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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Deutungshoheit und Machterhalt

Tat­säch­lich, sie waren alle ange­reist: Luc Jochim­sen aus Ham­burg, Wolf­gang Her­les aus Bay­ern, Micha­el Schmidt aus Rostock und Lutz Her­den aus Ber­lin. Jeder hät­te über­zeu­gen­de Grün­de vor­brin­gen kön­nen, um der Ein­la­dung nach Adlers­hof nicht zu fol­gen. Die vier Fern­seh­jour­na­li­sten sind schon etli­che Jah­re nicht mehr auf Sen­dung, wenn­gleich nicht in jedem Fal­le das Alter der Anlass war, sie sei­ner­zeit in die Wüste oder in Ren­te zu schicken. Es lag wohl auch an ihrem Man­gel an Oppor­tu­nis­mus und dem Behar­ren auf einer eige­nen Mei­nung. Denn die war nicht immer deckungs­gleich mit der ihres Arbeit­ge­bers. Ihre unbot­mä­ßi­ge Hal­tung moti­vier­te sie auch, über den bekla­gens­wer­ten Zustand des öffent­lich-recht­li­chen Fern­se­hens heu­te nach­zu­den­ken und die­se Über­le­gun­gen in ein Buch zu packen. Dar­in such­ten die vier Fern­seh-Vete­ra­nen Ant­wor­ten auf die Fra­ge, die Danie­la Dahn der kol­lek­ti­ven Bestands­auf­nah­me vor­an­ge­stellt hat­te: »War­um gedeiht im Land der Dich­ter und Den­ker ein öffent­lich-recht­li­ches Fern­se­hen, das die von Kant beklag­te selbst­ver­schul­de­te Unmün­dig­keit fort­schreibt?« Die poli­ti­sche Klas­se habe mög­li­cher­wei­se kein Inter­es­se an wis­sen­den, selbst­be­stimm­ten Bür­gern. »Staat­li­che Maß­nah­men sol­len nicht in Zwei­fel gezo­gen wer­den. Die Deu­tungs­ho­heit über die Mei­nung von Mehr­hei­ten ist« – so ver­mu­te­te Dahn im Vor­wort – »aus­schlag­ge­bend für den Machterhalt«.

Ein­ge­la­den zu Buch­vor­stel­lung und Dis­kus­si­on hat­te das Thea­ter Ost auf dem Gelän­de der ein­sti­gen Sen­de­an­stalt des DDR-Fern­se­hens, wor­an nicht nur der »Klaus-Feld­mann-Saal« erin­nert. Feld­mann sprach einst in die­sem Gebäu­de die Nach­rich­ten, und nach der Abwick­lung von Adlers­hof schrieb er Bücher. Die prä­sen­tier­te er auch in die­sem Haus, wel­ches ein­mal – lang, lang ist’s her – das ein­zi­ge deut­sche Fern­seh­thea­ter beher­berg­te. 1952 im Bau­haus­stil errich­tet, spä­ter zum Fern­seh­stu­dio umge­baut, aus dem bis 1991 die Aktu­el­le Kame­ra gesen­det wur­de, spielt dort nun seit 2015 schon die von Kath­rin Schü­lein enga­giert geführ­te Büh­ne. Im ein­sti­gen Foy­er des Fern­seh­thea­ters gibt es eine lau­schi­ge Lounge mit Bar. Sie war bis auf den letz­ten Ses­sel gefüllt, als die vier Ex-Kol­le­gen im Podi­um Platz nah­men, denn vie­le Gäste hat­ten augen­schein­lich die glei­che Pro­fes­si­on, wie unschwer an der laut­stark bekun­de­ten Wie­der­se­hens­freu­de zu erken­nen war.

Luc Jochim­sen, einst ARD-Kor­re­spon­den­tin und spä­ter Chef­re­dak­teu­rin des Hes­si­schen Rund­funks, sprach Ostern 1999 ihren letz­ten Kom­men­tar im Ersten. Jugo­sla­wi­en wur­de von der Nato bom­bar­diert, weil laut dem grü­nen Bun­des­au­ßen­mi­ni­ster ein neu­es Ausch­witz droh­te. Bel­grad gab, um das sinn­lo­se Töten und Zer­stö­ren zu been­den, eine ein­sei­ti­ge Waf­fen­still­stands­er­klä­rung ab. Im Westen – auch in der Bun­des­re­pu­blik – stieß die­se sofort auf kate­go­ri­sche Ableh­nung. Jochim­sen dazu in den ARD-Tages­the­men: »Erschreckend schnell mit dem Wort waren die Her­ren an den Hebeln der Macht und der Maschi­ne­rie des Krie­ges heu­te: halb­her­zig, nicht aus­rei­chend, eine Mogel­packung und eine Fin­te nann­ten sie das ein­sei­ti­ge – also ohne Bedin­gun­gen – gestell­te Waf­fen­still­stands­an­ge­bot Jugo­sla­wi­ens und mach­ten ihren Krieg wei­ter. War­um kön­nen wir nicht eigent­lich einen Tag oder drei Tage die Luft­an­grif­fe aus­set­zen? Jetzt, da es das ein­sei­ti­ge Waf­fen­still­stands­an­ge­bot gibt. Was ver­lie­ren wir? Was ris­kie­ren wir?« Statt­des­sen bom­bar­die­re der Westen bar aller Ver­nunft und Logik wei­ter. »Von da an war ich bei den hoch­mö­gen­den Sozi­al­de­mo­kra­ten und Grü­nen unten durch«, erklär­te Jochim­sen. »Ich bekam kei­ne Chan­ce mehr, in der ARD den Krieg zu kom­men­tie­ren.« Ande­re Kor­re­spon­den­ten und Kom­men­ta­to­ren mach­ten spä­ter bei ande­ren Krie­gen ähn­li­che Erfahrungen.

