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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne

Von der »Stun­de Null« zur Spal­tung Europas

Inner­halb eines Vier­tel­jahr­hun­derts hat­te Deutsch­land zwei Welt­krie­ge vom Zaun gebro­chen. Das »Nie wie­der Faschis­mus, nie wie­der Krieg« war der Auf­schrei der Völ­ker Euro­pas, als die Nazi-Wehr­macht am 8. Mai 1945 end­lich bedin­gungs­los kapi­tu­lier­te. Mit der Kon­fe­renz von Pots­dam ging die staat­li­che Auto­ri­tät Deutsch­lands in die Hän­de der Haupt-Sie­ger­mäch­te über. Das »Nie wie­der« schlug sich auch in der Wei­ter­ent­wick­lung des Völ­ker­rechts und der Grün­dung der Ver­ein­ten Natio­nen nie­der, die die Welt hin­fort »von der Gei­ßel der Krie­ges befrei­en« (Prä­am­bel der UN-Char­ta) sollten.

Doch änder­ten sich nach dem Tode des US-Prä­si­den­ten Frank­lin D. Roo­se­velt, der kurz vor Kriegs­en­de starb, die Vor­stel­lun­gen der USA über die Zukunft Deutsch­lands, das reak­tio­nä­ren Kräf­ten zuneh­mend als mög­li­cher Part­ner in der neu­en Geg­ner­schaft zur Sowjet­uni­on erschien. Sie betrie­ben kon­se­quent die Grün­dung eines west­deut­schen Teil­staats. Noch vor des­sen Grün­dung schlos­sen daher die euro­päi­schen Kriegs­geg­ner Deutsch­lands (Groß­bri­tan­ni­en, Frank­reich, Bel­gi­en, Nie­der­lan­de und Luxem­burg) den Brüs­se­ler Pakt, der sich gegen jede poten­ti­el­le Aggres­si­on eines wie­der­erstan­de­nen deut­schen Staa­tes rich­te­te. Sein ent­schei­den­der Art. 5 lau­te­te: »Soll­te eine der Hohen Ver­trag­schlie­ßen­den Tei­le das Ziel eines bewaff­ne­ten Angriffs in Euro­pa wer­den, so wer­den ihm die ande­ren Hohen Ver­trag­schlie­ßen­den Tei­le im Ein­klang mit den Bestim­mun­gen des Arti­kels 51 der Sat­zung der Ver­ein­ten Natio­nen alle in ihrer Macht ste­hen­de mili­tä­ri­sche und son­sti­ge Hil­fe und Unter­stüt­zung lei­sten.« Die­ser Ver­trag über­leb­te bis heu­te: Er wur­de in die EWG und die EU über­nom­men und ist heu­te das Fun­da­ment des Mili­tär­bünd­nis­ses EU und Kern­stück des Arti­kels 42 des Ver­trags von Lis­sa­bon, der gewis­ser­ma­ßen die Ver­fas­sung der Euro­päi­schen Uni­on darstellt.

Doch der Weg dahin war noch weit. Ein erster Durch­bruch gelang der BRD, die mit der Schaf­fung des »Amtes Blank« schon im Okto­ber 1950, ein Jahr nach der Staats­grün­dung, klamm­heim­lich erste Schrit­te zur Remi­li­ta­ri­sie­rung ein­ge­lei­tet hat­te. 1952 wur­de die Euro­päi­sche Ver­tei­di­gungs­ge­mein­schaft (EVG) geschlos­sen. Das Pro­jekt schei­ter­te 1954 in der fran­zö­si­schen Natio­nal­ver­samm­lung an der Oppo­si­ti­on der Kom­mu­ni­sten und Gaul­li­sten. Für die Befür­wor­ter der Remi­li­ta­ri­sie­rung West­deutsch­lands erwies sich das als Glücks­fall: Sei­ne Remi­li­ta­ri­sie­rung war auf der west­li­chen Tages­ord­nung ange­kom­men, damit war das Tor zum Bei­tritt zur 1949 gegrün­de­ten NATO geöff­net. Mit den soge­nann­ten Sta­lin­no­ten hat­te die Sowjet­uni­on die­se Remi­li­ta­ri­sie­rung zu ver­hin­dern ver­sucht: Sie bot die deut­sche Wie­der­ver­ei­ni­gung an und stell­te sogar die Exi­stenz der DDR zur Dis­po­si­ti­on, indem sie freie Wah­len in ganz Deutsch­land vor­sah. Ihr Preis aller­dings war die Neu­tra­li­sie­rung die­ses Deutsch­lands, womit nicht nur eine mög­li­che Aggres­si­on Deutsch­lands ver­hin­dert wor­den wäre, son­dern ein neu­tra­ler Gür­tel von Skan­di­na­vi­en über Deutsch­land, die Schweiz, Öster­reich und Jugo­sla­wi­en zwi­schen die Blöcke gelegt wor­den wäre. Der Westen lehn­te ab, die Sowjet­uni­on beant­wor­te­te den west­deut­schen NATO-Bei­tritt (1955) mit der Grün­dung der War­schau­er Ver­trags-Orga­ni­sa­ti­on. Die Spal­tung Euro­pas war besiegelt.

