Neulich, abends, in einer Kneipe, fiel mir Pater Daniel wieder ein. Ein Klosterbruder in der braunen Kapuzinerkutte und damals, in der Volksschule, Lehrer für katholische Religion. Ich hatte es schwer mit ihm, und er hatte es schwer mit mir. Er lebte in Antworten, die keine Fragen duldeten; ich, noch ein Kind, lebte in Fragen, die nach Antworten suchten.
»Warum gibt es Krieg?«
Leider gibt es Krieg.
»Kann Gott den Krieg nicht abschaffen?«
Alle Menschen sind Sünder.
»Warum hat Gott die Sünde gemacht?«
Die Sünde gibt es, weil Eva den Apfel gegessen hat.
»Aber Eva war doch so, wie Gott sie erschaffen hat?«
Wenn Du jetzt nicht ruhig bist, musst Du Dich vor die Tür setzen.
»Will Gott denn Krieg?«
Du setzt Dich sofort vor die Tür!
Ich habe während des Religionsunterrichtes oft vor dem Klassenzimmer gesessen. Und Pater Daniel, der meine Fragen nicht mochte, sagte meinen Eltern, ich sei frech. Das gab ein ordentliches Donnerwetter und natürlich war es der denkbar schlechteste Zeitpunkt, eine Frage zu stellen, aber da war es auch schon passiert:
»Warum darf man eigentlich keine Fragen stellen?«
Du störst den Unterricht.
»Aber ich soll doch etwas lernen.«
Wenn Du jetzt nicht sofort ruhig bist….
Von so viel Unrecht war ich damals natürlich schwer gekränkt, und außerdem hatte ich gelernt, was Kinder lernen: Fragen sind nicht erwünscht. Im günstigsten Fall wurde man auf später vertröstet: »Wenn Du mal erwachsen bist, dann wirst Du es verstehen.«
Erwachsen bin ich längst, aber verstehen will ich es immer noch nicht. Verstanden habe ich nur, dass die Angst vor Fragen die Angst vor den Antworten ist. Immer dann, wenn der Befragte die genaue Antwort nicht kennen will.
Kinder können in Fragen leben. Erwachsene leben lieber in Antworten, die Fragen verhindern. Um fraglos die Ordnung zu akzeptieren.
»Aber wer hat die Ordnung gemacht?«
Wie gesagt, neulich abends in der Kneipe musste ich an Pater Daniel denken, weil mich der Verkäufer einer Obdachlosenzeitung an meine Fragen erinnerte:
Warum gibt es Arme und Reiche?, wollte er wissen.
»Das ist aber eine schwierige Frage«, erwiderte ich hilflos.
Fragen sind gefährliche Vereinfachungen und deshalb ist es erwünscht, dass alles so kompliziert ist, und wenn es vielleicht gar nicht kompliziert ist, wird es kompliziert gemacht, damit bloß niemand auf die Idee kommt, eine einfache Frage zu stellen. Und eine einfache Antwort zu erwarten.
Stellen Sie sich vor, der Bundestag würde das Töten von Menschen erlauben. Im Vermittlungsausschuss des Bundesrates würden zwischen Regierung und Opposition vielleicht noch ein paar Kompromisse gefunden: Töten nicht nach 22 Uhr oder Töten nicht an kirchlichen Feiertagen. Aber danach gäbe es ein Gesetz, in dem steht, dass Töten nicht bestraft wird, außer nach 22 Uhr und an kirchlichen Feiertagen. Würden Sie gleich mit dem Töten beginnen? Ich glaube, dass würden Sie nicht tun. Ich glaube, es sind nicht allein das Gesetz oder der Staat oder die Angst vor Gefängnis, die uns vom Töten abhalten. Da muss es etwas Eigenes in uns geben. Bildung oder Erziehung oder Moral. Hemmungen. Irgendeine Liebe zu den Menschen. Wie lernen wir, die Würde des Anderen zu respektieren?
»Ist alles, was verboten ist, Unrecht? Und ist alles, was erlaubt ist, Recht?«
Das Töten fällt uns nicht leicht. Nicht auf Anhieb jedenfalls. Man muss uns schon überreden. Die Waffenproduzenten zum Beispiel. Oder das Verteidigungsministerium, das die »moralische« Begründung zum Töten ja schon im Namen hat. Immer findet sich auch ein Pfarrer, der die Waffen segnet für die Verteidigung des Vaterlandes und des Gartenzaunes. Und Geld. Geld ist auch eine Überzeugungsmöglichkeit. Wir könnten die Alten töten, die zittrigen Pflegefälle, die nur noch Geld kosten. Wir könnten Hartz-IV-Empfängern mit Recht teure Hüftgelenke oder Chemotherapien verweigern. Die tragen doch sowieso nichts bei zu unserem Bruttosozialprodukt. Wir könnten Flüchtlinge sogar im Namen des Gesetzes zurück ins Meer werfen. Oder Langzeitarbeitslose und andere Almosenempfänger in stillgelegte Fabrikhallen sperren. Denn unsere Wirtschaft kann sich die vielen Überflüssigen auf Dauer nicht leisten. Immer mehr lästige Alte, immer mehr digital Aussortierte, immer mehr Abgehängte.
