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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Deutschlands Verantwortung

Der argen­ti­nisch-israe­li­sche Diri­gent Dani­el Baren­bo­im setzt sich seit vie­len Jah­ren für Frie­den und Ver­söh­nung zwi­schen Israe­lis und Palä­sti­nen­sern ein. Die Sicher­heit Isra­els hat für ihn einen hohen Stel­len­wert – aber offen­sicht­lich einen ande­ren als für die deut­sche Poli­tik: »Die Israe­lis wer­den dann Sicher­heit haben, wenn die Palä­sti­nen­ser Hoff­nung spü­ren kön­nen, also Gerech­tig­keit.« Eigent­lich eine selbst­ver­ständ­li­che Fest­stel­lung; ange­sichts des Agie­rens deut­scher Spit­zen­po­li­ti­ker schwingt aller­dings eine her­be Kri­tik mit.

Schon Bun­des­prä­si­dent Gauck ver­sprach Isra­el die unver­brüch­li­che Freund­schaft Deutsch­lands. Außen­mi­ni­ste­rin Baer­bock reist in das Land mit der Bot­schaft: »Wir sind alle Israe­lis«. Und Bun­des­kanz­ler Scholz ver­si­chert, die Sicher­heit Isra­els sei deut­sche Staats­rä­son. Gewiss machen es die Mas­sa­ker der Hamas an Men­schen in Isra­el, ihre Rake­ten­an­grif­fe auf Städ­te und Dör­fer schwer, die rich­ti­gen Wor­te zu fin­den; aber die Flos­kel­haf­tig­keit der gro­ßen Wor­te las­sen nicht nur ech­tes Mit­ge­fühl ver­mis­sen. Sie kaschiert auch die Tat­sa­che, dass die deut­sche Poli­tik ihrer Ver­ant­wor­tung nicht gerecht wird – zumin­dest nicht gegen­über allen Men­schen der Region.

Durch men­schen­ver­ach­ten­den Anti­se­mi­tis­mus, der sich im Faschis­mus zur staat­lich orga­ni­sier­ten indu­stri­el­len Ver­nich­tung von Mil­lio­nen Juden stei­ger­te, hat Deutsch­land unaus­lösch­ba­re Schuld auf sich gela­den. Aber büßen müs­sen vor allem ande­re: die Men­schen in Palä­sti­na. Der Staat Isra­el wur­de mit dem Mythos »ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land« gegrün­det: Leb­ten da kei­ne Men­schen? Doch, natür­lich. Aber in dem Krieg, der zur Staats­grün­dung füh­ren soll­te, wur­den sie ver­trie­ben, ihre Dör­fer zer­stört, um ihnen die Rück­kehr für immer unmög­lich zu machen.

Seit­dem hat die deut­sche Poli­tik ver­bal an der Zwei­staa­ten­lö­sung fest­ge­hal­ten, die sich aber zuneh­mend als Illu­si­on ent­pupp­te. Ein Blick auf die aktu­el­le Land­kar­te genügt, um zu erken­nen, dass israe­li­sche Regie­run­gen durch die Beset­zung des West­jor­dan­lan­des und den for­cier­ten Aus­bau jüdi­scher Sied­lun­gen ande­re Zie­le ver­folgt haben und auch jetzt noch ver­fol­gen. Sie schaf­fen voll­ende­te Tat­sa­chen für einen gro­ßen jüdi­schen Staat, der die besetz­ten Gebie­te ein­schließt. Die der­zei­ti­ge Koali­ti­ons­re­gie­rung unter Prä­si­dent Netan­ja­hu basiert auf dem Beschluss, Tei­le des besetz­ten West­jor­dan­lan­des ein­schließ­lich der Sied­lun­gen zu annek­tie­ren, unter Ver­let­zung von UN-Char­ta und Völkerrecht.

Die israe­li­sche Jour­na­li­stin Ami­ra Hass zieht in der Zei­tung Haa­retz ein bit­te­res Fazit: »Ihr Deut­schen habt eure Ver­ant­wor­tung, die ›aus dem Holo­caust‹ – also aus der Ermor­dung u. a. der Fami­li­en mei­ner Eltern und dem Leid der Über­le­ben­den – erwächst, längst ver­ra­ten. Ihr habt sie ver­ra­ten durch eure vor­be­halt­lo­se Unter­stüt­zung eines Isra­els, das besetzt, kolo­ni­siert, den Men­schen das Was­ser weg­nimmt, Land stiehlt, zwei Mil­lio­nen Men­schen im Gaza­strei­fen in einem über­füll­ten Käfig gefan­gen hält, Häu­ser abreißt, gan­ze Gemein­den aus ihren Häu­sern ver­treibt und die Gewalt der Sied­ler fördert.«

