»Wollte man in Europa Grund und Boden, dann konnte dies im Großen und Ganzen nur auf Kosten Russlands geschehen, dann musste sich das neue Reich wieder auf der Straße der einstigen Ordensritter in Marsch setzen, um mit dem deutschen Schwert dem deutschen Pflug die Scholle, der Nation aber das tägliche Brot zu geben.«
Der dies nach dem gescheiterten Putsch am 9. November 1923, während der Festungshaft 1924, geschrieben hatte, war Adolf Hitler. Im ersten Teil seines »Mein Kampf« sah er Deutschlands Expansionsziel in der Eroberung und Kolonisation »des Ostens«. Diese Expansionsrichtung war nicht neu. Offiziell war die Parole vom »unvermeidlichen Existenz- und Endkampf« zwischen Slawen und Germanen seit 1909, spätestens seit 1912/13 im Umlauf.
Zwei Tage nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 nannte der deutsche Reichskanzler Theodor von Bethmann Hollweg als Kriegsziel die Zurückwerfung der russischen Grenze auf Moskau. Zwischen Deutschland bzw. Österreich-Ungarn einerseits und Russland andererseits sollten »Pufferstaaten« entstehen. Als solche waren Finnland, Polen, Georgien und die Ukraine vorgesehenen. Nach weiteren Monaten forderte das sog. Septemberprogramm des Reichskanzlers, dass Russland so weit wie möglich zurückgeworfen und seine Herrschaft über die nicht-russischen Völker gebrochen werden müsse. Diese Zielsetzung der deutschen Ostpolitik wurde auch nach der Oktoberrevolution 1917 beibehalten.
Der Friede von Brest-Litowsk im März 1918 war vereinbart worden zwischen dem Deutschen Reich und sowohl der Sowjetunion als auch – mit Unterstützung der Mittelmächte – einer selbständig gewordenen Ukraine. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits Polen und Finnland zu selbständigen Staaten erklärt worden. Im August 1918 folgten Estland und Georgien.
Motive deutscher Ostpolitik bildeten neben raumpolitisch-strategischen vor allem wirtschaftliche Interessen. Die Ukraine galt als Kornkammer und Lieferant von Erzen. Der Historiker Fritz Fischer scheibt: »Es führt eine gerade Linie von diesem Frieden (von Brest-Litowsk; R. B.) zu dem Milieu Adolf Hitlers in München. Dort sammelten sich nach Kriegsende neben Ludendorff und entlassenen deutschen Offizieren baltendeutsche, russische und ukrainische Emigranten: unter ihnen der von den Deutschen eingesetzte ›Hetman‹ (= Führer; R. B.) des deutschen Vasallenstaates Ukraine, Skoropadsky, ein Mitbegründer des ›Völkischen Beobachters‹.«
In der Tradition von 1909 und 1912/13 steigerte sich unter den Nazis die antirussische und an der Ukraine interessierte Stoßrichtung der deutschen Ostpolitik. 1936/37 starteten wilden Propagandaaktionen gegen die UdSSR und den »Bolschewismus«. Nach dem von beiden Seiten am 24. August 1939 unterzeichneten deutsch-sowjetischen Nichtangriffs-Pakt erfolgte am 22. Juni 1941 dessen Bruch durch den Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion.
Fischer resümierte in seinem Buch »Hitler war kein Betriebsunfall«: »Die geopolitisch-strategische und ökonomische Zielsetzung (›Nach Ostland wollen wir reiten!‹) ist Kontinuität des wilhelminisch-alldeutschen Expansionismus.« Diese Traditionslinie setzt sich bis in die Gegenwart fort. Von Seiten des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik wurde 2022 von der amtierenden Ministerin Baerbock die Devise »Russland ruinieren« ausgegeben.
In einer Art »Parallelaktion« hat sich Kanzler Scholz ebenfalls als Verfechter einer militärisch-aggressiven Ostpolitik erwiesen. In einem Beitrag für die US-amerikanische Zeitschrift Foreign Affairs vom 5. Dezember 2022 betonte er: »Einer der ersten Beschlüsse, die die Bundesregierung (…) gefasst hat, war die Schaffung eines Sondervermögens in Höhe von 100 Milliarden Euro, um die Bundeswehr besser auszurüsten. Wir haben sogar unser Grundgesetz geändert, damit dieses Vermögen eingerichtet werden kann.«
Scholz wirft der Russischen Föderation »revanchistischen Imperialismus« vor und schreibt: »Angesichts seiner Geschichte kommt meinem Land eine besondere Verantwortung zu, die Kräfte des Faschismus, Autoritarismus und Imperialismus zu bekämpfen.« Das ist, in verlogen-verklausulierter Form, eine Feind- und Kriegserklärung gegenüber Russland.
»Die Zeitenwende«, so der Bundeskanzler in Foreign Affairs, »hat die Bundesregierung außerdem dazu veranlasst, einen seit Jahrzehnten bestehenden, fest etablierten Grundsatz deutscher Politik in Bezug auf Rüstungsexporte zu überdenken. Zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte Deutschlands liefern wir heute Waffen in einem Krieg zwischen zwei Staaten.«
Deutschland komme »jetzt die wesentliche Aufgabe zu, als einer der Hauptgaranten für die Sicherheit in Europa Verantwortung zu übernehmen, indem wir in unsere Streitkräfte investieren, die europäische Rüstungsindustrie stärken, unsere militärische Präsenz an der Nato-Ostflanke erhöhen und die ukrainischen Streitkräfte ausbilden und ausrüsten«.
Unter dem Vorwand deutscher Verantwortung und im Windschatten der EU- und Nato-Interessen werden erneut Expansionsziele formuliert. Zunehmend deutlicher werden jetzt, im 21. Jahrhundert, wieder die bedrohlichen Anzeichen jener Kriegs- und Expansions-Kontinuität deutscher Ostpolitik, die Anfang des 20. Jahrhunderts ihren zunächst wilhelminisch-alldeutschen Anfang genommen und unter Hitler ein schreckliches Ende gefunden hat – ein nur vorläufiges Ende, wie sich zeigt.
Im Fall der heutigen Ukraine und der dort wuchernden Traditionspflege (siehe das Asow-Regiment und den Bandera-Kult) kann die militaristische deutsche Ostpolitik heute erneut bei verbrecherischen anti-russischen und faschistischen Gemeinsamkeiten in der Geschichte anknüpfen. Das deutsche Osterweiterungs-Programm wird ideologisch übertüncht durch die False-Flag-Berufung auf demokratische Werte, das Völkerrecht und »enge Absprachen mit den Verbündeten«.
Scholz wirft Russland beim Versuch, sich gegen die westliche Umzingelung militärisch zur Wehr zu setzen, jene imperialistischen Absichten vor, die in der deutschen Ostpolitik eine schreckliche Kontinuität erkennen lassen.