Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Die Angst wird bald alles haben*

Neu­lich, abends, in einer Knei­pe, fiel mir Pater Dani­el wie­der ein. Ein Klo­ster­bru­der in der brau­nen Kapu­zi­ner­kut­te und damals, in der Volks­schu­le, Leh­rer für katho­li­sche Reli­gi­on. Ich hat­te es schwer mit ihm, und er hat­te es schwer mit mir. Er leb­te in Ant­wor­ten, die kei­ne Fra­gen dul­de­ten; ich, noch ein Kind, leb­te in Fra­gen, die nach Ant­wor­ten suchten.

»War­um gibt es Krieg?«

Lei­der gibt es Krieg.

»Kann Gott den Krieg nicht abschaffen?«

Alle Men­schen sind Sünder.

»War­um hat Gott die Sün­de gemacht?«

Die Sün­de gibt es, weil Eva den Apfel geges­sen hat.

»Aber Eva war doch so, wie Gott sie erschaf­fen hat?«

Wenn Du jetzt nicht ruhig bist, musst Du Dich vor die Tür setzen.

»Will Gott denn Krieg?«

Du setzt Dich sofort vor die Tür!

Ich habe wäh­rend des Reli­gi­ons­un­ter­rich­tes oft vor dem Klas­sen­zim­mer geses­sen. Und Pater Dani­el, der mei­ne Fra­gen nicht moch­te, sag­te mei­nen Eltern, ich sei frech. Das gab ein ordent­li­ches Don­ner­wet­ter und natür­lich war es der denk­bar schlech­te­ste Zeit­punkt, eine Fra­ge zu stel­len, aber da war es auch schon passiert:

»War­um darf man eigent­lich kei­ne Fra­gen stellen?«

Du störst den Unterricht.

»Aber ich soll doch etwas lernen.«

Wenn Du jetzt nicht sofort ruhig bist….

Von so viel Unrecht war ich damals natür­lich schwer gekränkt, und außer­dem hat­te ich gelernt, was Kin­der ler­nen: Fra­gen sind nicht erwünscht. Im gün­stig­sten Fall wur­de man auf spä­ter ver­trö­stet: »Wenn Du mal erwach­sen bist, dann wirst Du es verstehen.«

Erwach­sen bin ich längst, aber ver­ste­hen will ich es immer noch nicht. Ver­stan­den habe ich nur, dass die Angst vor Fra­gen die Angst vor den Ant­wor­ten ist. Immer dann, wenn der Befrag­te die genaue Ant­wort nicht ken­nen will.

Kin­der kön­nen in Fra­gen leben. Erwach­se­ne leben lie­ber in Ant­wor­ten, die Fra­gen ver­hin­dern. Um frag­los die Ord­nung zu akzeptieren.

»Aber wer hat die Ord­nung gemacht?«

Wie gesagt, neu­lich abends in der Knei­pe muss­te ich an Pater Dani­el den­ken, weil mich der Ver­käu­fer einer Obdach­lo­sen­zei­tung an mei­ne Fra­gen erinnerte:

War­um gibt es Arme und Rei­che?, woll­te er wissen.

»Das ist aber eine schwie­ri­ge Fra­ge«, erwi­der­te ich hilflos.

Fra­gen sind gefähr­li­che Ver­ein­fa­chun­gen und des­halb ist es erwünscht, dass alles so kom­pli­ziert ist, und wenn es viel­leicht gar nicht kom­pli­ziert ist, wird es kom­pli­ziert gemacht, damit bloß nie­mand auf die Idee kommt, eine ein­fa­che Fra­ge zu stel­len. Und eine ein­fa­che Ant­wort zu erwarten.