Wolf­gang Her­les wur­de 1991 als Lei­ter des ZDF-Stu­di­os Bonn abbe­ru­fen, weil er Kanz­ler Kohl kri­ti­siert hat­te. Her­les lei­te­te nach dem Raus­wurf zwar andert­halb Jahr­zehn­te das Kul­tur­ma­ga­zin aspek­te, aber das war kei­ne vor­der­grün­dig poli­ti­sche Sen­dung, bei der man sich mit der poli­ti­schen Klas­se anle­gen konn­te. Exi­sten­zi­el­le Fra­gen wie die von Krieg und Frie­den wur­den dort jeden­falls nicht grund­sätz­lich ver­han­delt. »Nicht nur unde­mo­kra­ti­sche Regime ver­fol­gen Anders­den­ken­de als Abweich­ler«, so Her­les. »Mund­tot gemacht wer­den kann man auch in der Demo­kra­tie, nur die Metho­den sind ande­re.« Und wei­ter zum Selbst­ver­ständ­nis sei­ner Zunft: Jour­na­li­sten, die nicht kri­tisch sein wol­len oder kön­nen, »sind kei­ne Jour­na­li­sten, son­dern Laut­spre­cher«. Es genü­ge nicht zu behaup­ten, man ste­he auf der Sei­te der Mehr­heit oder der Geschich­te oder »mei­net­we­gen der Moral«. Hans Joa­chim Fried­richs zitie­rend sag­te Her­les: »Ein guter Jour­na­list zu sein, bedeu­tet Distanz zu hal­ten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffent­li­che Betrof­fen­heit zu ver­sin­ken«, und frag­te sogleich nach: Aber wer bestimmt, was eine gute Sache ist? »Die Regie­rung, die Mehr­heit, der Chef­re­dak­teur?« Wer dar­über jedoch strei­tet, was gut oder rich­tig sei, ist hier­zu­lan­de schnell umstrit­ten. »Geschlos­sen­heit gilt in Deutsch­lands Kon­sens­ge­sell­schaft als Bür­ger­pflicht, als Tugend, gar als Staatsräson.«

Die Dis­kus­si­on war aller­dings kein Wun­den­lecken, kein Trau­ern über ver­lo­re­ne Schar­müt­zel in den Fern­seh­ku­lis­sen. Das Gespräch, an dem sich die zah­len­den Gäste betei­lig­ten, krei­ste um den Ver­lust von Glaub­wür­dig­keit der Öffent­lich-Recht­li­chen, den Vor­wurf ihrer Gleich­schal­tung und Uni­for­mi­tät, der Ver­fla­chung des Ange­bots. Lutz Her­den – einst Kor­re­spon­dent des DFF und nach der Wen­de Lei­ter der Haupt­ab­tei­lung Nach­rich­ten und Jour­na­le in Adlers­hof – beob­ach­tet heu­te als Redak­teur bei der Wochen­zei­tung Frei­tag die glei­chen Ten­den­zen in der Gesell­schaft und im Fern­se­hen (das ja Teil der Wirk­lich­keit ist), wie wir sie zum Ende der DDR erlebt hat­ten. Was sein Kol­le­ge Micha­el Schmidt bestä­tig­te. Wie Her­den absol­vier­te die­ser die Leip­zi­ger Karl-Marx-Uni­ver­si­tät und war bis vor weni­gen Mona­ten noch beim NDR tätig, inzwi­schen gehört der Diplom­jour­na­list Schmidt dem Rund­funk­rat des Sen­ders an.

