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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Dichter, Konsul, Kommunist

Am 23. Sep­tem­ber die­ses Jah­res jährt sich zum fünf­zig­sten Mal der Todes­tag von Pablo Neru­da. Als Schrift­stel­ler und Poet war Neru­da ein Hoff­nungs­trä­ger für mensch­li­che Ver­hält­nis­se, für Gleich­heit und Soli­da­ri­tät mit den Namen­lo­sen und Mar­gi­na­li­sier­ten sei­nes Kon­ti­nents. Er erhob sei­ne Stim­me gegen Aus­beu­tung, Faschis­mus und Unge­rech­tig­keit weit über den latein­ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nent hinaus.

Am 12. Juli 1904 wur­de Ricar­do Elié­cer Nef­talí Rey­es Baso­al­to im süd­chi­le­ni­schen Ort Par­ral gebo­ren. Sein Pseud­onym Pablo Neru­da nahm er erst spä­ter an. Schon früh zeig­te sich sein künst­le­ri­sches Talent. Er gewann Prei­se und ver­öf­fent­lich­te 1923 bereits sein erstes selbst­fi­nan­zier­tes Buch. In Sant­ia­go de Chi­le stu­dier­te er Fran­zö­sisch und Päd­ago­gik. Ab 1927 trat er in den diplo­ma­ti­schen Dienst ein und war in den ersten Jah­ren in ver­schie­de­nen Län­dern Süd­ost­asi­ens als Hono­rar­kon­sul tätig. Ab 1933 war er Kon­sul in Bue­nos Aires und wech­sel­te ein Jahr spä­ter als chi­le­ni­scher Kon­sul nach Spa­ni­en, erst nach Bar­ce­lo­na und danach nach Madrid.

Am 17. Juli 1936 begann der Spa­ni­sche Bür­ger­krieg mit dem Putsch Fran­cos. Für Neru­da prä­gend war der Tod sei­nes Künst­ler­freun­des Gar­cia Lor­ca, der von Fran­cis­ten erschos­sen wur­de. Obwohl zu Neu­tra­li­tät ver­pflich­tet, wand­te sich Neru­da ent­schlos­sen gegen den Faschis­mus. Sei­ne Wer­ke wur­den ein­deu­tig poli­ti­scher. Als die spa­ni­schen Put­schi­sten kurz davor waren, Madrid zu erobern, muss­te er über Mar­seil­le nach Paris flüch­ten. Mit sei­nen spa­ni­schen Erfah­run­gen ver­öf­fent­lich­te er in Frank­reich sei­nen Lyrik­band Die Dich­ter der Welt ver­tei­di­gen das spa­ni­sche Volk.

1938 kehr­te er zunächst nach Chi­le zurück, trat als Autor gegen den welt­wei­ten Faschis­mus auf, bevor ein Jahr spä­ter die Volks­front in Chi­le an die Macht kam. Von der chi­le­ni­schen Regie­rung wur­de er damit betraut, von Paris aus spa­ni­schen Flücht­lin­gen und Exi­lan­ten die siche­re Über­fahrt und Flucht nach Süd­ame­ri­ka zu ermög­li­chen. In weni­gen Mona­ten brach­te er ca. 2.000 Flüch­ti­ge des ver­lo­ren gegan­ge­nen Bür­ger­kriegs mit dem spe­zi­ell dazu umge­bau­ten Pas­sa­gier­damp­fer Win­nipek sicher nach Chi­le und ret­te­te vie­le vor Ver­fol­gung und Tod.

Ab März 1945 trat er auf der Liste der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei Chi­les als unab­hän­gi­ger Kan­di­dat an, und nach sei­ner Wahl wur­de er im Juli Par­tei­mit­glied. Der amtie­ren­de Prä­si­dent Chi­les änder­te kurz nach gewon­ne­ner Wahl unter dem Ein­fluss des begin­nen­den Kal­ten Krie­ges radi­kal sei­nen poli­ti­schen Kurs, der im Gegen­satz zu sei­nem Wahl­ver­spre­chen deut­lich anti­kom­mu­ni­stisch wur­de. Neru­da kri­ti­sier­te öffent­lich die­sen Sin­nes­wan­del aufs Schärf­ste, wor­auf ein Haft­be­fehl gegen ihn erlas­sen wur­de. Wie in Madrid ent­kam er in letz­ter Minu­te sei­nen Häschern und muss­te für die näch­sten ein­ein­halb Jah­re im Unter­grund fast täg­lich sei­nen Unter­schlupf wech­seln. Die ein­fa­chen Leu­te Chi­les hat­ten nicht ver­ges­sen, mit wel­chem Mut er Prä­si­dent Gon­zá­lez wider­spro­chen hat­te, und gaben ihm Zuflucht und Schutz. In die­ser Zeit ent­stand sein gro­ßes Werk Can­to Gene­ral (Der gro­ße Gesang), eine umfang­rei­che Samm­lung von 15.000 Ver­sen, in denen er nicht nur die leid­vol­le Geschich­te des latein­ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nents poe­tisch ver­ar­bei­te­te, son­dern in immens vie­len Bei­spie­len und Bil­dern Land­schaf­ten, Natur und auch die Men­schen Süd­ame­ri­kas nicht nur beschrieb, son­dern ihnen eine Stim­me gab.