Stel­len Sie sich vor, der Bun­des­tag wür­de das Töten von Men­schen erlau­ben. Im Ver­mitt­lungs­aus­schuss des Bun­des­ra­tes wür­den zwi­schen Regie­rung und Oppo­si­ti­on viel­leicht noch ein paar Kom­pro­mis­se gefun­den: Töten nicht nach 22 Uhr oder Töten nicht an kirch­li­chen Fei­er­ta­gen. Aber danach gäbe es ein Gesetz, in dem steht, dass Töten nicht bestraft wird, außer nach 22 Uhr und an kirch­li­chen Fei­er­ta­gen. Wür­den Sie gleich mit dem Töten begin­nen? Ich glau­be, dass wür­den Sie nicht tun. Ich glau­be, es sind nicht allein das Gesetz oder der Staat oder die Angst vor Gefäng­nis, die uns vom Töten abhal­ten. Da muss es etwas Eige­nes in uns geben. Bil­dung oder Erzie­hung oder Moral. Hem­mun­gen. Irgend­ei­ne Lie­be zu den Men­schen. Wie ler­nen wir, die Wür­de des Ande­ren zu respektieren?

»Ist alles, was ver­bo­ten ist, Unrecht? Und ist alles, was erlaubt ist, Recht?«

Das Töten fällt uns nicht leicht. Nicht auf Anhieb jeden­falls. Man muss uns schon über­re­den. Die Waf­fen­pro­du­zen­ten zum Bei­spiel. Oder das Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­ri­um, das die »mora­li­sche« Begrün­dung zum Töten ja schon im Namen hat. Immer fin­det sich auch ein Pfar­rer, der die Waf­fen seg­net für die Ver­tei­di­gung des Vater­lan­des und des Gar­ten­zau­nes. Und Geld. Geld ist auch eine Über­zeu­gungs­mög­lich­keit. Wir könn­ten die Alten töten, die zitt­ri­gen Pfle­ge­fäl­le, die nur noch Geld kosten. Wir könn­ten Hartz-IV-Emp­fän­gern mit Recht teu­re Hüft­ge­len­ke oder Che­mo­the­ra­pien ver­wei­gern. Die tra­gen doch sowie­so nichts bei zu unse­rem Brut­to­so­zi­al­pro­dukt. Wir könn­ten Flücht­lin­ge sogar im Namen des Geset­zes zurück ins Meer wer­fen. Oder Lang­zeit­ar­beits­lo­se und ande­re Almo­sen­emp­fän­ger in still­ge­leg­te Fabrik­hal­len sper­ren. Denn unse­re Wirt­schaft kann sich die vie­len Über­flüs­si­gen auf Dau­er nicht lei­sten. Immer mehr lästi­ge Alte, immer mehr digi­tal Aus­sor­tier­te, immer mehr Abgehängte.

Sie wol­len sich das alles nicht vor­stel­len? Sie mögen so grau­en­haf­te Über­trei­bun­gen nicht?

Waren Sie je in einem Abschie­be­ge­fäng­nis? Ver­zwei­fel­te Men­schen, die nur ein Ver­bre­chen began­gen haben. Sie rech­nen sich nicht. Waren Sie je in einer Haupt­schu­le? Kin­der und Jugend­li­che, die schon jetzt Bescheid wis­sen: Sie rech­nen sich nicht.

Waren Sie je in einem der Bil­lig-Pfle­ge­hei­me? In einem Obdach­lo­sen­asyl? In einer der Woh­nun­gen in einer der Stra­ßen, in denen die Mehr­heit arbeits­los ist? In einer der Knei­pen im beson­ders armen Ruhr­ge­biet: »Ich habe hier schon eini­ge Män­ner wei­nen sehen«, hat mir vor eini­gen Wochen eine Wir­tin erzählt.

Wis­sen Sie wie Angst riecht? Sie riecht schlecht.

Die Fra­ge heißt:

»Sind Recht und Gerech­tig­keit dasselbe?«

Was Recht ist, kann doch nicht Unrecht sein.

Wir möch­ten glau­ben, dass Anstand und Gesetz über­ein­stim­men. Wir möch­ten nicht wis­sen müs­sen, dass Unan­stän­dig­keit Gesetz sein könn­te. Aber für vie­le ist es eine täg­li­che Erfahrung.

»Was ist ein Rechtsstaat?«

Ein Land, in dem jeder sein Recht bekommt.