Die Lage der Palä­sti­nen­ser ist zum Ver­zwei­feln: Sie haben kei­ne Hoff­nung, sie wer­den nicht als gleich­wer­ti­ge Men­schen behan­delt. Der Geno­zid­for­scher Omer Bar­tov ver­ur­teilt die ent­setz­li­chen Mor­de der isla­mi­schen Hamas; er betont aber die Not­wen­dig­keit, die Ursa­chen von Gewalt, Hass und Rache­durst nicht aus­zu­blen­den. Dazu zäh­le nicht zuletzt die seit 16 Jah­ren andau­ern­de Bela­ge­rung des Gaza­strei­fens, »durch die zwei Mil­lio­nen Palä­sti­nen­ser in hoff­nungs­lo­ser und demü­ti­gen­der Armut mit feh­len­der Grund­ver­sor­gung gefan­gen gehal­ten wer­den«. In den besetz­ten Gebie­ten habe sich immer mehr ein Apart­heid­re­gime ent­wickelt. Das wäre zu ver­hin­dern gewesen.

Deutsch­land hat dazu kei­nen Bei­trag gelei­stet. Hin­ter den hoh­len Flos­keln von Staats­rä­son, die mehr an Feu­dal­staat und Obrig­keit den­ken las­sen als an Demo­kra­tie, ver­birgt sich das Inter­es­se der »west­li­chen Wer­te­ge­mein­schaft« an einem mäch­ti­gen Ver­bün­de­ten in Nah­ost. Sie ver­schließt dabei die Augen vor der Rea­li­tät israe­li­scher Besat­zungs­po­li­tik und des Sied­ler­ko­lo­nia­lis­mus. Isra­el wur­de in den letz­ten 17 Jah­ren in 103 Fäl­len durch den UN-Men­schen­rechts­rat ver­ur­teilt. Als aber die UN-Gene­ral­ver­samm­lung im Dezem­ber 2022 in einer Reso­lu­ti­on den Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hof auf­ge­for­dert hat, Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen in den besetz­ten Gebie­ten zu unter­su­chen, stimm­te Deutsch­land zusam­men mit Isra­el, den USA und Groß­bri­tan­ni­en dagegen.

Die deut­sche Poli­tik igno­riert ent­schlos­sen Berich­te und Ana­ly­sen zu Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen, zur Miss­ach­tung von Völ­ker­recht und zu even­tu­el­len Kriegs­ver­bre­chen Isra­els. Bun­des­re­gie­run­gen haben auch nichts getan, um die Reso­lu­ti­on 2334 des UN-Sicher­heits­ra­tes von 2016 durch­zu­set­zen. Dar­in wur­de ein­stim­mig (bei Ent­hal­tung der USA) die sofor­ti­ge und voll­stän­di­ge Been­di­gung aller Sied­lungs­ak­ti­vi­tä­ten und der Besat­zung palä­sti­nen­si­scher Gebie­te ver­langt; dies sei der ein­zi­ge Weg, Frie­den zu errei­chen. Isra­el hat ein Recht auf Sicher­heit – Palä­sti­na auch. Freund­schaft mit einem Land ist eine gute Sache; kri­tik­lo­se Unter­stüt­zung für men­schen- und völ­ker­rechts­wid­ri­ge Poli­tik ver­trägt sich nicht damit.

Kei­ner­lei Kon­se­quen­zen haben Regie­rung und Par­la­ment in Ber­lin aus zahl­rei­chen alar­mie­ren­den Berich­ten der United Nati­ons Office for the Coor­di­na­ti­on of Huma­ni­ta­ri­an Affairs (OCHA) über die besetz­ten Ter­ri­to­ri­en gezo­gen. Auch nicht aus dem Bericht von Amne­sty Inter­na­tio­nal vom März 2023, der so beginnt: »Isra­el erhielt 2022 ein System der Unter­drückung und Dis­kri­mi­nie­rung der Palästinenser*innen in Isra­el und in den besetz­ten palä­sti­nen­si­schen Gebie­ten auf­recht, wel­ches den Tat­be­stand der Apart­heid erfüllt und ein völ­ker­recht­li­ches Ver­bre­chen dar­stellt. Im August star­te­te die israe­li­sche Armee einen drei­tä­gi­gen Angriff auf den besetz­ten Gaza­strei­fen, bei dem sie offen­bar Kriegs­ver­bre­chen beging. Die Offen­si­ve ver­schärf­te die Aus­wir­kun­gen der seit 15 Jah­ren andau­ern­den israe­li­schen Blocka­de­po­li­tik, die einer rechts­wid­ri­gen Kol­lek­tiv­stra­fe gleichkommt.«