Ein wei­te­res Mal war eine Flucht unum­gäng­lich. Mit Hil­fe sei­ner Par­tei gelang die Flucht über unweg­sa­me Berg­pfa­de nach Argen­ti­ni­en, und von dort mit gefälsch­tem Pass ein drit­tes Mal nach Paris.

Am zwei­ten Welt­frie­dens­kon­gress 1950 in War­schau erhielt er zusam­men mit Pablo Picas­so den Frie­dens­preis. In den fol­gen­den Jah­ren rei­ste Neru­da in Euro­pa, Indi­en, Chi­na zu einer Viel­zahl von Frie­dens­kon­gres­sen und setz­te sich öffent­lich für demo­kra­ti­sche Ver­hält­nis­se, Sozia­lis­mus und gegen Faschis­mus und die Unter­drückung der Völ­ker ein.

Nach sei­ner erneu­ten Rück­kehr in sei­ne Hei­mat wur­de Neru­da von der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei als Prä­si­dent­schafts­kan­di­dat nomi­niert, ver­zich­te­te aber zugun­sten sei­nes Freun­des und Par­tei­ge­nos­sen Sal­va­dor Allen­de, eben­falls Kan­di­dat des Wahl­bünd­nis­ses Uni­dad Popu­lar, auf eine Kan­di­da­tur. Allen­de gewann die Prä­si­dent­schafts­wahl 1970. Neru­da wur­de erneut Bot­schaf­ter in Frank­reich. Im Okto­ber 1971 folg­te die Ver­lei­hung des Nobel­prei­ses für Lite­ra­tur in Stock­holm, aber sein Gesund­heits­zu­stand ver­schlech­ter­te sich zunehmend.

Der 11. Sep­tem­ber 1973 änder­te alles. An die­sem Tag begann der Mili­tär­putsch reak­tio­nä­rer Kräf­te unter Gene­ral Pino­chet gegen die demo­kra­tisch gewähl­te Regie­rung Uni­dad Popu­lar und die voll­kom­me­ne Zer­stö­rung eines ersten sozia­li­sti­schen Ver­suchs, Chi­le ein mensch­li­ches Gesicht zu geben. Zwölf Tage nach dem Putsch starb Pablo Neru­da am 23. Sep­tem­ber. Nie wur­de geklärt, ob er sei­ner Krebs­er­kran­kung erlag, oder durch eine mit Absicht ver­ab­reich­te Sprit­ze zu Tode kam. Nach sei­nem Tod wur­de sein Haus vom Mili­tär geplün­dert und zer­stört. Sei­ne Beer­di­gung fand ledig­lich im Bei­sein sei­ner Frau und weni­ger Getreu­er statt.

Neben sei­ner Selbst­bio­gra­fie Ich beken­ne, ich habe gelebt ist sein Zen­tral­werk Can­to Gene­ral von über­ra­gen­der Ein­zig­ar­tig­keit und der Höhe­punkt sei­ner schrift­stel­le­ri­schen Ent­wick­lung. Es wur­de in unzäh­li­ge Spra­chen über­setzt. Neru­das mate­ria­li­sti­sche Dar­stel­lun­gen, ohne jeg­li­che idea­li­sti­sche Ver­ir­run­gen, ist das Gegen­teil von Kunst­for­men des sozia­li­sti­schen Rea­lis­mus. Als Dich­ter des Vol­kes, als sol­cher begriff er sich immer, ver­ei­nig­te er lite­ra­risch die histo­ri­schen Befrei­ungs­kämp­fe des Kon­ti­nents, die kal­ten Win­de sei­ner Hei­mat, die Ver­bre­chen der Usur­pa­to­ren, die Schön­heit der Vögel des Dschun­gels und das Leuch­ten des Mee­res, und schaff­te so ein gedank­li­ches Uni­ver­sum in der Ver­ei­ni­gung von Men­schen, Natur, Tie­ren, Pflan­zen und der Ankla­ge gegen den Coca-Cola-Imperialismus.