Mit wel­cher Sie­ges­ge­wiss­heit zum Bei­spiel Klaus Esser, der ehe­ma­li­ge Chef von Man­nes­mann, vor Gericht auf sein Recht pocht – obwohl er doch an sei­nem Recht zwei­feln müss­te, sich nach der Über­nah­me von Man­nes­mann durch Voda­fone mit rund 30 Mil­lio­nen Euro Prä­mie selbst zu bedie­nen. Am Ende wur­de das Ver­fah­ren gegen ihn und sei­ne Mit­an­ge­klag­ten eingestellt.

Die Aus­beu­tung des Rechts.

Es ist Recht, weil Gesetz, dass Mil­lio­nen von Arbeits­lo­sen seit 2005 nur noch Hartz IV erhal­ten und weni­ger Rech­te haben.

»Was ist Demokratie?«

Die haben uns die Ame­ri­ka­ner gebracht.

Die Ohn­macht des Vol­kes ist der Volks­wil­le. Da die Unter­neh­mer in die­sem Land eine Min­der­heit sind, kön­nen sie die demo­kra­tisch legi­ti­mier­te Zer­stö­rung des Sozi­al­staa­tes, die gesetz­li­che Zemen­tie­rung von Armut leicht auf die Mehr­heit schie­ben. Beschlos­sen mit den Stim­men der Volks­ver­tre­ter. Die nicht ohn­mäch­tig sind, son­dern der Macht treu erge­ben. Demo­kra­tie als Ali­bi. Wider­stand wird mit der pas­sen­den Rechts­la­ge zum Wider­stand gegen die Staats­ge­walt und kann als Ver­stoß gegen »das Recht« geahn­det wer­den. Wer resi­gniert, ist ein bra­ver Hilfs­de­mo­krat. So einer rebel­liert nicht gegen den Zynis­mus derer, die immer im Recht sind.

»War­um sind Deser­teu­re Verbrecher?«

Weil sie ihr Vater­land im Stich gelas­sen haben.

Die Kriegs­her­ren als Hüter des Rechts­staa­tes? Und die Deser­teu­re sei­ne Ver­rä­ter? Die Wirt­schaft als Ret­ter des Sozi­al­staa­tes? Und die Arbeits­lo­sen sei­ne Totengräber?

Demo­kra­tie lebt von den Fra­gen und vom Wider­stand gegen die, die die Demo­kra­tie als Ali­bi benut­zen. Schwei­gen macht die Demo­kra­tie kaputt. Und Angst frisst die See­le auf. Jetzt ste­hen wir vor Geset­zen, von denen es heißt, wir hät­ten sie selbst gemacht, und sind zu Recht ins Unrecht gesetzt.

»Sind alle Men­schen gleich?«

Men­schen sind Kosten auf zwei Bei­nen, hat mal ein Spit­zen­funk­tio­när des Arbeit­ge­ber­ver­ban­des gesagt.

Das Post­amt um die Ecke, zu dem ich frü­her mei­ne Brie­fe und Päck­chen getra­gen habe, ist schon lan­ge geschlos­sen. Jetzt bin ich eine hal­be Stun­de unter­wegs, um eines der ver­blie­be­nen »zen­tra­len« Post­äm­ter zu errei­chen. Der Bäcker­la­den gegen­über von mei­ner Woh­nung, ein Fami­li­en­be­trieb mit eige­ner Back­stu­be, deren köst­li­che Düf­te man sogar auf der Stra­ße rie­chen konn­te, muss­te vor Jah­ren auf­ge­ben, weil die Gewer­be­mie­te untrag­bar erhöht wur­de. Nicht mehr da ist der Strumpf­la­den von Frau Mück. Oder das klei­ne Ein­rich­tungs­haus, des­sen Mit­ar­bei­ter sich die Zeit nah­men, in die Woh­nung zu kom­men und aus­zu­mes­sen und Vor­schlä­ge zu machen. Auf­ge­ge­ben hat der Schu­ster zwei Ecken wei­ter, weil sei­ne Sorg­falt mit der Schnell­re­pa­ra­tur­kon­kur­renz nicht mehr mit­hal­ten konnte.