Im Gegen­satz zu dem welt­wei­te Zustän­dig­keit bean­spru­chen­den Brüs­se­ler Pakt beschränkt sich die NATO for­mal auf das Ter­ri­to­ri­um ihrer Mit­glie­der, also auf den nord­ame­ri­ka­ni­schen Raum (USA und Kana­da), den Atlan­tik und die euro­päi­schen Mit­glie­der. Arti­kel 5 des Ver­trags ent­hält – im Gegen­satz zum Brüs­se­ler Pakt – einen nur schwa­chen Bei­stands­me­cha­nis­mus: So legt er fest, dass im Fal­le eines Angriffs von außen jeder Ver­trags­staat »für sich und im Zusam­men­wir­ken mit den ande­ren Ver­trags­staa­ten die­je­ni­gen Maß­nah­men unter Ein­schluss der Ver­wen­dung bewaff­ne­ter Kräf­te ergreift, die er für not­wen­dig erach­tet […]«. Die Angst vor Deutsch­land war auch in der NATO noch prä­sent, wie das der erste NATO-Gene­ral­se­kre­tär, der Bri­te Lord Ismay, auf den Punkt brach­te, als er die Auf­ga­ben der NATO fol­gen­der­ma­ßen defi­nier­te: »to keep the Rus­si­ans out, the Ame­ri­cans in, and the Ger­mans down«.

 

Das ver­ei­nig­te Deutsch­land als euro­päi­sche Macht

Schon vor dem Ende der Bipo­la­ri­tät hat­te der in West­eu­ro­päi­sche Uni­on (WEU) umbe­nann­te Brüs­se­ler Pakt ver­sucht, gegen­über der NATO und ihrer Füh­rungs­macht mehr Ein­fluss und ein eige­nes Pro­fil zu gewin­nen, ja, die Nach­fol­ge­or­ga­ni­sa­ti­on jenes gegen ein remi­li­ta­ri­sier­tes Deutsch­land gerich­te­ten Pak­tes soll­te in fast gro­tes­ker Wei­se zum Streit­ross des mili­tä­ri­schen Wie­der-Auf­stiegs West­deutsch­lands und spä­ter des ver­ei­nig­ten Deutsch­lands wer­den: 1984, auf dem Höhe­punkt der Debat­te über die Sta­tio­nie­rung der US-ame­ri­ka­ni­schen Mit­tel­strecken­ra­ke­ten (»NATO-Dop­pel­be­schluss«), erklär­te der dama­li­ge Vor­sit­zen­de des Mini­ster­rats der WEU, der west­deut­sche Außen­mi­ni­ster Hans-Diet­rich Gen­scher, anläss­lich der Fei­er des 30-jäh­ri­gen Bestehens die­ser Mili­tär­or­ga­ni­sa­ti­on an die Adres­se der USA: »Die WEU wird sich künf­tig mit allen wich­ti­gen sicher­heits- und ver­tei­di­gungs­po­li­ti­schen Fra­gen befas­sen, in denen sich eine gemein­sa­me euro­päi­sche Hal­tung emp­fiehlt. […] Wir sind bereit, die damit [gegen­über dem Atlan­ti­schen Bünd­nis; W. R.] ver­bun­de­ne Ver­ant­wor­tung zu tra­gen. Wir wol­len aber auch gehört werden.«

Doch dann geschah das Unfass­ba­re, nir­gend­wo Erwar­te­te: Die Kon­fe­renz für Sicher­heit und Zusam­men­ar­beit in Euro­pa (KSZE) ende­te nach 15 Jah­ren zäher Ver­hand­lun­gen 1990 in der »Char­ta von Paris für ein Neu­es Euro­pa«, ihrem Schluss­do­ku­ment, das jenes »gemein­sa­me Haus Euro­pa« vor­sah, in dem alle im kon­ti­nen­tal­eu­ro­päi­schen Rah­men auf der Basis gegen­sei­ti­ger kol­lek­ti­ver Sicher­heit fried­lich zusam­men­le­ben sollten.