Sie wollen sich das alles nicht vorstellen? Sie mögen so grauenhafte Übertreibungen nicht?
Waren Sie je in einem Abschiebegefängnis? Verzweifelte Menschen, die nur ein Verbrechen begangen haben. Sie rechnen sich nicht. Waren Sie je in einer Hauptschule? Kinder und Jugendliche, die schon jetzt Bescheid wissen: Sie rechnen sich nicht.
Waren Sie je in einem der Billig-Pflegeheime? In einem Obdachlosenasyl? In einer der Wohnungen in einer der Straßen, in denen die Mehrheit arbeitslos ist? In einer der Kneipen im besonders armen Ruhrgebiet: »Ich habe hier schon einige Männer weinen sehen«, hat mir vor einigen Wochen eine Wirtin erzählt.
Wissen Sie wie Angst riecht? Sie riecht schlecht.
Die Frage heißt:
»Sind Recht und Gerechtigkeit dasselbe?«
Was Recht ist, kann doch nicht Unrecht sein.
Wir möchten glauben, dass Anstand und Gesetz übereinstimmen. Wir möchten nicht wissen müssen, dass Unanständigkeit Gesetz sein könnte. Aber für viele ist es eine tägliche Erfahrung.
»Was ist ein Rechtsstaat?«
Ein Land, in dem jeder sein Recht bekommt.
Mit welcher Siegesgewissheit zum Beispiel Klaus Esser, der ehemalige Chef von Mannesmann, vor Gericht auf sein Recht pocht – obwohl er doch an seinem Recht zweifeln müsste, sich nach der Übernahme von Mannesmann durch Vodafone mit rund 30 Millionen Euro Prämie selbst zu bedienen. Am Ende wurde das Verfahren gegen ihn und seine Mitangeklagten eingestellt.
Die Ausbeutung des Rechts.
Es ist Recht, weil Gesetz, dass Millionen von Arbeitslosen seit 2005 nur noch Hartz IV erhalten und weniger Rechte haben.
»Was ist Demokratie?«
Die haben uns die Amerikaner gebracht.
Die Ohnmacht des Volkes ist der Volkswille. Da die Unternehmer in diesem Land eine Minderheit sind, können sie die demokratisch legitimierte Zerstörung des Sozialstaates, die gesetzliche Zementierung von Armut leicht auf die Mehrheit schieben. Beschlossen mit den Stimmen der Volksvertreter. Die nicht ohnmächtig sind, sondern der Macht treu ergeben. Demokratie als Alibi. Widerstand wird mit der passenden Rechtslage zum Widerstand gegen die Staatsgewalt und kann als Verstoß gegen »das Recht« geahndet werden. Wer resigniert, ist ein braver Hilfsdemokrat. So einer rebelliert nicht gegen den Zynismus derer, die immer im Recht sind.
»Warum sind Deserteure Verbrecher?«
Weil sie ihr Vaterland im Stich gelassen haben.
Die Kriegsherren als Hüter des Rechtsstaates? Und die Deserteure seine Verräter? Die Wirtschaft als Retter des Sozialstaates? Und die Arbeitslosen seine Totengräber?
Demokratie lebt von den Fragen und vom Widerstand gegen die, die die Demokratie als Alibi benutzen. Schweigen macht die Demokratie kaputt. Und Angst frisst die Seele auf. Jetzt stehen wir vor Gesetzen, von denen es heißt, wir hätten sie selbst gemacht, und sind zu Recht ins Unrecht gesetzt.
»Sind alle Menschen gleich?«
Menschen sind Kosten auf zwei Beinen, hat mal ein Spitzenfunktionär des Arbeitgeberverbandes gesagt.
Das Postamt um die Ecke, zu dem ich früher meine Briefe und Päckchen getragen habe, ist schon lange geschlossen. Jetzt bin ich eine halbe Stunde unterwegs, um eines der verbliebenen »zentralen« Postämter zu erreichen. Der Bäckerladen gegenüber von meiner Wohnung, ein Familienbetrieb mit eigener Backstube, deren köstliche Düfte man sogar auf der Straße riechen konnte, musste vor Jahren aufgeben, weil die Gewerbemiete untragbar erhöht wurde. Nicht mehr da ist der Strumpfladen von Frau Mück. Oder das kleine Einrichtungshaus, dessen Mitarbeiter sich die Zeit nahmen, in die Wohnung zu kommen und auszumessen und Vorschläge zu machen. Aufgegeben hat der Schuster zwei Ecken weiter, weil seine Sorgfalt mit der Schnellreparaturkonkurrenz nicht mehr mithalten konnte.