Auf einer Strecke von viel­leicht 300 Metern sind dafür jetzt sie­ben Imbiss­bu­den und zwei gro­ße Super­märk­te zu fin­den – und sechs Filia­len von diver­sen Fast­food-Bäcke­rei­en, die kein rich­ti­ges Brot mehr backen, son­dern ein Gemisch aus Mehl und Treib­mit­teln zu einem so genann­ten Bröt­chen rösten las­sen. Die dort übli­che Selbst­be­die­nung erspart dem Käu­fer ein paar Cent, aber abge­se­hen davon, dass die Ware nicht schmeckt, wird sie bei­nah ohne Arbeits­kräf­te an die Kun­den gebracht. Ein­zel­ne Frau­en mit Mini-Jobs hocken unter Neon­licht an der jewei­li­gen Kas­se und tip­pen wie am Fließ­band die Prei­se für die von den Kun­den selbst ver­pack­ten Back­wa­ren ein. Frü­her kann­te ich jede Ver­käu­fe­rin, jeden Laden­be­sit­zer im Vier­tel, heu­te lohnt es sich kaum, nach einem Namen zu fra­gen. Die Besit­zer sind gro­ße Ket­ten mit anony­men Mana­gern, das weni­ge Per­so­nal vor Ort wech­selt zu schnell.

Ver­schwun­den sind ver­trau­te Gesich­ter. Ver­schwun­den sind die Bän­ke an den gro­ßen Stra­ßen, auf die man sich set­zen und die Pas­san­ten beob­ach­ten konn­te. Jetzt fin­det man einen Sitz­platz nur noch in einem gastro­no­mi­schen Betrieb und bezahlt den Stra­ßen-Logen­platz mit dem über­teu­er­ten Milchkaffee.

Nicht nur die klei­nen Läden schlie­ßen, auch die Filia­len von Ban­ken und Spar­kas­sen wer­den wegen Per­so­nal­ab­bau und Kosten­er­spar­nis dicht gemacht.

Ver­schwun­den sind die klei­nen Stadt­teil­bi­blio­the­ken, in denen sich reg­ne­ri­sche Nach­mit­ta­ge beim Stö­bern und Fest­le­sen wun­der­bar ver­trö­deln lie­ßen. Ver­schwun­den ist (der erhöh­ten Mie­te wegen) das alt­mo­di­sche Café eine Stra­ße wei­ter, in dem die Alten sich sonn­tags immer zum Tanz­tee tra­fen. Dar­über haben wir, die wir noch jün­ger waren und auf natür­lich viel moder­ner, ger­ne über­le­gen gelä­chelt. Aber schön war es trotzdem.

Ver­lust­ge­füh­le. Weni­ger öffent­li­che Räu­me für alle, weni­ger Wär­me. Und immer grö­ße­re Angst, nicht mit­hal­ten zu können.

Ver­schwun­den sind in mei­nem Alt­bau­vier­tel auch die, die nicht irgend­et­was mit Medi­en, irgend­et­was mit Wirt­schaft oder irgend­et­was mit Soft­ware machen. Die Bäcker oder Schu­ster haben ihre Arbeit ver­lo­ren, die Kas­sie­re­rin­nen oder Stra­ßen­keh­rer oder Alten­pfle­ger kön­nen sich hier kei­ne neue Woh­nung mehr leisten.

Alles kostet Geld, nur die Son­ne und der Wind und das Atmen sind noch gebührenfrei.

Alles kostet Geld und doch wird die­ses rei­che Land immer ärmer.

»War­um haben wir kein Geld?«

Weil der Sozi­al­staat zu teu­er ist. 

Doch die Sozi­al­lei­stun­gen (Ren­ten zum Bei­spiel oder Krank­heits­lei­stun­gen) wer­den stän­dig wei­ter gekürzt. Und das, was in den 70er Jah­ren gebaut und eröff­net wur­de, wird heu­te geschlos­sen, ver­klei­nert, ver­nach­läs­sigt: Schwimm­bä­der und Biblio­the­ken, Stadt­teil­zen­tren und Spiel­plät­ze, Kin­der­gär­ten und Parks. Uni­ver­si­tä­ten schrän­ken ihren Vor­le­sungs­be­trieb; die Schu­len ver­wahr­lo­sen. Auch das ein Abbau von Sozi­al­lei­stun­gen, auf die Arme und Durch­schnitts­ver­die­ner aber ange­wie­sen sind.

