Tatsächlich, sie waren alle angereist: Luc Jochimsen aus Hamburg, Wolfgang Herles aus Bayern, Michael Schmidt aus Rostock und Lutz Herden aus Berlin. Jeder hätte überzeugende Gründe vorbringen können, um der Einladung nach Adlershof nicht zu folgen. Die vier Fernsehjournalisten sind schon etliche Jahre nicht mehr auf Sendung, wenngleich nicht in jedem Falle das Alter der Anlass war, sie seinerzeit in die Wüste oder in Rente zu schicken. Es lag wohl auch an ihrem Mangel an Opportunismus und dem Beharren auf einer eigenen Meinung. Denn die war nicht immer deckungsgleich mit der ihres Arbeitgebers. Ihre unbotmäßige Haltung motivierte sie auch, über den beklagenswerten Zustand des öffentlich-rechtlichen Fernsehens heute nachzudenken und diese Überlegungen in ein Buch zu packen. Darin suchten die vier Fernseh-Veteranen Antworten auf die Frage, die Daniela Dahn der kollektiven Bestandsaufnahme vorangestellt hatte: »Warum gedeiht im Land der Dichter und Denker ein öffentlich-rechtliches Fernsehen, das die von Kant beklagte selbstverschuldete Unmündigkeit fortschreibt?« Die politische Klasse habe möglicherweise kein Interesse an wissenden, selbstbestimmten Bürgern. »Staatliche Maßnahmen sollen nicht in Zweifel gezogen werden. Die Deutungshoheit über die Meinung von Mehrheiten ist« – so vermutete Dahn im Vorwort – »ausschlaggebend für den Machterhalt«.
Eingeladen zu Buchvorstellung und Diskussion hatte das Theater Ost auf dem Gelände der einstigen Sendeanstalt des DDR-Fernsehens, woran nicht nur der »Klaus-Feldmann-Saal« erinnert. Feldmann sprach einst in diesem Gebäude die Nachrichten, und nach der Abwicklung von Adlershof schrieb er Bücher. Die präsentierte er auch in diesem Haus, welches einmal – lang, lang ist’s her – das einzige deutsche Fernsehtheater beherbergte. 1952 im Bauhausstil errichtet, später zum Fernsehstudio umgebaut, aus dem bis 1991 die Aktuelle Kamera gesendet wurde, spielt dort nun seit 2015 schon die von Kathrin Schülein engagiert geführte Bühne. Im einstigen Foyer des Fernsehtheaters gibt es eine lauschige Lounge mit Bar. Sie war bis auf den letzten Sessel gefüllt, als die vier Ex-Kollegen im Podium Platz nahmen, denn viele Gäste hatten augenscheinlich die gleiche Profession, wie unschwer an der lautstark bekundeten Wiedersehensfreude zu erkennen war.
Luc Jochimsen, einst ARD-Korrespondentin und später Chefredakteurin des Hessischen Rundfunks, sprach Ostern 1999 ihren letzten Kommentar im Ersten. Jugoslawien wurde von der Nato bombardiert, weil laut dem grünen Bundesaußenminister ein neues Auschwitz drohte. Belgrad gab, um das sinnlose Töten und Zerstören zu beenden, eine einseitige Waffenstillstandserklärung ab. Im Westen – auch in der Bundesrepublik – stieß diese sofort auf kategorische Ablehnung. Jochimsen dazu in den ARD-Tagesthemen: »Erschreckend schnell mit dem Wort waren die Herren an den Hebeln der Macht und der Maschinerie des Krieges heute: halbherzig, nicht ausreichend, eine Mogelpackung und eine Finte nannten sie das einseitige – also ohne Bedingungen – gestellte Waffenstillstandsangebot Jugoslawiens und machten ihren Krieg weiter. Warum können wir nicht eigentlich einen Tag oder drei Tage die Luftangriffe aussetzen? Jetzt, da es das einseitige Waffenstillstandsangebot gibt. Was verlieren wir? Was riskieren wir?« Stattdessen bombardiere der Westen bar aller Vernunft und Logik weiter. »Von da an war ich bei den hochmögenden Sozialdemokraten und Grünen unten durch«, erklärte Jochimsen. »Ich bekam keine Chance mehr, in der ARD den Krieg zu kommentieren.« Andere Korrespondenten und Kommentatoren machten später bei anderen Kriegen ähnliche Erfahrungen.
