Gemäß der spanischen Verfassung gilt der König als »unantastbar«. Gegen ihn dürfen weder staatliche Instanzen noch Einzelpersonen gerichtlich vorgehen. Für die spanische Presse galt darüber hinaus bis vor kurzem als ungeschriebenes Gesetz, dass über die Mitglieder der Königsfamilie nur im Stil der Hofberichterstattung geschrieben oder gesprochen werden durfte. »Aus freudigem Anlass« ja, »investigativ-kritisch« auf keinen Fall. Doch mit dieser bedingungslosen Gefolgschaft ist jetzt Schluss.
Am 2. Mai meldeten Zeitungen wie El Pais und die katalanische El Punt Avui, dass der vormalige König Juan Carlos I. im April 2010 höchstselbst und mit 1,7 Millionen Euro im Koffer zur Mirabaud-Bank nach Genf gereist sei und das Bargeld auf das Girokonto einer Stiftung namens »Lucum« eingezahlt habe. Die Bank unterhält neben ihrem Sitz in Genf auch Niederlassungen in Zürich, Basel, Paris, London, Luxemburg, Dubai und Mailand, aber auch in Madrid, Barcelona, Valencia und Sevilla.
Dass der spanische König in Genf statt in Madrid einzahlte, rief die Schweizer Staatsanwaltschaft auf den Plan. Sie erfuhr, bei dem vom König eingezahlten Geld handle es sich angeblich um eine »Spende« des Sultans von Bahrein. Die 1,7 Millionen Euro nehmen sich allerdings relativ bescheiden aus, wenn man auf weitere 100 Millionen Euro des Monarchen schaut, deren Herkunft die Schweizer Staatsanwälte aufgrund eines bis dahin geheimen Ersuchens des spanischen Obersten Gerichtshofs nachgehen, und zwar im Zusammenhang mit Korruptionsverdacht.
Anfang März war infolge eines Berichts der Tribune de Genève bekannt geworden, dass der vormalige König von Saudi-Arabien, Abdullah bin Abdulasis, bereits im Jahr 2008 auf das »Lucum«-Konto 100 Millionen Dollar angewiesen hatte. Mutmaßlich handelte es sich um Schmiergeld für die Vergabe eines milliardenschweren Auftrags zum Bau der Eisenbahn-Hochgeschwindigkeitstrasse von Mekka nach Medina an ein spanisches Konsortium. Doch damit immer noch nicht genug.
Illegale Kommissionen im Umfang von 50 Millionen Dollar – für Vermittlerdienste beim Verkauf der Banco Zaragozano an die Finanzholding Barclays – sollen der britischen Zeitung The Telegraph zufolge auf das Konto einer zweiten Stiftung geflossen sein. Als Begünstigter wird Álvaro de Orleans-Borbón genannt, ein ferner Cousin und enger Vertrauter des mittlerweile abgedankten Monarchen. Orleans-Borbón hat bestritten, ein Carlos-Strohmann zu sein, allerdings eingeräumt, dass er für zahlreiche Vergnügungsreisen seines Verwandten aufgekommen war.
Mitte März 2020 enthüllte The Telegraph in einem weiteren Artikel, dass Juan Carlos I. seinen Sohn Felipe VI. als zweiten Begünstigten des »Lucum«-Stiftungsvermögens eingesetzt hatte. Bekannt wurde das durch die aus Hessen stammende Geschäftsfrau Corinna Larsen, die es als Prinzessin Corinna zu Sayn-Wittgenstein (war einige Jahre mit Johann Casimir zu Sayn-Wittgenstein verheiratet) bis in die Klatschspalten der Yellow-Press gebracht hatte.
In der schlimmsten Krise Spaniens 2008 war Prinzessin Corinna mit dem damaligen König Juan Carlos I. auf Kosten eines saudischen Mäzens nach Botswana zur Elefantenjagd gereist. Die Nachricht von der königlichen Safari wäre dank der Verschwiegenheit der staatstragenden Parteien und Medien Spaniens kaum an die Öffentlichkeit geraten, hätte sich der König nicht bei einem nächtlichen Sturz in der Lodge die Hüfte gebrochen. Er wurde mit einem Privatjet und in Begleitung von Corinna nach Madrid ins Spital zu einer Notoperation geflogen. Abgeschirmt von Agenten des spanischen Geheimdienstes Centro Nacional de Inteligencia musste die Prinzessin später ihre Villa nahe der königlichen Residenz räumen, die ihr Juan Carlos I. auf Staatskosten eingerichtet hatte. Der alternde spanische König gelobte Besserung, Corinna geriet aus dem Blickfeld.
Anfang 2006 kam der erste Verdacht der Korruption gegen den Schwiegersohn Iñaki Urdangarin, verheiratet mit der Tochter des Königs, der Infantin Cristina de Borbón, auf. Als Präsident der vorgeblich gemeinnützigen Stiftung Nóos unterschlug er Steuergelder. Am 12. Juni 2018 bestätigte das oberste spanische Gericht das Urteil. Wegen Veruntreuung von sechs Millionen Euro Steuergeldern, Betrug, Urkundenfälschung und Geldwäsche erhielt er eine Gefängnisstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten.