Alten­hei­me und Kran­ken­häu­ser wer­den immer wei­ter pri­va­ti­siert. Und Schu­len. Aber in den staat­li­chen Schu­len feh­len Leh­rer. Eine Fahr­kar­te für den Zug des Akti­en­kon­zerns Deut­sche Bahn ist für vie­le ein Luxus, in den Bistros der ICE-Züge wer­den Phan­ta­sie­prei­se für ein Bröt­chen oder Was­ser verlangt.

Es herrscht ein Man­gel an wür­di­gen Betreu­ungs­plät­zen für alte oder behin­der­te Men­schen, in den War­te­zim­mern der Ärz­te lie­gen Preis­li­sten für ärzt­li­che Lei­stun­gen aus, die nicht mehr von den Kran­ken­kas­sen bezahlt wer­den. Exi­stenz­ri­si­ken wer­den pri­va­ti­siert, eben­so wei­ter­hin kom­mu­na­le, also preis­gün­sti­ge Wohnungen.

»War­um wehrt sich niemand?«

Weil man sowie­so nichts machen kann.

Haben wir, das Volk, die Demo­kra­tie tat­säch­lich schon auf­ge­ge­ben? Hat uns das Opi­um der neo­li­be­ra­len Reli­gi­on so mür­be und müde gemacht, dass wir den Sozi­al­staat nicht mehr als kost­ba­re Kul­tur­lei­stung wert­schät­zen? Ein Jahr­hun­dert lang stieg mit dem pri­va­ten auch der öffent­li­che Wohl­stand. Gerech­tig­keit und Teil­ha­be als Grund­la­ge für den Schutz der indi­vi­du­el­len Frei­heits­rech­te. Jetzt wird behaup­tet, dass sich die Nati­on im Zeit­al­ter der Glo­ba­li­sie­rung die Ver­tei­lung des Reich­tums als öffent­li­chen Reich­tum nicht mehr lei­sten könne.

»Wer ist die Nation?«

Wir sind die Nation.

Doch die Nati­on wird geschwächt, weil die Inter­na­tio­na­li­sie­rung das Kapi­tal stärkt. Genau­er: Weil sich die Natio­nal­staa­ten von den Mana­gern mil­li­ar­den­schwe­rer Welt­kon­zer­ne und Invest­ment­fonds gegen­ein­an­der aus­spie­len las­sen. Weil die Staa­ten der Welt zuge­las­sen haben, von grenz­über­schrei­tend ope­rie­ren­den Unter­neh­men in einen »Wett­be­werb der Steu­er­sy­ste­me« ver­strickt zu wer­den. Wenn den Kon­zer­nen die Steu­ern in dem einen Land zu hoch oder die Inve­sti­ti­ons­zu­la­gen in einem ande­ren Land zu nied­rig sind, dro­hen sie mit Abwan­de­rung oder Umzug. Und solan­ge die ein­zel­nen Län­der in Kon­kur­renz um die­se Kon­zer­ne ste­hen, blei­ben sie ohn­mäch­tig gegen­über dem Druck des Kapi­tals. (Ob die geplan­te glo­ba­le Min­dest­steu­er das Pro­blem an der Wur­zel packt, wer­den wir noch sehen.)

