Von der »Stunde Null« zur Spaltung Europas
Innerhalb eines Vierteljahrhunderts hatte Deutschland zwei Weltkriege vom Zaun gebrochen. Das »Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg« war der Aufschrei der Völker Europas, als die Nazi-Wehrmacht am 8. Mai 1945 endlich bedingungslos kapitulierte. Mit der Konferenz von Potsdam ging die staatliche Autorität Deutschlands in die Hände der Haupt-Siegermächte über. Das »Nie wieder« schlug sich auch in der Weiterentwicklung des Völkerrechts und der Gründung der Vereinten Nationen nieder, die die Welt hinfort »von der Geißel der Krieges befreien« (Präambel der UN-Charta) sollten.
Doch änderten sich nach dem Tode des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, der kurz vor Kriegsende starb, die Vorstellungen der USA über die Zukunft Deutschlands, das reaktionären Kräften zunehmend als möglicher Partner in der neuen Gegnerschaft zur Sowjetunion erschien. Sie betrieben konsequent die Gründung eines westdeutschen Teilstaats. Noch vor dessen Gründung schlossen daher die europäischen Kriegsgegner Deutschlands (Großbritannien, Frankreich, Belgien, Niederlande und Luxemburg) den Brüsseler Pakt, der sich gegen jede potentielle Aggression eines wiedererstandenen deutschen Staates richtete. Sein entscheidender Art. 5 lautete: »Sollte eine der Hohen Vertragschließenden Teile das Ziel eines bewaffneten Angriffs in Europa werden, so werden ihm die anderen Hohen Vertragschließenden Teile im Einklang mit den Bestimmungen des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen alle in ihrer Macht stehende militärische und sonstige Hilfe und Unterstützung leisten.« Dieser Vertrag überlebte bis heute: Er wurde in die EWG und die EU übernommen und ist heute das Fundament des Militärbündnisses EU und Kernstück des Artikels 42 des Vertrags von Lissabon, der gewissermaßen die Verfassung der Europäischen Union darstellt.
Doch der Weg dahin war noch weit. Ein erster Durchbruch gelang der BRD, die mit der Schaffung des »Amtes Blank« schon im Oktober 1950, ein Jahr nach der Staatsgründung, klammheimlich erste Schritte zur Remilitarisierung eingeleitet hatte. 1952 wurde die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) geschlossen. Das Projekt scheiterte 1954 in der französischen Nationalversammlung an der Opposition der Kommunisten und Gaullisten. Für die Befürworter der Remilitarisierung Westdeutschlands erwies sich das als Glücksfall: Seine Remilitarisierung war auf der westlichen Tagesordnung angekommen, damit war das Tor zum Beitritt zur 1949 gegründeten NATO geöffnet. Mit den sogenannten Stalinnoten hatte die Sowjetunion diese Remilitarisierung zu verhindern versucht: Sie bot die deutsche Wiedervereinigung an und stellte sogar die Existenz der DDR zur Disposition, indem sie freie Wahlen in ganz Deutschland vorsah. Ihr Preis allerdings war die Neutralisierung dieses Deutschlands, womit nicht nur eine mögliche Aggression Deutschlands verhindert worden wäre, sondern ein neutraler Gürtel von Skandinavien über Deutschland, die Schweiz, Österreich und Jugoslawien zwischen die Blöcke gelegt worden wäre. Der Westen lehnte ab, die Sowjetunion beantwortete den westdeutschen NATO-Beitritt (1955) mit der Gründung der Warschauer Vertrags-Organisation. Die Spaltung Europas war besiegelt.
Im Gegensatz zu dem weltweite Zuständigkeit beanspruchenden Brüsseler Pakt beschränkt sich die NATO formal auf das Territorium ihrer Mitglieder, also auf den nordamerikanischen Raum (USA und Kanada), den Atlantik und die europäischen Mitglieder. Artikel 5 des Vertrags enthält – im Gegensatz zum Brüsseler Pakt – einen nur schwachen Beistandsmechanismus: So legt er fest, dass im Falle eines Angriffs von außen jeder Vertragsstaat »für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Vertragsstaaten diejenigen Maßnahmen unter Einschluss der Verwendung bewaffneter Kräfte ergreift, die er für notwendig erachtet […]«. Die Angst vor Deutschland war auch in der NATO noch präsent, wie das der erste NATO-Generalsekretär, der Brite Lord Ismay, auf den Punkt brachte, als er die Aufgaben der NATO folgendermaßen definierte: »to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down«.
Das vereinigte Deutschland als europäische Macht
Schon vor dem Ende der Bipolarität hatte der in Westeuropäische Union (WEU) umbenannte Brüsseler Pakt versucht, gegenüber der NATO und ihrer Führungsmacht mehr Einfluss und ein eigenes Profil zu gewinnen, ja, die Nachfolgeorganisation jenes gegen ein remilitarisiertes Deutschland gerichteten Paktes sollte in fast grotesker Weise zum Streitross des militärischen Wieder-Aufstiegs Westdeutschlands und später des vereinigten Deutschlands werden: 1984, auf dem Höhepunkt der Debatte über die Stationierung der US-amerikanischen Mittelstreckenraketen (»NATO-Doppelbeschluss«), erklärte der damalige Vorsitzende des Ministerrats der WEU, der westdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher, anlässlich der Feier des 30-jährigen Bestehens dieser Militärorganisation an die Adresse der USA: »Die WEU wird sich künftig mit allen wichtigen sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen befassen, in denen sich eine gemeinsame europäische Haltung empfiehlt. […] Wir sind bereit, die damit [gegenüber dem Atlantischen Bündnis; W. R.] verbundene Verantwortung zu tragen. Wir wollen aber auch gehört werden.«
Doch dann geschah das Unfassbare, nirgendwo Erwartete: Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) endete nach 15 Jahren zäher Verhandlungen 1990 in der »Charta von Paris für ein Neues Europa«, ihrem Schlussdokument, das jenes »gemeinsame Haus Europa« vorsah, in dem alle im kontinentaleuropäischen Rahmen auf der Basis gegenseitiger kollektiver Sicherheit friedlich zusammenleben sollten.
