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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Deutschlands revolutionäre Tradition

Bis ins näch­ste Jahr hin­ein wer­den sich vie­le Arti­kel und Ver­an­stal­tun­gen ins­be­son­de­re in Sach­sen, Thü­rin­gen und dem süd­deut­schen Raum mit dem deut­schen Bau­ern­krieg befas­sen, der vor 500 Jah­ren, 1524, begann und zwei Jah­re spä­ter, nach über 70.000 getö­te­ten Bau­ern, Städ­tern und ein paar Adli­gen endete.

In sei­ner Arti­kel­se­rie »Der deut­sche Bau­ern­krieg« hat Fried­rich Engels die­sem Auf­stand der vom Adel und den rei­chen Stadt­bür­gern gepei­nig­ten Bau­ern ein blei­ben­des Denk­mal gesetzt. Er schrieb den Text im Som­mer 1850, erschie­nen ist die Arbeit erst­mals vom Mai bis Okto­ber 1850 in der Neu­en Rhei­ni­schen Zei­tung. Die Wür­di­gung die­ses histo­ri­schen Ereig­nis­ses als erste früh­bür­ger­li­che Revo­lu­ti­on in Deutsch­land wird ihren Anteil dar­an gehabt haben, dass der erste sozia­li­sti­sche Staat auf deut­schem Boden, die Deut­sche Demo­kra­ti­sche Repu­blik, sich selbst als »Arbei­ter- und Bau­ern­staat« bezeich­ne­te, das Bünd­nis zwi­schen Arbei­tern und Bau­ern als sein Fun­da­ment betrach­te­te und die Ähre als Sym­bol des Bau­ern­stan­des in sei­ner Staats­flag­ge trug.

Sowohl von der Atmo­sphä­re, in der der damals 30-jäh­ri­ge Engels die Bau­ern­hau­fen wür­dig­te, als auch vor der Ver­nei­gung eines gan­zen Staa­tes vor der Land­wirt­schaft sind wir heu­te weit ent­fernt. Die Stim­mung in der ins Exil getrie­be­nen deut­schen Lin­ken war nach dem Schei­tern der Revo­lu­ti­on von 1848 zwar von Nie­der­ge­schla­gen­heit geprägt, aber auch noch nach­glim­mend erfüllt von revo­lu­tio­nä­rer Glut und der Hoff­nung, schon bald wie­der die Flam­me der Revo­lu­ti­on ent­zün­den zu kön­nen. Die Erin­ne­rung an die revo­lu­tio­nä­ren Tra­di­tio­nen in Deutsch­land wach­zu­hal­ten, war einer der Auf­ga­ben, zu denen sich Engels gleich am Anfang sei­ner Arti­kel­se­rie bekann­te: »Auch das deut­sche Volk hat sei­ne revo­lu­tio­nä­re Tra­di­ti­on. Es gab eine Zeit, wo Deutsch­land Cha­rak­te­re her­vor­brach­te, die sich den besten Leu­ten der Revo­lu­tio­nen ande­rer Län­der an die Sei­te stel­len kön­nen, wo das deut­sche Volk eine Aus­dau­er und Ener­gie ent­wickel­te, die bei einer zen­tra­li­sier­te­ren Nati­on die groß­ar­tig­sten Resul­ta­te erzeugt hät­te, wo deut­sche Bau­ern und Ple­be­jer mit Ideen und Plä­nen schwan­ger gin­gen, vor denen ihre Nach­kom­men oft zurück­schau­dern. Es ist an der Zeit, gegen­über der augen­blick­li­chen Erschlaf­fung, die sich nach zwei Jah­res des Kamp­fes fast über­all zeigt, die unge­fü­gen, aber kräf­ti­gen und zähen Gestal­ten des gro­ßen Bau­ern­krie­ges dem deut­schen Vol­ke wie­der vor­zu­füh­ren«, denn »die zu bekämp­fen­den Geg­ner sind gro­ßen­teils noch dieselben«.*