Zeit­gleich und unter mehr­fa­chem Ver­weis auf die Char­ta von Paris wur­de unter Betei­li­gung der vier Sie­ger­mäch­te des Zwei­ten Welt­kriegs der 2+4-Vertrag geschlos­sen, der den Bei­tritt der DDR zur BRD regel­te und das längst gebro­che­ne Sta­tut des Pots­da­mer Ver­trags been­de­te. Die bei­den Deutsch­lands, die for­mal gleich­be­rech­tigt mit den Sie­ger­mäch­ten die­sen Ver­trag schlos­sen, erklär­ten in Arti­kel 2 des Ver­trags, »… dass von deut­schem Boden nur Frie­den aus­ge­hen wird«. Ent­spre­chend der Ver­fas­sung der BRD, der die DDR bei­trat, sind »Hand­lun­gen, die geeig­net sind und in der Absicht vor­ge­nom­men wer­den, das fried­li­che Zusam­men­le­ben der Völ­ker zu stö­ren, ins­be­son­de­re die Füh­rung eines Angriffs­krie­ges vor­zu­be­rei­ten, ver­fas­sungs­wid­rig und straf­bar«. Und die bei­den Staa­ten erklär­ten in Arti­kel 3 »ihren Ver­zicht auf Her­stel­lung und Besitz von und auf Ver­fü­gungs­ge­walt über ato­ma­re, bio­lo­gi­sche und che­mi­sche Waffen«.

Mit der Char­ta von Paris, dem 2+4-Vertrag und den vie­len in die­sem Zusam­men­hang geschlos­se­nen Abrü­stungs- und Rüstungs­kon­troll­ver­trä­gen, kul­mi­nie­rend in der Selbst­auf­lö­sung der War­schau­er Ver­trags-Orga­ni­sa­ti­on, war im Grun­de auch die NATO über­flüs­sig gewor­den eben­so wie der Brüs­se­ler Ver­trag. Doch die­ser für die Schaf­fung des Frie­dens­raums Euro­pa ent­schei­den­de Schritt erfolg­te nicht: Im Febru­ar 1992 beschloss die EU im Ver­trag von Maas­tricht die Schaf­fung einer »Gemein­sa­men Außen- und Sicher­heits­po­li­tik« (GASP) und leg­te fest, die WEU mit »Ent­schei­dun­gen und Aktio­nen […], die ver­tei­di­gungs­po­li­ti­sche Bezü­ge« haben, zu beauf­tra­gen. Gleich anschlie­ßend leg­te sie auf dem Bon­ner Peters­berg deren Auf­ga­ben fest: huma­ni­tä­re Aktio­nen oder Ret­tungs­ein­sät­ze; Auf­ga­ben der Kon­flikt­ver­hü­tung und der Erhal­tung des Frie­dens; Kampf­ein­sät­ze im Rah­men der Kri­sen­be­wäl­ti­gung, ein­schließ­lich Frie­den schaf­fen­der Maß­nah­men. Der letz­te Punkt erscheint gera­de­zu als inter­ven­tio­ni­sti­scher Per­sil­schein welt­weit. Die Rol­le der Bun­des­wehr defi­nier­te Vol­ker Rühe in den »Ver­tei­di­gungs­po­li­ti­schen Richt­li­ni­en« vom Novem­ber 1992: »Auf­recht­erhal­tung des frei­en Welt­han­dels und des unge­hin­der­ten Zugangs zu Märk­ten und Roh­stof­fen in aller Welt«.

 

Die neue deut­sche Dominanz

Mit den Arti­keln 42 und 43 des 2009 geschlos­se­nen Ver­trags von Lis­sa­bon und sei­nem kon­se­quen­ten Auf­tre­ten als geo­stra­te­gisch zen­tra­le »Schar­nier­macht« der NATO ver­schaff­te sich Deutsch­land in bei­den Bünd­nis­sen immer mehr Gewicht. Zugleich stei­ger­te es sei­ne anfäng­lich unter dem Stich­wort »huma­ni­tä­re Inter­ven­ti­on« kaschier­ten Mili­tär­ein­sät­ze in aller Welt (der­zeit 14, 21 wei­te­re wur­den bereits abge­schlos­sen). Das Schlüs­sel­wort für die­se neue Macht­ent­fal­tung, von Bun­des­prä­si­dent Joa­chim Gauck 2014 auf der Münch­ner Sicher­heits­kon­fe­renz pro­pa­giert, lau­tet »neue Ver­ant­wor­tung«. Als Begrün­dung dafür wird der rela­ti­ve Abstieg der USA und ein dadurch ent­ste­hen­des Vaku­um angeführt.

