. Jahr­hun­dert galt Charles Dickens, der damals schon in den USA publi­zier­te, als der berühm­te­ste eng­li­sche Autor. Oscar Wil­de, der im prü­den vik­to­ria­ni­schen Eng­land sei­ne Bise­xua­li­tät offen leb­te, wur­de 1895 zu einer mehr­jäh­ri­gen Zucht­haus­stra­fe ver­ur­teilt. Zusam­men mit dem gegen ihn ver­häng­ten Rede- und Schreib­ver­bot sowie einer öffent­li­chen Hexen­jagd erhol­te er sich davon nicht mehr.

In der US-ame­ri­ka­ni­schen Lite­ra­tur, die mit Washing­ton Irving, der auch in Euro­pa rezi­piert wur­de, und der ersten Kurz­ge­schich­te in der Lite­ra­tur, »Rip van Wink­le«, beginnt, gab es immer wie­der Autoren, die sich mit der Gesell­schaft und ihren Lebens­for­men aus­ein­an­der­setz­ten: etwa die »Beat-Gene­ra­ti­on« (Jack Kerouac, Allen Gins­berg, Law­rence Fer­lin­ghet­ti) und Autoren, die sich gegen den Viet­nam­krieg der USA und (damals schon) die öko­no­mi­sche Glo­ba­li­sie­rung wand­ten. Dazu gehört auch der berühm­te Lin­gu­ist Noam Chomsky.

In Deutsch­land, dem Nach­züg­ler der moder­nen euro­päi­schen Lite­ra­tur, war Theo­dor Fon­ta­ne als Autor des »Rea­lis­mus« (»Effi Briest«, Bal­la­den), zum Ende des 19. Jahr­hun­derts einer der bekann­te­sten Autoren. Im Revo­lu­ti­ons­jahr 1848 nahm er in Ber­lin an Bar­ri­ka­den­kämp­fen teil, ver­fass­te poli­ti­sche Schrif­ten, erleb­te, nach­dem er bei der reak­tio­nä­ren Neu­en Preu­ssi­schen Zei­tung gear­bei­tet hat­te, eine Libe­ra­li­sie­rung Preu­ssens, berei­ste als Jour­na­list Eng­land (im Mut­ter­land der Pres­se hat­ten sich schon lan­ge vor­her Autoren auch als Jour­na­li­sten betä­tigt) und Frank­reich, wo er im deutsch-fran­zö­si­schen Krieg kurz in Gefan­gen­schaft geriet und sich furcht­bar vor den Auf­stän­di­schen der Pari­ser Kom­mu­ne fürch­te­te. Deut­sche haben schon immer zwi­schen Revo­lu­ti­on und der Angst vor der eige­nen Zivil­cou­ra­ge geschwankt.

Dann aber kam schon wie­der eine Revo­lu­ti­on, die »Macht­er­grei­fung« Adolf Hit­lers am 30. Janu­ar 1933. Vie­le deut­sche (und nach 1938 auch öster­rei­chi­sche: Joseph Roth) Autoren flo­hen (ziem­lich bald: Hein­rich Mann, Ber­tolt Brecht, Egon Erwin Kisch, Lion Feucht­wan­ger u. a., ande­re zöger­lich spät: Tho­mas Mann, einer gar nicht: Erich Kästner).

Und die end­gül­ti­ge Flucht in die Sicher­heit nach Spa­ni­en (Wal­ter Ben­ja­min) erfolg­te dann aus Mar­seil­le über die Pyre­nä­en oder nach Über­see (USA, Süd­ame­ri­ka). Aber Mar­seil­le glich mehr und mehr einer Mau­se­fal­le, um das die Nazis, die Nord­frank­reich besetzt hat­ten, und das Vichy-Regime die Schlin­ge immer enger zuzo­gen. Bis 1943 hal­fen muti­ge US-Ame­ri­ka­ner und ihre ein­hei­mi­schen Hel­fer, aber auch poli­ti­sche Flücht­lin­ge, die Flucht­we­ge über die Ber­ge und das Mit­tel­meer offen zu halten.

Nach dem Krieg kehr­ten vie­le die­ser Autoren (nicht alle, Tho­mas Mann blieb in der Schweiz) zurück nach West­deutsch­land, die spä­te­re BRD, oder nach Ost­deutsch­land, die spä­te­re DDR. Sie waren nicht immer will­kom­men, waren für die Bevöl­ke­rung Drücke­ber­ger, Feig­lin­ge oder Schlim­me­res. Und der neu­en Gene­ra­ti­on von Autoren, die aus dem Krieg heim­kehr­ten, blie­ben sie fremd.

In Frank­reich, dem Geburts­land der bür­ger­li­chen und pro­le­ta­ri­schen Revo­lu­tio­nen, wo Ende des 18. Jahr­hun­derts die Mon­ar­chie abge­schafft und unter Geburts­we­hen die repu­bli­ka­ni­sche Staats­form ein­ge­führt wur­de, erreich­te die Macht der Schrift­stel­ler in der zwei­ten, der gol­de­nen Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts ihre Apo­theo­se. Gust­ave Flau­bert eta­blier­te (lan­ge vor Theo­dor Fon­ta­ne) die Form des moder­nen Romans etwa mit »Madame Bova­ry«. Mall­ar­mé schuf die her­me­ti­sche, enig­ma­tisch ver­fei­ner­te Lyrik, die die­se Urgat­tung aller Lite­ra­tur zur Ange­le­gen­heit von Ein­ge­weih­ten und Spe­zia­li­sten mach­te. Bal­zac schrieb, immer in Geld­not, ein rie­si­ges Roman­werk von bis­lang unbe­kann­tem Umfang. Emi­le Zola erfand mit der Streit­schrift »J›accuse«, indem er den jüdi­schen Offi­zier Alfred Drey­fus, der zu Unrecht degra­diert und in die Ver­ban­nung geschickt wor­den war, mit Erfolg gegen den Anti­se­mi­tis­mus des Gene­ral­stabs ver­tei­dig­te, die enga­gier­te Literatur,

