Die Neue Züricher Zeitung (NZZ) titelte vor Kurzem: »Vom hohen Nato-Offizier zum ›Sowjet-General‹« (10.7.) Gemeint war Harald Kujat, höchster General der Bundeswehr, Vorsitzender des Nato-Militärausschusses und des Nato-Russland-Rates in den Jahren 2000/2 bis 2005.
Der Autor des NZZ-Beitrags, Marco Seliger, der sich als »Qualitätsjournalist« bezeichnet, zitiert Persönliches aus Kujats früherem Arbeitsumfeld. Subjektive Befindlichkeiten. Keine Tatsachen. Kürzlich wiederholte Seliger im NZZ-Podcast seine Vorhaltungen. Eine Art Schnellgerichtsverfahren wie in Diktaturen. Der reißerische Begriff »Sowjetgeneral« soll signalisieren, General Kujat habe die Seiten gewechselt und sei zu Putin übergelaufen, ein Verhalten, das schon bei ihm angelegt gewesen sei, als er Vorsitzender des Nato-Russland-Rates war. U. a. heißt es im Zeitungsbericht, Kujat kokettiere damit, als »einfacher Soldat« begonnen zu haben, um sich umso bedeutender darzustellen. Er erwecke »den Eindruck eines allzu verständnisvollen Russland-Erklärers, der es mit den Fakten nicht so genau« nehme. Mit seinen Aussagen zum Krieg des Putin-Regimes bediene er bewusst »Kreml-Narrative«. Was sind eigentlich Kreml-Narrative? Wären das nicht »Erzählungen«, die den Krieg rechtfertigen würden?
Seliger behauptet, »Fakten« zu ermitteln. Er will das Bild erschüttern, dass Harald Kujat »ein geachteter und erfolgreicher General« ist. Mit »oftmals einseitigen Schuldzuweisungen, Ungenauigkeiten und Falschinformationen zum russischen Vorgehen« schade er seinem Ruf. Wer heute für Gespräche, Verhandlungen und Waffenstillstand eintrete, sei ein Feind »des« Westens.
Beispiel 1: Hat »der Westen« im März/April 2022 einen Friedensschluss zwischen Russland und der Ukraine verhindert, wie Kujat behaupte? Quellen, wie etwa die Zeitschrift Foreign Affairs der einflussreichen US-amerikanischen Denkfabrik Council on Foreign Relations, Aussagen von Persönlichkeiten, die in die Verhandlungen involviert waren, Informationen von Diplomaten und Fachleuten untermauern Kujats These. Natürlich hat die damalige britische Regierung unter Johnson nicht offengelegt, worüber genau gesprochen worden ist, das bleibt so geheim wie die Täterschaft des terroristischen Nord-Stream-Anschlags.
Beispiel 2: Kujat habe das Gespräch, »das hätte spannend werden können«, verlassen. Der Abbruch sei ein »Eklat« gewesen, so Redakteur Seliger. Er habe verhindert, darüber zu reden, »wie er die Russen nach der Annexion in zahlreichen Talkshow-Auftritten (…) verteidigt hat. Man hätte ihn auch fragen können, warum er selbst jetzt noch das Land verteidigt.« Die Strategie des »Qualitätsjournalisten« (Selbstbezeichnung) mit Unterstellungen zu operieren, ist unter jedem Niveau. Nicht Sachfragen stehen im Mittelpunkt, auch nicht die unterschiedlichen Positionen, sondern persönliche Vorhaltungen und Anklagen. Das »Gespräch« war eine Art Schellgerichtsverfahren, das Kujat als »schuldig« der Kooperation mit dem »russischen Feind« überführen sollte.
Beispiel 3: In einem Interview mit der Weltwoche soll Kujat den »Eindruck« vermittelt haben, »die Ukraine sei an ihrer Lage selbst schuld«. Wenn sie nur endlich aufgebe, werde nichts Schlimmeres daraus, so der »Journalist« Seliger. Ein »Eindruck« ist allerdings eine Interpretation, die richtig oder falsch sein kann – insofern ist die Äußerung des »Qualitätsjournalisten« Rhetorik des kolportierten Verdachts.