Wie ein Geschenk Got­tes erschien wohl den herr­schen­den Krei­sen die­ser Repu­blik die von der Trump-Admi­ni­stra­ti­on gefor­der­te Erhö­hung der euro­päi­schen Rüstungs­aus­ga­ben pro Staat auf zwei Pro­zent des Brut­to­so­zi­al­pro­dukts: Mit gewal­ti­gen Erhö­hun­gen des Mili­täre­tats soll das Ziel in weni­gen Jah­ren erreicht wer­den. Deutsch­land wird so zur zweit­wich­tig­sten Mili­tär­macht der NATO und zu ihrem stärk­sten Part­ner in Euro­pa. Zugleich wird Deutsch­land füh­ren­de Mili­tär­macht in Euro­pa, des­sen stärk­ste Wirt­schafts­macht es bereits ist. Mit dem Aus­tritt Groß­bri­tan­ni­ens aus der EU sind hier auch die letz­ten Brem­sen gegen das Wie­der­erstar­ken einer Mili­tär­macht Deutsch­land geschwun­den. Mit dem 2019 geschlos­se­nen deutsch-fran­zö­si­schen Ver­trag von Aachen wer­den Rüstung und Rüstungs­export fest­ge­schrie­ben und der Wil­le zu welt­wei­ter mili­tä­ri­scher Domi­nanz geför­dert. Trotz aller bestehen­den Ver­trä­ge wird in den Leit­me­di­en und ein­schlä­gi­gen »wis­sen­schaft­li­chen« Stu­di­en über die Not­wen­dig­keit deut­scher Ver­fü­gungs­ge­walt über Atom­waf­fen spe­ku­liert, die sich aus der bereits bestehen­den »ato­ma­ren Teil­ha­be« (deut­sche Flug­zeu­ge kön­nen US-ame­ri­ka­ni­sche Atom­bom­ben vom Stütz­punkt Büchel ins Ziel tra­gen) oder aus der deutsch-fran­zö­si­schen Part­ner­schaft ent­wickeln ließe.

Die­se Schlüs­sel­po­si­ti­on, die zu »neu­er Macht« und damit zu »neu­er Ver­ant­wor­tung« füh­re – so eine grund­le­gen­de Stu­die der Stif­tung Wis­sen­schaft und Poli­tik – hat den der­zei­ti­gen Außen­mi­ni­ster Hei­ko Maas zu sei­nen grund­le­gen­den Über­le­gun­gen über eine »balan­cier­te Part­ner­schaft« ver­an­lasst: Deutsch­land kön­ne als Züng­lein an der Waa­ge in zwei Bünd­nis­sen, NATO und EU, agie­ren. Bei­de sind inzwi­schen ohne Deutsch­land ein Tor­so. Akti­ve und mas­si­ve deut­sche Betei­li­gung an der NATO-Ost­erwei­te­rung (die Zahl der NATO-Mit­glie­der hat sich seit dem Höhe­punkt des Kal­ten Krie­ges fast ver­dop­pelt), an Groß­ma­nö­vern wie »Defen­der 2020«, aber auch an der Ret­tung des fran­zö­si­schen Kolo­ni­al­rei­ches in West­afri­ka spre­chen hier eine ein­deu­ti­ge Spra­che. Und im Kampf um einen Platz an der Son­ne in der glo­ba­li­sier­ten Welt ist es auch nicht ver­wun­der­lich, wenn die der­zei­ti­ge Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­rin Anne­gret Kramp-Kar­ren­bau­er in ihrer Grund­satz­re­de an der Uni­ver­si­tät der Bun­des­wehr in Mün­chen laut von deut­scher mari­ti­mer Prä­senz vor den Küsten Chi­nas redet.

Wahr­lich, der Restau­ra­ti­on in Deutsch­land ist ein – brand­ge­fähr­li­ches – Mei­ster­werk gelungen.

 

Anfang März erscheint im Ver­lag Papy­Ros­sa Wer­ner Rufs neu­es Buch »Vom Under­dog zum Glo­bal Play­er. Deutsch­lands Rück­kehr auf die Weltbühne« (127 Sei­ten, 12,90 €).