Wolfgang Herles wurde 1991 als Leiter des ZDF-Studios Bonn abberufen, weil er Kanzler Kohl kritisiert hatte. Herles leitete nach dem Rauswurf zwar anderthalb Jahrzehnte das Kulturmagazin aspekte, aber das war keine vordergründig politische Sendung, bei der man sich mit der politischen Klasse anlegen konnte. Existenzielle Fragen wie die von Krieg und Frieden wurden dort jedenfalls nicht grundsätzlich verhandelt. »Nicht nur undemokratische Regime verfolgen Andersdenkende als Abweichler«, so Herles. »Mundtot gemacht werden kann man auch in der Demokratie, nur die Methoden sind andere.« Und weiter zum Selbstverständnis seiner Zunft: Journalisten, die nicht kritisch sein wollen oder können, »sind keine Journalisten, sondern Lautsprecher«. Es genüge nicht zu behaupten, man stehe auf der Seite der Mehrheit oder der Geschichte oder »meinetwegen der Moral«. Hans Joachim Friedrichs zitierend sagte Herles: »Ein guter Journalist zu sein, bedeutet Distanz zu halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit zu versinken«, und fragte sogleich nach: Aber wer bestimmt, was eine gute Sache ist? »Die Regierung, die Mehrheit, der Chefredakteur?« Wer darüber jedoch streitet, was gut oder richtig sei, ist hierzulande schnell umstritten. »Geschlossenheit gilt in Deutschlands Konsensgesellschaft als Bürgerpflicht, als Tugend, gar als Staatsräson.«
Die Diskussion war allerdings kein Wundenlecken, kein Trauern über verlorene Scharmützel in den Fernsehkulissen. Das Gespräch, an dem sich die zahlenden Gäste beteiligten, kreiste um den Verlust von Glaubwürdigkeit der Öffentlich-Rechtlichen, den Vorwurf ihrer Gleichschaltung und Uniformität, der Verflachung des Angebots. Lutz Herden – einst Korrespondent des DFF und nach der Wende Leiter der Hauptabteilung Nachrichten und Journale in Adlershof – beobachtet heute als Redakteur bei der Wochenzeitung Freitag die gleichen Tendenzen in der Gesellschaft und im Fernsehen (das ja Teil der Wirklichkeit ist), wie wir sie zum Ende der DDR erlebt hatten. Was sein Kollege Michael Schmidt bestätigte. Wie Herden absolvierte dieser die Leipziger Karl-Marx-Universität und war bis vor wenigen Monaten noch beim NDR tätig, inzwischen gehört der Diplomjournalist Schmidt dem Rundfunkrat des Senders an.
Auch wenn vorrangig über Einschaltquoten und Reichweiten geredet wird, über Fernsehgebühren und deren Zweckentfremdung (Stichworte RBB und Patricia Schlesinger), geht es natürlich vornehmlich um Besitzstandswahrung und damit um die Abwehr von grundlegenden-, also System-Veränderungen. Daniela Dahn nannte das prägnant »Machterhalt«. Zur Abwehr gehört – neben Klischees und Ignoranz – auch das fortgesetzte Penetrieren bestimmter Narrative, der Behauptung von verkrusteten Strukturen. Zweckdienlich wird etwa der Osten als Erbe zweier Diktaturen gezeichnet und zum Hort demokratieunwilliger und -unfähiger Zeitgenossen erklärt, gegen die Brandmauern errichtet werden müssten. Selbst 35 Jahre nach dem Ende des »Unrechtsregimes« spielen in Gegenwartsfilmen oft Stasi und Stacheldraht unverändert tragende Rolle. Schmidt erinnerte exemplarisch an den ARD-Mehrteiler »Die Toten von Marnow« (2021), in der es um scheinbar authentische Vorgänge in der finsteren Vergangenheit ging, die nun ihre dunklen Schatten auf die Gegenwart werfen. Die krude Darstellung von Medikamententests im Auftrag westdeutscher Pharmakonzerne (wegen der Kapitalismuskritik), vornehmlich aber von kriminellen Menschenversuchen in der DDR in diesem Vierteiler empörte selbst die Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der SED-Diktatur in Mecklenburg-Vorpommern, wo der Film spielte. Anders als im Film behauptet, habe die Staatssicherheit »im Zusammenhang mit den Medikamententest keinerlei Einfluss auf Auswahl oder Durchführung der klinischen Testphasen« gehabt, erklärte sie, die sich doch mit der MfS-Materie auskennt. NDR-Journalisten recherchierten und wiesen nach, wo hier Geschichte absichtsvoll geklittert wurde. Die Richtigstellung erschien als Online-Text, der Film ist noch immer in der Mediathek abzurufen. »Zu vermuten ist, dass schockierende Bilder und Dialoge aus dem Fernsehkrimi einem westdeutschen Publikum stärker im Gedächtnis haften bleiben als der sachliche Onlinetext. Wenn der denn überhaupt gelesen wurde«, mutmaßte Schmidt.
Sollte man deshalb das öffentlich-rechtliche Fernsehen abschaffen? Nein, im Gegenteil, man müsse um dieses Kulturgut kämpfen. Darin waren sich die vier Ex-Fernsehjournalisten einig. Wir müssten ihm mehr als nur eine Träne nachweinen, wenn es stürbe. Und für seine Erhaltung zu streiten heiße gegen Anmaßung und Maßlosigkeit, gegen Gleichschaltung und Uniformität, gegen Bevormundung und Entmündigung entschieden zu fechten. Mit welcher Begründung zum Beispiel werden dem Intendanten einer Landesanstalt und seinen Direktoren höhere Bezüge als einem Bundeskanzler und seine Entourage zugestanden? Arbeiter er länger und härter als dieser? Warum bekommen wir in den politischen Talkshows immer die gleichen selbstgerechten Alleswisser zu sehen, die »Lautsprecher« (Herles), welche stets die gewünschten Gebetsmühlen drehen. Hält man uns, das Fernsehpublikum, wirklich für so blöd, dass wir das Stroh fressen wollen, das sie dreschen? In der Antike mistete man den Augiasstall aus. Das ging wahrscheinlich schneller als hierzulande etwas zu reformieren. Luc Jochimsen am Ende resignativ wie ermutigend: »Ich glaube auch, dass uns in diesen schrecklichen Zeiten nur ein Zusammenhalten und -denken noch etwas geben kann.«
Lutz Herden, Wolfgang Herles, Luc Jochimsen, Michael Schmidt: Der aufhaltsame Abstieg des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Berichte von Beteiligten. Mit einem Vorwort von Daniela Dahn, edition ost, 288 S., 20 €.