Die Popularitätswerte der Bourbonen-Dynastie hatten sich seit der Elefanten-Affäre und der kriminellen Machenschaften des Schwiegersohns so rasant verschlechtert, dass Juan Carlos I. sich im Juni 2014 gezwungen sah, zugunsten seines Sohnes abzudanken. Die Inthronisierung des farblos wirkenden Königssohnes Felipe VI. am 19. Juni 2014 spiegelte die Krise der Monarchie wider. Für einen störungsfreien Ablauf der Zeremonie bot Ministerpräsident Mariano Rajoy von der Partido Popular (PP) über 6000 Sicherheitsbeamte auf. Demonstrationen im Zentrum Madrids waren verboten. Zur Fahrt ins Parlament für seinen Eid auf die spanische Verfassung benutzte Felipe einen Rolls Royce aus dem Wagenpark des Diktators Franco. Franco hatte in dem Wagen unter anderem 1954 die Parade aus Anlass des Sieges über die Spanische Republik abgenommen.
Als erste Amtshandlung sprach Felipe VI. seinem Vater Juan Carlos I. eine jährliche Apanage von 194.000 Euro zu. Auffällig wurde Felipe VI. seitdem nur durch eine Rede an die Nation anlässlich der Katalonien-Krise im Oktober 2017. Hier sprach er in einem scharfen, unversöhnlichen Ton. Seine immer wiederkehrenden Neujahrsansprachen hielt er auf Kastilianisch, abgesehen davon gibt es im Land noch weitere Sprachen: Catálan (Katalanisch), Vasco (Baskisch) und Galleo (Galizisch).
Inmitten der Corona-Krise, am 19. März, sendete das staatliche spanische Fernsehen Radio y Television Española eine hochtrabende Ansprache von Felipe VI. an seine Untertanen. Über einen denkbaren Hilfsfonds des Königshauses für die Opfer verlor er kein Wort. Dabei war gerade erst dank eines höfischen Kommuniqués bekannt geworden, dass er bereits im März 2019 durch eine britische Anwaltskanzlei vom Beschluss seines Vaters erfahren hatte, ihn zum Erben der »Lucum-Gelder« einzusetzen. König Felipe VI. brauchte länger als ein Jahr, ehe er sich zu der Erklärung durchrang, dass er die Erbschaft ausschlage und seinem Vater Juan Carlos I. die Apanage entziehe.
Den Vorsatz, sich von den schmutzigen Geschäften seines Vaters zu distanzieren, würdigten die spanischen Zeitungen trotzdem. Ende März lehnte das Parlamentspräsidium den Antrag von Unidas Podemos und acht Parteien zum fünften Mal in Folge ab, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen. Begründung: Ex-König Carlos habe in den Jahren seiner mutmaßlichen Verfehlungen Immunität genossen. Den wahren Grund für den Beschluss nannte Ex-Innenminister Jorge Fernández Diaz (PP): »Die Monarchie in Frage zu stellen ist für Spanien tödlicher als das Corona-Virus.« Unidos Podemos versucht jetzt mit Bündnispartnern, dass »Juan Carlos I. und die 100 Millionen US-$ der Saudis« Tagesordnungspunkt im Parlament wird.
Tatsächlich steht mit der Legitimitätskrise der spanischen Monarchie der Fortbestand des politischen Systems auf dem Spiel, das sich im letzten Jahrzehnt nur mühsam gegen die Revolte der Indignados, den vermeintlich unaufhaltsamen Aufstieg von Podemos und das Erstarken des katalanischen Sezessionismus behauptet hat. Wird die konstitutionelle Monarchie endlich abgeschafft, stehen auch weitere Tabus zur Debatte: die Straflosigkeit für die Verbrechen der Franco-Diktatur, das undemokratische Mehrheitswahlrecht, die Privilegien der katholischen Kirche, die Beteiligung an den Kriegseinsätzen der NATO, die Verflechtung von Politik, Konzerninteressen und Justiz zu einem Netz aus Korruption und Vetternwirtschaft und die Doktrin von der unverbrüchlichen Einheit der spanischen Nation.
Vor dem Ende der spanischen Monarchie fürchtet sich auch die Rechte, die sich seit Jahren mit aggressiven Kampagnen dagegen wehrt. Die Internetzeitung Las Repúblicas berichtet, dass die VOX-Partei seit dem 4. April eine Umfrage durchführen lasse, in der gefragt wird, ob der König nicht die Cortes auflösen soll, die Armee rufen und das Kommando übernehmen soll.
Die spanische Verfassung von 1978, in der weiter die von Franco aufgezwungene Monarchie als Staatsform steht, wurde mehrfach gesichert. Um wieder eine Republik zu werden, ist nicht nur eine Zweidrittelmehr im Parlament erforderlich, sondern auch die Auflösung und eine Neuwahl des Parlaments. Auch das neue Parlament muss für das Ende der Demokratie stimmen, erst dann können die Spanier in einer Abstimmung über das Ende der Monarchie befinden. Eher unwahrscheinlich unter den aktuellen politischen Verhältnissen.
Im Mai veröffentlichte die El Punt Avui eine Umfrage der Zeitung Público, die danach fragt, was bevorzugt werde: Republik oder Monarchie? Danach sind 51,6 Prozent der Bürger für eine Republik, 58,2 Prozent der Befragten fordern ein Referendum, um die Staatsform in Spanien zu bestimmen.