Beispiel 4: Für Kujat gäbe es »offenbar« keine Beweise, »dass das politische Ziel der ›militärischen Spezialoperation‹ die Eroberung und Besetzung der gesamten Ukraine« sei und Russland danach einen Angriff auf die Nato-Staaten plane. Dessen »Verhandlungsvorschlag« für einen Friedensplan nennt Seliger »Pamphlet«, eine Schmähschrift, die angeblich nicht den russischen Angriff als das bezeichne, was er ist: Doch auch diese Behauptung Seligers ist falsch. Gleich im ersten Satz des Verhandlungsvorschlags von Peter Brandt, Harald Kujat, Hajo Funke und Horst Teltschik heißt es dagegen: »Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar 2022 führt die Ukraine einen legitimen Verteidigungskrieg, in dem es um ihr Überleben als Staat, ihre nationale Unabhängigkeit und Sicherheit geht.«
Dass der Angriff der russischen Truppen sich auf Kiew richtete mit dem Ziel, die Regierung abzusetzen und nicht, um »die ganze Ukraine einzunehmen«, scheint plausibel: Die Zahl von 190 000 Soldaten sei deutlich zu niedrig, argumentiert Kujat, um ein Land dieser Größenordnung zu erobern und besetzt zu halten, zumal die ukrainische Armee deutlich stärker, etwa 400 000 Soldaten, vom Westen seit 2014 vorbereitet worden war. In der DDR hielt die Sowjetunion etwa 300 000 Soldaten stationiert, der Vernichtungskrieg der Wehrmacht gegen das große Land wurde mit einer 2,5 Mio.-Armee begonnen.
Beispiel 5: Dann greift der Redakteur zu Mitteln der Yellow-Press: Die NZZ habe mit »ranghohen Generälen gesprochen«, die Kujat aus seiner Militärzeit kennen würden: Sie charakterisieren ihn als »durchtrieben, mitunter arrogant und rücksichtslos«, karriereorientiert; General Bühler wird zitiert, der beim öffentlich-rechtlichen MDR einen Podcast betreiben darf unter dem Titel »Was tun Herr General?« – u. a. legitimiert dadurch, dass Bühler unter Verteidigungsminister Scharping diente, als Kujat Generalinspekteur war. »Beide kennen sich«. Das soll Gewicht verleihen!
Entscheidend ist die Haltung zu Krieg und Frieden. »Frieden ist der Ernstfall«, hieß es gegen die Traditionalisten des Kriegerischen gerichtet, die nach Vorstellungen des Historikers Sönke Neitzel heute als »Deutsche Krieger« ihre Wiederkunft feiern. Harald Kujat hält an seiner auf Landesverteidigung orientierten Friedensstrategie fest. Weil es gute Gründe dafür gibt, dass Frieden nicht herbeigebombt werden kann, Auslandseinsätze in Katastrophen enden. Selbstverteidigung muss zeitnah zum Ende kommen. Über Waffenstillstand zu Friedensverhandlungen. Auf Wiederaufbau eines Landes kommt es an, bei dem Frieden oberstes Gebot ist.
Schließlich lässt Seliger als Zeuge der Anklage gegen Kujat den ersten bedeutenden Generalinspekteur nach der »Wende« 1990, den späteren Nato-Militärausschuss-Vorsitzenden Klaus Naumann (vor Kujat) für sich sprechen, einem Bekenner zu deutschen militärischen Tugenden im Krieg. Er bezeichnet die Bundeswehr als »Armee im Einsatz« und gilt als Anhänger militärischer Interventionen. Der traditionelle deutscher Krieger im modernen Gewand kann naturgemäß mit Entspannung und Ernstfall Frieden wenig anfangen. Heute wird Kriegstüchtigkeit gefordert, indopazifische Manöver in der Nähe Haitis mit 400 Soldaten und einer Fregatte abgehalten. Wehrmachtstraditionen revitalisiert (taz vom 8.8.24). »Verantwortung« in der Welt zu übernehmen, bedeutet entsprechend dieser Politik, Interventionsfähigkeit zu üben für den Tag X.
Politik der Verantwortung definierte Helmut Schmidt, nach dem die Bundeswehr-Universität in Hamburg benannt wurde, anders. Den Politikern schrieb er ins Stammbuch: »sich mit dem komplexen Aufgabengebiet von Rüstung, Rüstungskontrolle, Gleichgewicht und Friedenssicherung vertraut (zu- J. K.) machen«. »Ohne den Willen zum Frieden wird kaum jemals ein Krieg vermieden. Aber der gute Wille allein reicht nicht aus. Sondern Sachkenntnis, Vernunft und Urteilskraft sind unerlässlich, um den Frieden zu bewahren« (Detlef Bald, Politik der Verantwortung. Das Beispiel Helmut Schmidt, 2008; hier zitiert aus dem Vorwort von Helmut Schmidt). In dieser Tradition sieht sich Kujat. Aber an all den Schmidt’schen Grundsätzen der Verantwortung fehlt es den meisten Politikern und vor allem den Medien, den ausgebildeten oder selbsternannten »Militärexperten«.
Der General ist ein Meister seines Faches, hat Neider und weil das so ist, ist es für den »Qualitätsjournalisten« Marco Seliger erfolgversprechender, ihn persönlich zu delegitimieren, anstatt zu argumentieren. Symbolik mit verfälschender Rhetorik zum Gebrauch würdeloser Angriffe.