Bevor er in die Dar­stel­lung der Ereig­nis­se ein­steigt, lie­fert Engels eine Skiz­ze über die »öko­no­mi­sche Lage und (den) sozia­len Schich­ten­bau Deutsch­lands« zum Beginn des 16. Jahr­hun­derts – ein Ver­fah­ren, ohne das auch heu­te kei­ne wesent­li­che Bewe­gung irgend­ei­nes Vol­kes ver­stan­den wer­den kann. Die­se dama­li­ge Schich­tung war, ver­gli­chen mit der 300 Jah­re spä­ter, ver­wickelt: »Jeder Stand war dem andern im Wege, lag mit allen andern in einem fort­ge­setz­ten, bald off­nen, bald ver­steck­ten Kampf.« Die im Kapi­ta­lis­mus sich her­aus­bil­den­de Haupt­tei­lung der Klas­sen in die­je­ni­ge, die im Besitz prak­tisch aller Pro­duk­ti­ons­mit­tel ist, und die­je­ni­ge, die ihre Arbeits­kraft ver­kau­fen muss, weil sie sonst nichts Nen­nens­wer­tes zu ver­kau­fen hat, um leben zu kön­nen, hat­te damals noch nicht statt­ge­fun­den – des­halb eine kom­pli­zier­te­re Schich­tung als wir sie etwa von 1848 oder auch von heu­te in den hoch­ent­wickel­ten kapi­ta­li­sti­schen Län­dern ken­nen. Der tief­ste Grund, wes­halb kor­rek­ter­wei­se bis heu­te und weit über den Mar­xis­mus hin­aus die Ereig­nis­se von 1524 bis 1526 als »Bau­ern­krie­ge« bezeich­net wer­den, liegt aber eben dar­in: »Unter allen die­sen Klas­sen, mit Aus­nah­me der letz­ten**, stand die gro­ße exploi­tier­te Mas­se der Nati­on: die Bau­ern. Auf dem Bau­er laste­te der gan­ze Schich­ten­bau der Gesell­schaft: Für­sten, Beam­te, Adel, Pfaf­fen, Patri­zi­er und Bürger.«

Im zwei­ten Teil sei­ner Unter­su­chung wen­det sich Engels dem oppo­nie­ren­den Lager zu. Die­ses Kapi­tel wäre inso­fern einen gan­zen eige­nen Arti­kel wert, weil es von gro­ßer Bedeu­tung für das Ver­ste­hen eines nur schein­bar jün­ge­ren Phä­no­mens ist: Gan­ze Lehr­stüh­le wer­den in Deutsch­land dafür ein­ge­rich­tet, reli­giö­se Bewe­gun­gen zu ana­ly­sie­ren – vor allem denen, die sich auf den Islam stüt­zen. Engels lei­tet die zen­tra­le Stel­lung des Chri­sten­tums für den gan­zen feu­da­li­sti­schen Gesell­schafts­ab­bau ohne einen Fet­zen Bibel­kun­de nach­voll­zieh­bar her und führt sie auf die mate­ri­el­len Grund­la­gen zurück, um dann fun­diert zu lästern: »Die deut­sche Ideo­lo­gie sieht, trotz der neue­sten Erfah­run­gen, in den Kämp­fen, denen das Mit­tel­al­ter erlag, noch immer wei­ter nichts als hef­ti­ge theo­lo­gi­sche Zän­ke­rei­en. Hät­ten die Leu­te jener Zeit sich nur über die himm­li­schen Din­ge ver­stän­di­gen kön­nen, so wäre, nach der Ansicht uns­rer vater­län­di­schen Geschichts­ken­ner und Staats­wei­sen, gar kein Grund vor­han­den gewe­sen, über die Din­ge die­ser Welt zu strei­ten. Die­se Ideo­lo­gen sind leicht­gläu­big genug, alle Illu­sio­nen für bare Mün­ze zu neh­men, die sich eine Epo­che über sich sel­ber macht oder die die Ideo­lo­gen sei­ner Zeit sich über die­se Zeit machen. (…) Von den Klas­sen­kämp­fen, die in die­sen Erschüt­te­run­gen aus­ge­foch­ten wer­den und deren blo­ßer Aus­druck die jedes­mal auf die Fah­ne geschrie­be­ne poli­ti­sche Phra­se ist, von die­sen Klas­sen­kämp­fen haben selbst heu­te noch uns­re Ideo­lo­gen kaum eine Ahnung. (…) Wenn die­se Klas­sen­kämp­fe damals reli­giö­se Schib­bo­leths tru­gen, wenn die Inter­es­sen, Bedürf­nis­se und For­de­run­gen der ein­zel­nen Klas­sen sich unter einer reli­giö­sen Decke ver­bar­gen, so ändert dies nichts an der Sache und erklärt sich leicht aus den Zeitverhältnissen.«