Zeitgleich und unter mehrfachem Verweis auf die Charta von Paris wurde unter Beteiligung der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs der 2+4-Vertrag geschlossen, der den Beitritt der DDR zur BRD regelte und das längst gebrochene Statut des Potsdamer Vertrags beendete. Die beiden Deutschlands, die formal gleichberechtigt mit den Siegermächten diesen Vertrag schlossen, erklärten in Artikel 2 des Vertrags, »… dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird«. Entsprechend der Verfassung der BRD, der die DDR beitrat, sind »Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, verfassungswidrig und strafbar«. Und die beiden Staaten erklärten in Artikel 3 »ihren Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen«.
Mit der Charta von Paris, dem 2+4-Vertrag und den vielen in diesem Zusammenhang geschlossenen Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträgen, kulminierend in der Selbstauflösung der Warschauer Vertrags-Organisation, war im Grunde auch die NATO überflüssig geworden ebenso wie der Brüsseler Vertrag. Doch dieser für die Schaffung des Friedensraums Europa entscheidende Schritt erfolgte nicht: Im Februar 1992 beschloss die EU im Vertrag von Maastricht die Schaffung einer »Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik« (GASP) und legte fest, die WEU mit »Entscheidungen und Aktionen […], die verteidigungspolitische Bezüge« haben, zu beauftragen. Gleich anschließend legte sie auf dem Bonner Petersberg deren Aufgaben fest: humanitäre Aktionen oder Rettungseinsätze; Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens; Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung, einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen. Der letzte Punkt erscheint geradezu als interventionistischer Persilschein weltweit. Die Rolle der Bundeswehr definierte Volker Rühe in den »Verteidigungspolitischen Richtlinien« vom November 1992: »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt«.
Die neue deutsche Dominanz
Mit den Artikeln 42 und 43 des 2009 geschlossenen Vertrags von Lissabon und seinem konsequenten Auftreten als geostrategisch zentrale »Scharniermacht« der NATO verschaffte sich Deutschland in beiden Bündnissen immer mehr Gewicht. Zugleich steigerte es seine anfänglich unter dem Stichwort »humanitäre Intervention« kaschierten Militäreinsätze in aller Welt (derzeit 14, 21 weitere wurden bereits abgeschlossen). Das Schlüsselwort für diese neue Machtentfaltung, von Bundespräsident Joachim Gauck 2014 auf der Münchner Sicherheitskonferenz propagiert, lautet »neue Verantwortung«. Als Begründung dafür wird der relative Abstieg der USA und ein dadurch entstehendes Vakuum angeführt.
Wie ein Geschenk Gottes erschien wohl den herrschenden Kreisen dieser Republik die von der Trump-Administration geforderte Erhöhung der europäischen Rüstungsausgaben pro Staat auf zwei Prozent des Bruttosozialprodukts: Mit gewaltigen Erhöhungen des Militäretats soll das Ziel in wenigen Jahren erreicht werden. Deutschland wird so zur zweitwichtigsten Militärmacht der NATO und zu ihrem stärksten Partner in Europa. Zugleich wird Deutschland führende Militärmacht in Europa, dessen stärkste Wirtschaftsmacht es bereits ist. Mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU sind hier auch die letzten Bremsen gegen das Wiedererstarken einer Militärmacht Deutschland geschwunden. Mit dem 2019 geschlossenen deutsch-französischen Vertrag von Aachen werden Rüstung und Rüstungsexport festgeschrieben und der Wille zu weltweiter militärischer Dominanz gefördert. Trotz aller bestehenden Verträge wird in den Leitmedien und einschlägigen »wissenschaftlichen« Studien über die Notwendigkeit deutscher Verfügungsgewalt über Atomwaffen spekuliert, die sich aus der bereits bestehenden »atomaren Teilhabe« (deutsche Flugzeuge können US-amerikanische Atombomben vom Stützpunkt Büchel ins Ziel tragen) oder aus der deutsch-französischen Partnerschaft entwickeln ließe.
Diese Schlüsselposition, die zu »neuer Macht« und damit zu »neuer Verantwortung« führe – so eine grundlegende Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik – hat den derzeitigen Außenminister Heiko Maas zu seinen grundlegenden Überlegungen über eine »balancierte Partnerschaft« veranlasst: Deutschland könne als Zünglein an der Waage in zwei Bündnissen, NATO und EU, agieren. Beide sind inzwischen ohne Deutschland ein Torso. Aktive und massive deutsche Beteiligung an der NATO-Osterweiterung (die Zahl der NATO-Mitglieder hat sich seit dem Höhepunkt des Kalten Krieges fast verdoppelt), an Großmanövern wie »Defender 2020«, aber auch an der Rettung des französischen Kolonialreiches in Westafrika sprechen hier eine eindeutige Sprache. Und im Kampf um einen Platz an der Sonne in der globalisierten Welt ist es auch nicht verwunderlich, wenn die derzeitige Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer in ihrer Grundsatzrede an der Universität der Bundeswehr in München laut von deutscher maritimer Präsenz vor den Küsten Chinas redet.
Wahrlich, der Restauration in Deutschland ist ein – brandgefährliches – Meisterwerk gelungen.
Anfang März erscheint im Verlag PapyRossa Werner Rufs neues Buch »Vom Underdog zum Global Player. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne« (127 Seiten, 12,90 €).