Auf einer Strecke von vielleicht 300 Metern sind dafür jetzt sieben Imbissbuden und zwei große Supermärkte zu finden – und sechs Filialen von diversen Fastfood-Bäckereien, die kein richtiges Brot mehr backen, sondern ein Gemisch aus Mehl und Treibmitteln zu einem so genannten Brötchen rösten lassen. Die dort übliche Selbstbedienung erspart dem Käufer ein paar Cent, aber abgesehen davon, dass die Ware nicht schmeckt, wird sie beinah ohne Arbeitskräfte an die Kunden gebracht. Einzelne Frauen mit Mini-Jobs hocken unter Neonlicht an der jeweiligen Kasse und tippen wie am Fließband die Preise für die von den Kunden selbst verpackten Backwaren ein. Früher kannte ich jede Verkäuferin, jeden Ladenbesitzer im Viertel, heute lohnt es sich kaum, nach einem Namen zu fragen. Die Besitzer sind große Ketten mit anonymen Managern, das wenige Personal vor Ort wechselt zu schnell.
Verschwunden sind vertraute Gesichter. Verschwunden sind die Bänke an den großen Straßen, auf die man sich setzen und die Passanten beobachten konnte. Jetzt findet man einen Sitzplatz nur noch in einem gastronomischen Betrieb und bezahlt den Straßen-Logenplatz mit dem überteuerten Milchkaffee.
Nicht nur die kleinen Läden schließen, auch die Filialen von Banken und Sparkassen werden wegen Personalabbau und Kostenersparnis dicht gemacht.
Verschwunden sind die kleinen Stadtteilbibliotheken, in denen sich regnerische Nachmittage beim Stöbern und Festlesen wunderbar vertrödeln ließen. Verschwunden ist (der erhöhten Miete wegen) das altmodische Café eine Straße weiter, in dem die Alten sich sonntags immer zum Tanztee trafen. Darüber haben wir, die wir noch jünger waren und auf natürlich viel moderner, gerne überlegen gelächelt. Aber schön war es trotzdem.
Verlustgefühle. Weniger öffentliche Räume für alle, weniger Wärme. Und immer größere Angst, nicht mithalten zu können.
Verschwunden sind in meinem Altbauviertel auch die, die nicht irgendetwas mit Medien, irgendetwas mit Wirtschaft oder irgendetwas mit Software machen. Die Bäcker oder Schuster haben ihre Arbeit verloren, die Kassiererinnen oder Straßenkehrer oder Altenpfleger können sich hier keine neue Wohnung mehr leisten.
Alles kostet Geld, nur die Sonne und der Wind und das Atmen sind noch gebührenfrei.
Alles kostet Geld und doch wird dieses reiche Land immer ärmer.
»Warum haben wir kein Geld?«
Weil der Sozialstaat zu teuer ist.
Doch die Sozialleistungen (Renten zum Beispiel oder Krankheitsleistungen) werden ständig weiter gekürzt. Und das, was in den 70er Jahren gebaut und eröffnet wurde, wird heute geschlossen, verkleinert, vernachlässigt: Schwimmbäder und Bibliotheken, Stadtteilzentren und Spielplätze, Kindergärten und Parks. Universitäten schränken ihren Vorlesungsbetrieb; die Schulen verwahrlosen. Auch das ein Abbau von Sozialleistungen, auf die Arme und Durchschnittsverdiener aber angewiesen sind.
Altenheime und Krankenhäuser werden immer weiter privatisiert. Und Schulen. Aber in den staatlichen Schulen fehlen Lehrer. Eine Fahrkarte für den Zug des Aktienkonzerns Deutsche Bahn ist für viele ein Luxus, in den Bistros der ICE-Züge werden Phantasiepreise für ein Brötchen oder Wasser verlangt.
Es herrscht ein Mangel an würdigen Betreuungsplätzen für alte oder behinderte Menschen, in den Wartezimmern der Ärzte liegen Preislisten für ärztliche Leistungen aus, die nicht mehr von den Krankenkassen bezahlt werden. Existenzrisiken werden privatisiert, ebenso weiterhin kommunale, also preisgünstige Wohnungen.
»Warum wehrt sich niemand?«
Weil man sowieso nichts machen kann.
Haben wir, das Volk, die Demokratie tatsächlich schon aufgegeben? Hat uns das Opium der neoliberalen Religion so mürbe und müde gemacht, dass wir den Sozialstaat nicht mehr als kostbare Kulturleistung wertschätzen? Ein Jahrhundert lang stieg mit dem privaten auch der öffentliche Wohlstand. Gerechtigkeit und Teilhabe als Grundlage für den Schutz der individuellen Freiheitsrechte. Jetzt wird behauptet, dass sich die Nation im Zeitalter der Globalisierung die Verteilung des Reichtums als öffentlichen Reichtum nicht mehr leisten könne.
