Ist der Irrsinn kapitalistischer Ökonomie in unserer Gegenwart nun erklärbar – oder aber eher nicht? Ernsthafte Auseinandersetzungen zwischen Theoretikern der marxistisch orientierten Linken sind mittlerweile eher selten geworden. Immerhin erschien kürzlich ein Buch, in dem es unter anderem um genau dieses Thema ging. Tatsächlich handelt es sich um ein mehrteiliges Streitgespräch über den Sinn oder Unsinn politischer Ökonomie insgesamt – ein interessantes Buch, zumal die Autoren eine sehr unterschiedliche Biografie aufweisen.
Klaus Müller (*1944) promovierte in der DDR, hatte bis 1991 eine Professur für Wirtschaftswissenschaft an der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt und veröffentlichte danach mehrere Bücher über marxistische Ökonomie. Sein Kontrahent Knut Hüller (*1953) hat hingegen eine ausgesprochen westlinke Sozialisation: Schulbildung zeitgleich mit Aufstieg und Niedergang der 68er-Bewegung, Studium der Physik, wissenschaftliche Arbeit in einem Chemieinstitut, aus negativen Erfahrungen mit bundesdeutschen Wirtschaftsunternehmen resultierendes Engagement in der wertkritischen Bewegung. Hüller ist Autor mehrerer Theoriebeiträge, die in den letzten Jahren in verschiedenen Zeitschriften erschienen.
Die Debatte zwischen beiden Autoren begann mit einer Rezension: Müller hatte 2019 im PapyRossa Verlag ein Buch mit dem Titel »Auf Abwegen. Von der Kunst der Ökonomen sich selbst zu täuschen« veröffentlicht. Hüller verfasste für die Zeitschrift Exit! eine sehr kritische Besprechung des Werkes. Müller widersprach dieser Kritik und Hüller widersprach dem Widerspruch. Das Ergebnis war ein längerer Streit, der nun in Buchform dokumentiert ist. Der Fairness halber sei an dieser Stelle angemerkt, dass der Autor dieser Zeilen zwar ebenfalls ostdeutsch sozialisiert ist und unter anderem ein Studium der Ökonomie absolvierte – meine Sicht sich aber heftig von der Sicht Klaus Müllers unterscheidet. Worin besteht nun der Dissens zwischen beiden Autoren? Weitgehend einig sind sie sich offenbar über den derzeitigen Verfall der klassischen bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft.
Wie Hüller ganz am Anfang des Bandes schreibt, sei sein Kontrahent bestrebt, die von ihm durchaus zu Recht kritisierte politische Ökonomie des kapitalistischen Systems durch eine »bessere Ökonomie« zu ersetzen – indem man Karl Marx als Kritiker eben dieser politischen Ökonomie in diese mit einbaue. Das Ergebnis einer solchen Einbindung würde aber die Generalkritik des »positiv-wissenschaftlich gar nicht fassbaren Irrsinn(s)« politischer Ökonomie auf eines von vielen »alternativen positiven Modellen“ reduzieren. Und die Suche nach einem funktionierenden Modell lasse dann völlig aus dem Blick geraten, »wie das zu beschreibende Original bereits ächzt und stöhnt«. Eine solche »verflachte Kapitalismuskritik« müsse zudem »früher oder später zurück in bürgerliches Bewusstsein« führen.
Müller fühlte sich offensichtlich beleidigt und persönlich angegriffen und schrieb in seiner Replik, es ginge ihm darum, wie »das komplexe Ganze (besser) erfasst werden« könne. Dies schließe »die notwenige Kapitalismuskritik ein«. Freilich sei die Realität derart komplex, dass »man sie mit einem Hieb gar nicht erfassen« könne.
Wie aus den weiteren Ausführungen der Kontrahenten hervorgeht, definiert Müller das System des Kapitalismus im Wesentlichen immer noch als Ausbeutungsverhältnis, welches dem Großteil der Bevölkerung ihren Anteil am erwirtschafteten Gewinn vorenthalte. Für Hüller ist der auf dem »Basisprinzip Wachstum« beruhende Kapitalismus hingegen primär ein repressives System, welches zwanghaft aus diesem Wachstum resultierende Verteilungskämpfe produziere. Und ein Wahnsystem lasse sich nun mal nicht rational modellieren. Wie er an anderer Stelle schreibt, sei frühen Hochzivilisationen – die ganz gewiss keine egalitär strukturierte Idylle waren – das »moderne Aufrechnen von allem und jedem beim Nehmen und Geben (…) weitgehend fremd« gewesen. Logisch sei es demzufolge, das als politische Ökonomie bezeichnete unsinnige gesellschaftliche Leitbild für immer loszuwerden.
Müller warf seinem Kontrahenten daraufhin »physikalisches Schmalspurdenken« vor, nannte ihn einen »ökonomischen Autodidakten«, meinte, die Wertkritik wolle »den Wert abschaffen«, da sie »seinen Inhalt, seine Funktion im Kapitalismus« nicht begreife. Das Wort »abschaffen« dürfte sich allerdings in keinen diesbezüglichen Schriften erstzunehmender Wertkritiker nachweisen lassen. Müllers Argumentation bezeugt unfreiwillig, dass er offensichtlich außerstande ist, über die Kategorien kapitalistischen Wirtschaftens hinauszudenken.
Kritik am Kapitalismus wird als Folge des zunehmenden ideologischen Verfalls der Linken derzeit hauptsächlich von rechter Seite geübt. Wobei der politischen Rechten eine Grundsatzkritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus völlig fremd ist – ihre Wunschvorstellung ist vielmehr eine Rückkehr in die Phase des repressiv-barbarischen Frühkapitalismus, in der die Welt angeblich »noch in Ordnung« war. Dass sich gesellschaftliche Entwicklungen nicht einfach so zurückdrehen lassen, entzieht sich ihrer Vorstellungskraft.
Es stellt sich nun folgende Frage: Ist die notwendige Folge eines sich derzeit andeutenden Zusammenbruchs kapitalistisch dominierten Wirtschaftens ein durchgehender Absturz in Hunger und Barbarei? Die Antwort lautet: Nicht zwangsläufig. Viele Erfindungen und zivilisatorische Errungenschaften in der Geschichte der Menschheit – wie beispielsweise Ackerbau, Viehzucht, Metallurgie, Malerei, Musik, Dichtkunst und die Schrift – datieren aus Zeiten lange vor dem frühen Kapitalismus. Und der etwa im 16./17. Jahrhundert entstandene Frühkapitalismus hat damals nicht etwa durchgängig Wohlstand und Kultur hervorgebracht, sondern zunächst erst einmal eine Welle grausiger Verarmung der europäischen Bevölkerungsmehrheit. Der Philosoph Robert Kurz (1942-2012) hat dies in seinem 1999 erschienenem »Schwarzbuch Kapitalismus« wie folgt auf den Punkt gebracht: »In der frühmodernen Epoche vor der Industrialisierung hatte sich ganz Europa in eine Dante’sche Hölle der Verelendung verwandelt.«
Und zu den späteren »Errungenschaften« des entwickelten Kapitalismus zählten dann unter anderem bewusst erzeugte Hungerkatastrophen, Jahre währende Stellungskriege unter Bomben- und Granathagel, Massenmorde an Wehrlosen mittels Giftgases sowie die Entwicklung und der Abwurf von Atombomben. Uns stehen offensichtlich noch ganz böse Zeiten bevor.
Klaus Müller/Knut Hüller: Der Dialog. Ein Gespräch über Sinn und Unsinn der politischen Ökonomie, Mangroven Verlag, Kassel 2023, 154 S., 18 €.