Und dann war da noch Vic­tor Hugo, der lite­ra­ri­sche Über­va­ter des Jahr­hun­derts, der sich mit Napo­le­on III. anleg­te, der sich 1851 an die Macht geputscht und sich selbst zum Kai­ser erklärt hat­te. Sei­net­we­gen ver­brach­te er zwan­zig Jah­re im Exil, die mei­ste Zeit auf der Kanal­in­sel Guern­sey. Bereits mit vier­zig Jah­ren gehör­te er zu den »Unsterb­li­chen« der Aca­dé­mie Fran­cai­se. Er schrieb Roma­ne wie »Der Glöck­ner von Not­re Dame« und »Les Misé­ra­bles«, die bis heu­te zum lite­ra­ri­schen Kanon gehö­ren, und schuf mit »Hernani« ein moder­nes Thea­ter­stück, das mit der seit Corn­eil­le und Raci­ne im 17. Jahr­hun­dert sakro­sank­ten Ein­heit von Zeit und Ort brach. Er, der über Jahr­zehn­te eine außer­ehe­li­che Bezie­hung pfleg­te, setz­te sich zudem für Frau­en­rech­te ein. Beer­digt wur­de er im Tem­pel der Repu­blik, dem Pan­thé­on. Den Weg dort­hin von sei­ner Woh­nung in der nach ihm benann­ten Stra­ße säum­ten zeit­ge­nös­si­schen Berich­ten zufol­ge zwei­hun­dert­tau­send Menschen.

Mit dem Jour­na­lis­mus kann­ten sich Schrift­stel­ler seit dem 19. Jahr­hun­dert bestens aus. Auch das Radio stell­te sie im 20. Jahr­hun­dert nicht vor gro­ße Pro­ble­me. Mit dem Fern­se­hen änder­te sich das bereits. Es bedeu­te­te eine tech­ni­sche Revo­lu­ti­on, die all­mäh­lich von brei­ten Schich­ten zur Infor­ma­ti­on und vor allem zur Unter­hal­tung ange­nom­men wurde.

Die zwei­te tech­ni­sche Revo­lu­ti­on nach der ersten im 19 Jahr­hun­dert mit ihrer Mecha­ni­sie­rung der Schwer­indu­strie stellt die Lite­ra­tur nun vor schwer­wie­gen­de Pro­ble­me. Mit dem Auf­kom­men von gänz­lich neu­en Pro­duk­ti­ons­for­men mit Hil­fe von com­pu­ter­ge­steu­er­ten Arbeits­vor­gän­gen begann eine neue öko­no­mi­sche Ära, die nun durch ChatGPT und künst­li­che Intel­li­genz die Arbeits­welt immer schnel­ler umkrem­pelt: Immer weni­ger Men­schen wer­den für immer neue, kom­ple­xe­re und mas­sen­haf­te Pro­duk­ti­on benö­tigt. Dadurch erge­ben sich logi­scher­wei­se neue Tätig­kei­ten und Beru­fe, meist ohne sozia­len Schutz und zeit­li­che Sicher­heit. Bei­spiels­wei­se ent­steht das pre­kä­re Gewer­be der Influen­cer, die Wer­bung betrei­ben und zwei­fel­haf­ten poli­ti­schen Ein­fluss nehmen.

Die Gesell­schaft löst sich auf in (Interessen-)Gruppen und -Grüpp­chen, die Erwerb mit Frei­zeit­ak­ti­vi­tät ver­bin­den, eine bis dahin unbe­kann­te Form der mensch­li­chen Exi­stenz. Infor­ma­ti­on (über Ama­zon und Tik­Tok) und Unter­hal­tung ver­mi­schen sich eben­falls. Leit- und Vor­bil­der sind nicht mehr gefragt. Jeder Mensch ist sein eige­ner Herr und Mei­ster und löst Gott ab. In die­ser schö­nen neu­en Welt ist kein Platz mehr für Autoren, die Lebens­we­ge nach­zeich­nen und histo­ri­sche oder gesell­schaft­li­che Wege wei­sen. Lite­ra­tur und Autoren als Lebens­be­glei­ter haben aus­ge­dient. Sie wer­den nur noch für eine klei­ne Min­der­heit und als gesell­schaft­li­cher Luxus gehal­ten, etwa durch die Nobel­preis­ze­re­mo­nien oder ver­gleich­ba­re Aus­zeich­nun­gen wie den Boo­ker-Pri­ce oder ande­re natio­na­le Buch­prei­se. Lite­ra­tur (und damit ihre Autoren) die­nen nur noch als Exo­ten wie in einem mensch­li­chen Zoo.

 Emp­foh­le­ne Lite­ra­tur zum The­ma: Uwe Witt­stock: Febru­ar 33 – Der Win­ter der Lite­ra­tur, Ver­lag C.H.Beck, 2021; Uwe Witt­stock: Mar­seil­le 1940 – Die gro­ße Flucht der Lite­ra­tur, Ver­lag C.H. Beck, 2024.