Ohne Atem­pau­se sucht das Finanz­ka­pi­tal außer­dem nach neu­en Anla­ge­mög­lich­kei­ten. Beson­ders ren­ta­bel (und noch aus­bau­fä­hig) ist die Pri­va­ti­sie­rung des einst geschaf­fe­nen öffent­li­chen Reich­tums. Das pri­vat­wirt­schaft­li­che Kran­ken­haus, die pri­vat­wirt­schaft­li­che Uni­ver­si­tät, das pri­vat­wirt­schaft­li­che Woh­nungs­pa­ket, das pri­vat­wirt­schaft­lich geschürf­te Geld. Einer­seits wer­den die Mil­li­ar­den­pro­fi­te der glo­ba­len Kon­zer­ne kaum in öffent­li­chen Reich­tum umge­wan­delt, son­dern von eini­gen Weni­gen kas­siert. Ande­rer­seits wird der noch vor­han­de­ne öffent­li­che Reich­tum an die­sel­ben Pro­fi­teu­re ver­kauft. Zurück­las­sen könn­te der ent­fes­sel­te Neo­li­be­ra­lis­mus einen Rumpf­staat, einen moder­nen Feu­da­lis­mus, in dem es viel­leicht noch eine Art öffent­li­cher Armen­pfle­ge auf Sup­pen­kü­chen­ni­veau, öffent­li­che Schu­len für die Alpha­be­ti­sie­rung des gemei­nen Vol­kes und mas­sen­haft Ord­nungs- und Sicher­heits­kräf­te gibt. Wie in den USA. Auch in Euro­pa haben sich Rei­che in ihre von pri­va­ter Poli­zei bewach­ten Ghet­tos zurück­ge­zo­gen, in von Armut und Sozi­al­staats­ideen befrei­te Zonen.

Des­halb gibt es Krieg.

Des­halb gibt es Arme und Reiche.

Die Men­schen sor­gen sich. Für die Mei­sten sind der sozi­al­staat­li­che Schutz und ihre (immer wei­ter aus­ge­höhl­ten) gesetz­lich ver­brie­fen Rech­te als Arbeit­neh­mer das ein­zi­ge Ver­mö­gen und die ein­zi­ge Sicher­heit, die sie haben. Der schritt­wei­se erfolg­te Abschied von der Idee der Soli­dar­ge­mein­schaft und die Aus­beu­tung des Rechts durch die Mäch­ti­gen machen Angst. Bald wird die Angst uns alle haben. Doch Angst macht gefü­gig und Angst macht dumm. Angst ist, wie Oskar Negt sagt, »immer ein guter Kitt bestehen­der Macht- und Herr­schafts­ver­hält­nis­se«. Angst ver­hin­dert Widerstand.

»Wie kön­nen wir Wider­stand leisten?«

Euro­pa braucht ein Grund­ge­setz, in dem unkünd­bar die sozia­le Demo­kra­tie fest­ge­legt wird. Der Sozi­al­staat zur Stif­tung einer euro­päi­schen Iden­ti­tät. Mit die­ser Idee hat der am 29. Okto­ber 2004 von den Staats- und Regie­rungs­chefs der EU unter­zeich­ne­te euro­päi­sche Ver­fas­sungs­ver­trag wenig zu tun.

Des­halb sind wir Bür­ger gefor­dert, gegen die herr­schen­de poli­ti­sche Klas­se für Geset­ze ein­zu­tre­ten, die uns wie­der ins Recht und nicht län­ger ins »Unrecht« set­zen. In unse­rem eige­nen Inter­es­se und im Inter­es­se derer, die mit Hil­fe des »Rechts« ihrer Bür­ger­rech­te beraubt wer­den: Erwerbs­tä­ti­ge und Arbeits­lo­se, Kin­der, alte Men­schen, Flücht­lin­ge… Über­all auf der Welt.

Die Ver­tei­di­gung des Sozi­al­staa­tes ist die Ver­tei­di­gung der Demo­kra­tie. Wir soll­ten nicht zulas­sen, dass sie ein bil­li­ges Ali­bi für die mäch­ti­gen Pro­fi­teu­re des Rechts bleibt. Wer mor­det oder wer Men­schen beraubt und ins Elend stürzt, den darf kein Gesetz ins Recht set­zen. Aber um es zu ver­hin­dern, brau­chen wir gegen das Recht der Stär­ke­ren den unab­läs­si­gen Kampf für die Stär­ke des Rechts.

Demo­kra­tie ist so stark wie sie zer­brech­lich ist. Sie ist stark, wenn sie ver­tei­digt wird. Sie ist stark, wenn wir uns nicht mit Ant­wor­ten abspei­sen las­sen, die kei­ne Fra­gen dul­den. Aber sie ver­schwin­det sofort, wenn sie uns gleich­gül­tig gewor­den ist.

*Gedicht­zei­le von Ulla Hahn