Der argentinisch-israelische Dirigent Daniel Barenboim setzt sich seit vielen Jahren für Frieden und Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern ein. Die Sicherheit Israels hat für ihn einen hohen Stellenwert – aber offensichtlich einen anderen als für die deutsche Politik: »Die Israelis werden dann Sicherheit haben, wenn die Palästinenser Hoffnung spüren können, also Gerechtigkeit.« Eigentlich eine selbstverständliche Feststellung; angesichts des Agierens deutscher Spitzenpolitiker schwingt allerdings eine herbe Kritik mit.
Schon Bundespräsident Gauck versprach Israel die unverbrüchliche Freundschaft Deutschlands. Außenministerin Baerbock reist in das Land mit der Botschaft: »Wir sind alle Israelis«. Und Bundeskanzler Scholz versichert, die Sicherheit Israels sei deutsche Staatsräson. Gewiss machen es die Massaker der Hamas an Menschen in Israel, ihre Raketenangriffe auf Städte und Dörfer schwer, die richtigen Worte zu finden; aber die Floskelhaftigkeit der großen Worte lassen nicht nur echtes Mitgefühl vermissen. Sie kaschiert auch die Tatsache, dass die deutsche Politik ihrer Verantwortung nicht gerecht wird – zumindest nicht gegenüber allen Menschen der Region.
Durch menschenverachtenden Antisemitismus, der sich im Faschismus zur staatlich organisierten industriellen Vernichtung von Millionen Juden steigerte, hat Deutschland unauslöschbare Schuld auf sich geladen. Aber büßen müssen vor allem andere: die Menschen in Palästina. Der Staat Israel wurde mit dem Mythos »ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land« gegründet: Lebten da keine Menschen? Doch, natürlich. Aber in dem Krieg, der zur Staatsgründung führen sollte, wurden sie vertrieben, ihre Dörfer zerstört, um ihnen die Rückkehr für immer unmöglich zu machen.
Seitdem hat die deutsche Politik verbal an der Zweistaatenlösung festgehalten, die sich aber zunehmend als Illusion entpuppte. Ein Blick auf die aktuelle Landkarte genügt, um zu erkennen, dass israelische Regierungen durch die Besetzung des Westjordanlandes und den forcierten Ausbau jüdischer Siedlungen andere Ziele verfolgt haben und auch jetzt noch verfolgen. Sie schaffen vollendete Tatsachen für einen großen jüdischen Staat, der die besetzten Gebiete einschließt. Die derzeitige Koalitionsregierung unter Präsident Netanjahu basiert auf dem Beschluss, Teile des besetzten Westjordanlandes einschließlich der Siedlungen zu annektieren, unter Verletzung von UN-Charta und Völkerrecht.
Die israelische Journalistin Amira Hass zieht in der Zeitung Haaretz ein bitteres Fazit: »Ihr Deutschen habt eure Verantwortung, die ›aus dem Holocaust‹ – also aus der Ermordung u. a. der Familien meiner Eltern und dem Leid der Überlebenden – erwächst, längst verraten. Ihr habt sie verraten durch eure vorbehaltlose Unterstützung eines Israels, das besetzt, kolonisiert, den Menschen das Wasser wegnimmt, Land stiehlt, zwei Millionen Menschen im Gazastreifen in einem überfüllten Käfig gefangen hält, Häuser abreißt, ganze Gemeinden aus ihren Häusern vertreibt und die Gewalt der Siedler fördert.«
Die Lage der Palästinenser ist zum Verzweifeln: Sie haben keine Hoffnung, sie werden nicht als gleichwertige Menschen behandelt. Der Genozidforscher Omer Bartov verurteilt die entsetzlichen Morde der islamischen Hamas; er betont aber die Notwendigkeit, die Ursachen von Gewalt, Hass und Rachedurst nicht auszublenden. Dazu zähle nicht zuletzt die seit 16 Jahren andauernde Belagerung des Gazastreifens, »durch die zwei Millionen Palästinenser in hoffnungsloser und demütigender Armut mit fehlender Grundversorgung gefangen gehalten werden«. In den besetzten Gebieten habe sich immer mehr ein Apartheidregime entwickelt. Das wäre zu verhindern gewesen.
Deutschland hat dazu keinen Beitrag geleistet. Hinter den hohlen Floskeln von Staatsräson, die mehr an Feudalstaat und Obrigkeit denken lassen als an Demokratie, verbirgt sich das Interesse der »westlichen Wertegemeinschaft« an einem mächtigen Verbündeten in Nahost. Sie verschließt dabei die Augen vor der Realität israelischer Besatzungspolitik und des Siedlerkolonialismus. Israel wurde in den letzten 17 Jahren in 103 Fällen durch den UN-Menschenrechtsrat verurteilt. Als aber die UN-Generalversammlung im Dezember 2022 in einer Resolution den Internationalen Strafgerichtshof aufgefordert hat, Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten zu untersuchen, stimmte Deutschland zusammen mit Israel, den USA und Großbritannien dagegen.