»Wer ist die Nation?«
Wir sind die Nation.
Doch die Nation wird geschwächt, weil die Internationalisierung das Kapital stärkt. Genauer: Weil sich die Nationalstaaten von den Managern milliardenschwerer Weltkonzerne und Investmentfonds gegeneinander ausspielen lassen. Weil die Staaten der Welt zugelassen haben, von grenzüberschreitend operierenden Unternehmen in einen »Wettbewerb der Steuersysteme« verstrickt zu werden. Wenn den Konzernen die Steuern in dem einen Land zu hoch oder die Investitionszulagen in einem anderen Land zu niedrig sind, drohen sie mit Abwanderung oder Umzug. Und solange die einzelnen Länder in Konkurrenz um diese Konzerne stehen, bleiben sie ohnmächtig gegenüber dem Druck des Kapitals. (Ob die geplante globale Mindeststeuer das Problem an der Wurzel packt, werden wir noch sehen.)
Ohne Atempause sucht das Finanzkapital außerdem nach neuen Anlagemöglichkeiten. Besonders rentabel (und noch ausbaufähig) ist die Privatisierung des einst geschaffenen öffentlichen Reichtums. Das privatwirtschaftliche Krankenhaus, die privatwirtschaftliche Universität, das privatwirtschaftliche Wohnungspaket, das privatwirtschaftlich geschürfte Geld. Einerseits werden die Milliardenprofite der globalen Konzerne kaum in öffentlichen Reichtum umgewandelt, sondern von einigen Wenigen kassiert. Andererseits wird der noch vorhandene öffentliche Reichtum an dieselben Profiteure verkauft. Zurücklassen könnte der entfesselte Neoliberalismus einen Rumpfstaat, einen modernen Feudalismus, in dem es vielleicht noch eine Art öffentlicher Armenpflege auf Suppenküchenniveau, öffentliche Schulen für die Alphabetisierung des gemeinen Volkes und massenhaft Ordnungs- und Sicherheitskräfte gibt. Wie in den USA. Auch in Europa haben sich Reiche in ihre von privater Polizei bewachten Ghettos zurückgezogen, in von Armut und Sozialstaatsideen befreite Zonen.
Deshalb gibt es Krieg.
Deshalb gibt es Arme und Reiche.
Die Menschen sorgen sich. Für die Meisten sind der sozialstaatliche Schutz und ihre (immer weiter ausgehöhlten) gesetzlich verbriefen Rechte als Arbeitnehmer das einzige Vermögen und die einzige Sicherheit, die sie haben. Der schrittweise erfolgte Abschied von der Idee der Solidargemeinschaft und die Ausbeutung des Rechts durch die Mächtigen machen Angst. Bald wird die Angst uns alle haben. Doch Angst macht gefügig und Angst macht dumm. Angst ist, wie Oskar Negt sagt, »immer ein guter Kitt bestehender Macht- und Herrschaftsverhältnisse«. Angst verhindert Widerstand.
»Wie können wir Widerstand leisten?«
Europa braucht ein Grundgesetz, in dem unkündbar die soziale Demokratie festgelegt wird. Der Sozialstaat zur Stiftung einer europäischen Identität. Mit dieser Idee hat der am 29. Oktober 2004 von den Staats- und Regierungschefs der EU unterzeichnete europäische Verfassungsvertrag wenig zu tun.
Deshalb sind wir Bürger gefordert, gegen die herrschende politische Klasse für Gesetze einzutreten, die uns wieder ins Recht und nicht länger ins »Unrecht« setzen. In unserem eigenen Interesse und im Interesse derer, die mit Hilfe des »Rechts« ihrer Bürgerrechte beraubt werden: Erwerbstätige und Arbeitslose, Kinder, alte Menschen, Flüchtlinge… Überall auf der Welt.
Die Verteidigung des Sozialstaates ist die Verteidigung der Demokratie. Wir sollten nicht zulassen, dass sie ein billiges Alibi für die mächtigen Profiteure des Rechts bleibt. Wer mordet oder wer Menschen beraubt und ins Elend stürzt, den darf kein Gesetz ins Recht setzen. Aber um es zu verhindern, brauchen wir gegen das Recht der Stärkeren den unablässigen Kampf für die Stärke des Rechts.
Demokratie ist so stark wie sie zerbrechlich ist. Sie ist stark, wenn sie verteidigt wird. Sie ist stark, wenn wir uns nicht mit Antworten abspeisen lassen, die keine Fragen dulden. Aber sie verschwindet sofort, wenn sie uns gleichgültig geworden ist.
*Gedichtzeile von Ulla Hahn