In Paris traf er auf den im Exil leben­den grie­chi­schen, und mitt­ler­wei­le ver­stor­be­nen, Kom­po­ni­sten Mikis Theod­ora­kis. Auf Wunsch Allen­des wur­de die Idee, Tei­le des Can­to Gene­rals als Ver­bin­dung von Dich­tung und Musik in einem gro­ßen Ora­to­ri­um zu ver­to­nen, ver­ein­bart. Geplant war die Auf­füh­rung des Wer­kes im Natio­nal­sta­di­um in Sant­ia­go de Chi­le. Dazu kam es nicht mehr. Zum geplan­ten Zeit­punkt der Auf­füh­rung wur­de das Sta­di­um als Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger und Fol­ter­ge­fäng­nis der Put­schi­sten ver­wen­det. Zu glei­cher Zeit befrei­te sich Grie­chen­land von sei­nen faschi­sti­schen Obri­sten, Theod­ora­kis konn­te in sei­ne Hei­mat zurück­keh­ren, und als Sym­bol inter­na­tio­na­ler Soli­da­ri­tät wur­de das Ora­to­ri­um statt in Sant­ia­go in drei Kon­zer­ten im Som­mer 1974 in Athen urauf­ge­führt. Vor mehr als hun­dert­tau­send fre­ne­tisch fei­ern­der Grie­chen, die die Dik­ta­tur der Mili­tär­re­gie­rung kurz zuvor abge­schüt­telt hat­ten, ver­band sich die Hoff­nung, dass Glei­ches auch in Chi­le mög­lich wäre.

Kri­ti­ker war­fen Neru­da vor, dass sei­ne Lyrik banal, ja popu­li­stisch sei. Die­se Kri­ti­ker haben nie ver­stan­den, dass er zwar popu­lär schrieb, um auch von unge­bil­de­ten Men­schen ver­stan­den zu wer­den, aber das in aller­be­stem Sin­ne. Selbst­dar­stel­lung oder die Stim­me aus dem Elfen­bein­turm waren nie sei­ne Sache. Er hat den stum­men und ver­stumm­ten Men­schen Latein­ame­ri­kas eine poe­ti­sche Stim­me gege­ben. Er wur­de ver­stan­den, weil er Berei­che in ihrem Inne­ren ansprach, die ver­schüt­tet waren und die er wie­der ans Licht brach­te. Sein Wir­ken war für Leu­te “ohne Schu­le und Schu­he“, wie er es aus­drück­te. In sei­ner Auto­bio­gra­fie beschreibt er, wie er in einem Gewerk­schafts­lo­kal vor ein­fa­chen Lasten­trä­gern, schlecht­be­zahl­ten Arbei­tern, die in Elends­vier­teln und Baracken hau­sten, sei­ne Gedich­te vor­trug und die Zuhö­rer zu Trä­nen rühr­te. Sei­ne Poe­tik ist für hie­si­ges Ver­ständ­nis oft zu blu­mig, über­la­den oder barock, für die Men­schen des latein­ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nents aber ein Aus­druck, die ihrer tie­fen inne­ren Befind­lich­keit entspricht.

Erwähnt wer­den muss aber auch, dass sich Neru­das Poli­tik­an­satz nicht unbe­dingt durch ein tie­fes ana­ly­ti­sches Ver­ständ­nis aus­zeich­ne­te. Vie­les begriff er ober­fläch­lich, viel­leicht naiv. Dies zeig­te sich ins­be­son­de­re bei sei­ner posi­ti­ven Ein­schät­zung der poli­ti­schen und sozia­len Ent­wick­lung Russ­lands wäh­rend der sta­li­ni­sti­schen Zeit. Aber immer war sein unbe­ding­ter Wil­le ersicht­li­che, am Auf­bau eines men­schen­freund­li­chen Sozia­lis­mus mit­zu­ar­bei­ten. Und in die­sem Sin­ne war­tet Pablo Neru­da auf eine Wiederentdeckung.