So gerü­stet skiz­ziert Engels die Auf­tei­lung der Nati­on »in drei Lager, in das katho­li­sche oder reak­tio­nä­re, das luthe­ri­sche bür­ger­lich-refor­mie­ren­de und das revo­lu­tio­nä­re«. Es gehört nicht viel Fan­ta­sie dazu, die­se Lager­bil­dung auch in den kom­men­den 500-Jahr-Fei­er­lich­kei­ten zum Bau­ern­krieg wie­der­zu­fin­den. Das katho­li­sche, reak­tio­nä­re Lager wird ein paar unver­ständ­li­che Ent­schul­di­gun­gen mur­meln und hof­fen, dass die Gedenk­ver­an­stal­tun­gen vor­bei­ge­hen, das evan­ge­lisch-refor­mi­sti­sche wird mit kuh­au­gen­glot­zen­dem Unver­ständ­nis Luther in allen Vari­an­ten in die Höhe recken und wir, die in der Tra­di­ti­on der Hel­din­nen und Hel­den der Bau­ern­krie­ge Ste­hen­den, wer­den Mün­zer fei­ern und auf die Ähn­lich­keit des Bund­schuhs mit dem Gum­mi­stie­fel hin­wei­sen, der aus den Bau­ern­un­ru­hen des letz­ten Win­ters bis heu­te an man­chen deut­schen Orts­schil­dern hängt.

Letz­te­res ist auch des­halb wich­tig, weil Engels Unter­su­chung das lie­fert, was die rei­ne Theo­lo­gie nicht lie­fern kann – die Begrün­dung für die Nie­der­la­ge der nach tau­sen­den zäh­len­den bäu­er­li­chen Hau­fen am Ende der Schlach­ten, näm­lich ihrem Schei­tern am »Gegen­satz zwi­schen bür­ger­li­cher und bäu­er­lich-ple­be­ji­scher Oppo­si­ti­on, an dem der Bau­ern­krieg zugrun­de ging«.

Natür­lich lie­gen Wel­ten meh­re­rer tech­ni­scher Revo­lu­tio­nen zwi­schen den dama­li­gen Bau­ern, die häu­fig von den Adli­gen nach Weg­nah­me der Och­sen mit der Peit­sche – gemein­sam mit ihren Frau­en – vor den eige­nen Pflug gezwun­gen wur­den, um ihre kar­gen Äcker für die Ablie­fe­rung des Zehn­ten umzu­bre­chen, und den heu­ti­gen Land­wir­ten, die auf ihren kre­dit­fi­nan­zier­ten Treckern dut­zen­de von Hekt­ar bestel­len. Aber der Kern der Nie­der­la­ge der Bau­ern bleibt: Wenn sie sich auf das geho­be­ne Bür­ger­tum ver­las­sen, sind sie ver­las­sen. Das gilt damals wie heu­te. Oder wie es Wla­di­mir Iljitsch Lenin als Leh­re Engels aus den gemein­sa­men Nie­der­la­gen von 1526 und 1848 aus­drück­te: »Zer­split­te­rung der Akti­on, feh­len­de Zen­tra­li­sa­ti­on bei den unter­drück­ten Mas­sen, her­vor­ge­ru­fen durch ihre klein­bür­ger­li­che Lebens­la­ge«. Anders for­mu­liert: Die Nie­der­la­ge von 1526 war in gewis­ser Hin­sicht trotz allem Hel­den­tum unver­meid­lich, weil der natür­li­che Bünd­nis­part­ner der Bau­ern – das städ­ti­sche Pro­le­ta­ri­at – noch in den Kin­der­schu­hen steck­te und kei­ne eige­ne Macht dar­stell­te. Die Tat­sa­che, dass die deut­schen Bau­ern es zwi­schen Elbe und Oder immer­hin 40 Jah­re lang mit der Ähre in die Staats­flag­ge und mate­ri­ell zu Sicher­heit, Urlaubs­an­spruch und gere­gel­ten Arbeits­zei­ten brach­ten, hing damit zusam­men, dass das Pro­le­ta­ri­at stär­ker gewor­den war und die Bau­ern nicht mit der Bour­geoi­sie, son­dern mit dem Pro­le­ta­ri­at zusam­men in die Kämp­fe zogen.

* Die­ses und die fol­gen­den Zita­te aus: Fried­rich Engels, Der deut­sche Bau­ern­krieg, in: Marx Engels Wer­ke (MEW), Band 7, Ber­lin 1973, S. 329 ff.

** Gemeint ist die »ple­be­ji­sche Frak­ti­on der Städ­te«, die »vom all­ge­mei­nen Sturm so weit fort­ge­ris­sen, dass das embryo­na­le pro­le­ta­ri­sche Ele­ment in ihr momen­tan die Ober­hand über alle ande­ren Frak­tio­nen der Bewe­gung bekam«.