Human Rights Watch hat­te 2021 einen 213-Sei­ten-Bericht vor­ge­legt, Titel: »Rech­te­ver­let­zen­de israe­li­sche Poli­tik stellt Ver­bre­chen der Apart­heid und Ver­fol­gung dar. Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit soll­ten Ver­fah­ren aus­lö­sen, um Unter­drückung von Palä­sti­nen­sern zu been­den.« Dar­in heißt es, die israe­li­schen Behör­den begin­gen Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit. Die Unter­drückung der Palä­sti­nen­ser habe eine Gren­ze über­schrit­ten und eine Dau­er­haf­tig­keit erreicht, die den Defi­ni­tio­nen der Ver­bre­chen der Apart­heid und der Ver­fol­gung entsprechen.

Die deut­sche »wer­te­ba­sier­te« Men­schen­rechts­po­li­tik ist offen­sicht­lich selek­tiv und oppor­tu­ni­stisch. Fra­gen wir noch ein­mal mit Ami­ra Hass nach der deut­schen Ver­ant­wor­tung für die ent­stan­de­ne Lage. Wie kann die Bun­des­re­gie­rung unver­brüch­li­che Freund­schaft einer rechts­extre­men Regie­rung gegen­über schwö­ren, deren Finanz­mi­ni­ster sich als »homo­pho­ber Faschist« bezeich­net (Haa­retz, 16.1.23) und eine palä­sti­nen­si­sche Klein­stadt »aus­ra­die­ren« will? Deren Mini­ster für Natio­na­le Sicher­heit wegen ras­si­sti­scher Het­ze und Unter­stüt­zung einer ter­ro­ri­sti­schen Ver­ei­ni­gung ver­ur­teilt wurde?

Ken­nen unse­re ver­ant­wort­li­chen Poli­ti­ker nicht die Lebens­be­din­gun­gen der Palä­sti­nen­ser in Gaza? Sie soll­ten mal den Doku­men­tar­film »Kil­ling Gaza: life under Israel’s bombs and sie­ge« (auf You­Tube) der Jour­na­li­sten Dan Cohen und Max Blu­men­thal anschau­en. In andert­halb Stun­den vol­ler Schreckens­bil­der nach der Bom­bar­die­rung 2014 bekommt man dra­ma­tisch gezeigt, wie elend und ver­zwei­felt dort die Men­schen leben – und wie Hass ent­steht. Wel­che ent­setz­li­chen Erfah­run­gen das Leben von hun­dert­tau­sen­den Kin­dern prägt. Es ist schwer erträg­lich, was die Bil­der zei­gen. Aber viel­leicht muss man sich das antun, um eine Ahnung davon zu krie­gen, was den Ter­ror der Hamas ermög­licht hat.

Anti­se­mi­tis­mus in Deutsch­land bleibt viru­lent. Er muss bekämpft wer­den – aber nicht dadurch, dass man Kri­tik an der israe­li­schen Poli­tik reflex­haft als anti­se­mi­tisch abkan­zelt, Demon­stra­tio­nen ver­bie­tet und auf­löst. Wäh­rend Isra­el­fah­nen die Rat­häu­ser schmücken, wird das Tra­gen von »Pali­tü­chern« ver­bo­ten und die Erin­ne­rung an die Nak­ba, die Ver­trei­bung der Palä­sti­nen­ser, mit Stra­fen belegt. Meint man, damit den Men­schen­rech­ten und der Sicher­heit aller in Isra­el und Palä­sti­na leben­den Men­schen zu die­nen? Hass und Gewalt haben Ursa­chen. Was tut die deut­sche Poli­tik dafür, die­se zu bekämpfen?

Ami­ra Hass sagt, ihr offe­ner Brief an Bun­des­kanz­ler Scholz sei »kei­ne Recht­fer­ti­gung für die Mord­or­gie und den Sadis­mus, den die bewaff­ne­ten Män­ner der Hamas ver­übt haben. (…) Viel­mehr ist es ein Auf­ruf an Sie, die gegen­wär­ti­ge Kam­pa­gne des Todes und der Zer­stö­rung zu stop­pen, bevor sie eine wei­te­re Kata­stro­phe über Mil­lio­nen von Israe­lis, Palä­sti­nen­sern, Liba­ne­sen und viel­leicht sogar Bewoh­nern ande­rer Län­der in der Regi­on bringt.« War­um unter­stützt die deut­sche Poli­tik nicht die zahl­rei­chen Initia­ti­ven, die sich für Frie­den, glei­che Rech­te für alle Men­schen in Isra­el und Palä­sti­na und für Ver­söh­nung einsetzen?