Die deutsche Politik ignoriert entschlossen Berichte und Analysen zu Menschenrechtsverletzungen, zur Missachtung von Völkerrecht und zu eventuellen Kriegsverbrechen Israels. Bundesregierungen haben auch nichts getan, um die Resolution 2334 des UN-Sicherheitsrates von 2016 durchzusetzen. Darin wurde einstimmig (bei Enthaltung der USA) die sofortige und vollständige Beendigung aller Siedlungsaktivitäten und der Besatzung palästinensischer Gebiete verlangt; dies sei der einzige Weg, Frieden zu erreichen. Israel hat ein Recht auf Sicherheit – Palästina auch. Freundschaft mit einem Land ist eine gute Sache; kritiklose Unterstützung für menschen- und völkerrechtswidrige Politik verträgt sich nicht damit.
Keinerlei Konsequenzen haben Regierung und Parlament in Berlin aus zahlreichen alarmierenden Berichten der United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) über die besetzten Territorien gezogen. Auch nicht aus dem Bericht von Amnesty International vom März 2023, der so beginnt: »Israel erhielt 2022 ein System der Unterdrückung und Diskriminierung der Palästinenser*innen in Israel und in den besetzten palästinensischen Gebieten aufrecht, welches den Tatbestand der Apartheid erfüllt und ein völkerrechtliches Verbrechen darstellt. Im August startete die israelische Armee einen dreitägigen Angriff auf den besetzten Gazastreifen, bei dem sie offenbar Kriegsverbrechen beging. Die Offensive verschärfte die Auswirkungen der seit 15 Jahren andauernden israelischen Blockadepolitik, die einer rechtswidrigen Kollektivstrafe gleichkommt.«
Human Rights Watch hatte 2021 einen 213-Seiten-Bericht vorgelegt, Titel: »Rechteverletzende israelische Politik stellt Verbrechen der Apartheid und Verfolgung dar. Verbrechen gegen die Menschlichkeit sollten Verfahren auslösen, um Unterdrückung von Palästinensern zu beenden.« Darin heißt es, die israelischen Behörden begingen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Unterdrückung der Palästinenser habe eine Grenze überschritten und eine Dauerhaftigkeit erreicht, die den Definitionen der Verbrechen der Apartheid und der Verfolgung entsprechen.
Die deutsche »wertebasierte« Menschenrechtspolitik ist offensichtlich selektiv und opportunistisch. Fragen wir noch einmal mit Amira Hass nach der deutschen Verantwortung für die entstandene Lage. Wie kann die Bundesregierung unverbrüchliche Freundschaft einer rechtsextremen Regierung gegenüber schwören, deren Finanzminister sich als »homophober Faschist« bezeichnet (Haaretz, 16.1.23) und eine palästinensische Kleinstadt »ausradieren« will? Deren Minister für Nationale Sicherheit wegen rassistischer Hetze und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt wurde?
Kennen unsere verantwortlichen Politiker nicht die Lebensbedingungen der Palästinenser in Gaza? Sie sollten mal den Dokumentarfilm »Killing Gaza: life under Israel’s bombs and siege« (auf YouTube) der Journalisten Dan Cohen und Max Blumenthal anschauen. In anderthalb Stunden voller Schreckensbilder nach der Bombardierung 2014 bekommt man dramatisch gezeigt, wie elend und verzweifelt dort die Menschen leben – und wie Hass entsteht. Welche entsetzlichen Erfahrungen das Leben von hunderttausenden Kindern prägt. Es ist schwer erträglich, was die Bilder zeigen. Aber vielleicht muss man sich das antun, um eine Ahnung davon zu kriegen, was den Terror der Hamas ermöglicht hat.
Antisemitismus in Deutschland bleibt virulent. Er muss bekämpft werden – aber nicht dadurch, dass man Kritik an der israelischen Politik reflexhaft als antisemitisch abkanzelt, Demonstrationen verbietet und auflöst. Während Israelfahnen die Rathäuser schmücken, wird das Tragen von »Palitüchern« verboten und die Erinnerung an die Nakba, die Vertreibung der Palästinenser, mit Strafen belegt. Meint man, damit den Menschenrechten und der Sicherheit aller in Israel und Palästina lebenden Menschen zu dienen? Hass und Gewalt haben Ursachen. Was tut die deutsche Politik dafür, diese zu bekämpfen?
Amira Hass sagt, ihr offener Brief an Bundeskanzler Scholz sei »keine Rechtfertigung für die Mordorgie und den Sadismus, den die bewaffneten Männer der Hamas verübt haben. (…) Vielmehr ist es ein Aufruf an Sie, die gegenwärtige Kampagne des Todes und der Zerstörung zu stoppen, bevor sie eine weitere Katastrophe über Millionen von Israelis, Palästinensern, Libanesen und vielleicht sogar Bewohnern anderer Länder in der Region bringt.« Warum unterstützt die deutsche Politik nicht die zahlreichen Initiativen, die sich für Frieden, gleiche Rechte für alle Menschen in Israel und Palästina und für Versöhnung einsetzen?