Auch wenn vor­ran­gig über Ein­schalt­quo­ten und Reich­wei­ten gere­det wird, über Fern­seh­ge­büh­ren und deren Zweck­ent­frem­dung (Stich­wor­te RBB und Patri­cia Schle­sin­ger), geht es natür­lich vor­nehm­lich um Besitz­stands­wah­rung und damit um die Abwehr von grund­le­gen­den-, also System-Ver­än­de­run­gen. Danie­la Dahn nann­te das prä­gnant »Macht­er­halt«. Zur Abwehr gehört – neben Kli­schees und Igno­ranz – auch das fort­ge­setz­te Pene­trie­ren bestimm­ter Nar­ra­ti­ve, der Behaup­tung von ver­kru­ste­ten Struk­tu­ren. Zweck­dien­lich wird etwa der Osten als Erbe zwei­er Dik­ta­tu­ren gezeich­net und zum Hort demo­kra­tie­un­wil­li­ger und -unfä­hi­ger Zeit­ge­nos­sen erklärt, gegen die Brand­mau­ern errich­tet wer­den müss­ten. Selbst 35 Jah­re nach dem Ende des »Unrechts­re­gimes« spie­len in Gegen­warts­fil­men oft Sta­si und Sta­chel­draht unver­än­dert tra­gen­de Rol­le. Schmidt erin­ner­te exem­pla­risch an den ARD-Mehr­tei­ler »Die Toten von Mar­now« (2021), in der es um schein­bar authen­ti­sche Vor­gän­ge in der fin­ste­ren Ver­gan­gen­heit ging, die nun ihre dunk­len Schat­ten auf die Gegen­wart wer­fen. Die kru­de Dar­stel­lung von Medi­ka­men­ten­tests im Auf­trag west­deut­scher Phar­ma­kon­zer­ne (wegen der Kapi­ta­lis­mus­kri­tik), vor­nehm­lich aber von kri­mi­nel­len Men­schen­ver­su­chen in der DDR in die­sem Vier­tei­ler empör­te selbst die Lan­des­be­auf­trag­te für die Auf­ar­bei­tung der SED-Dik­ta­tur in Meck­len­burg-Vor­pom­mern, wo der Film spiel­te. Anders als im Film behaup­tet, habe die Staats­si­cher­heit »im Zusam­men­hang mit den Medi­ka­men­ten­test kei­ner­lei Ein­fluss auf Aus­wahl oder Durch­füh­rung der kli­ni­schen Test­pha­sen« gehabt, erklär­te sie, die sich doch mit der MfS-Mate­rie aus­kennt. NDR-Jour­na­li­sten recher­chier­ten und wie­sen nach, wo hier Geschich­te absichts­voll geklit­tert wur­de. Die Rich­tig­stel­lung erschien als Online-Text, der Film ist noch immer in der Media­thek abzu­ru­fen. »Zu ver­mu­ten ist, dass schockie­ren­de Bil­der und Dia­lo­ge aus dem Fern­seh­kri­mi einem west­deut­schen Publi­kum stär­ker im Gedächt­nis haf­ten blei­ben als der sach­li­che Online­text. Wenn der denn über­haupt gele­sen wur­de«, mut­maß­te Schmidt.

Soll­te man des­halb das öffent­lich-recht­li­che Fern­se­hen abschaf­fen? Nein, im Gegen­teil, man müs­se um die­ses Kul­tur­gut kämp­fen. Dar­in waren sich die vier Ex-Fern­seh­jour­na­li­sten einig. Wir müss­ten ihm mehr als nur eine Trä­ne nach­wei­nen, wenn es stür­be. Und für sei­ne Erhal­tung zu strei­ten hei­ße gegen Anma­ßung und Maß­lo­sig­keit, gegen Gleich­schal­tung und Uni­for­mi­tät, gegen Bevor­mun­dung und Ent­mün­di­gung ent­schie­den zu fech­ten. Mit wel­cher Begrün­dung zum Bei­spiel wer­den dem Inten­dan­ten einer Lan­des­an­stalt und sei­nen Direk­to­ren höhe­re Bezü­ge als einem Bun­des­kanz­ler und sei­ne Entou­ra­ge zuge­stan­den? Arbei­ter er län­ger und här­ter als die­ser? War­um bekom­men wir in den poli­ti­schen Talk­shows immer die glei­chen selbst­ge­rech­ten Alles­wis­ser zu sehen, die »Laut­spre­cher« (Her­les), wel­che stets die gewünsch­ten Gebets­müh­len dre­hen. Hält man uns, das Fern­seh­pu­bli­kum, wirk­lich für so blöd, dass wir das Stroh fres­sen wol­len, das sie dre­schen? In der Anti­ke miste­te man den Augi­as­stall aus. Das ging wahr­schein­lich schnel­ler als hier­zu­lan­de etwas zu refor­mie­ren. Luc Jochim­sen am Ende resi­gna­tiv wie ermu­ti­gend: »Ich glau­be auch, dass uns in die­sen schreck­li­chen Zei­ten nur ein Zusam­men­hal­ten und -den­ken noch etwas geben kann.«

Lutz Her­den, Wolf­gang Her­les, Luc Jochim­sen, Micha­el Schmidt: Der auf­halt­sa­me Abstieg des öffent­lich-recht­li­chen Fern­se­hens. Berich­te von Betei­lig­ten. Mit einem Vor­wort von Danie­la Dahn, edi­ti­on ost, 288 S., 20 €.