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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Deutscher »Sowjetgeneral«?

Die Neue Züri­cher Zei­tung (NZZ) titel­te vor Kur­zem: »Vom hohen Nato-Offi­zier zum ›Sowjet-Gene­ral‹« (10.7.) Gemeint war Harald Kujat, höch­ster Gene­ral der Bun­des­wehr, Vor­sit­zen­der des Nato-Mili­tär­aus­schus­ses und des Nato-Russ­land-Rates in den Jah­ren 2000/​2 bis 2005.

Der Autor des NZZ-Bei­trags, Mar­co Seli­ger, der sich als »Qua­li­täts­jour­na­list« bezeich­net, zitiert Per­sön­li­ches aus Kujats frü­he­rem Arbeits­um­feld. Sub­jek­ti­ve Befind­lich­kei­ten. Kei­ne Tat­sa­chen. Kürz­lich wie­der­hol­te Seli­ger im NZZ-Pod­cast sei­ne Vor­hal­tun­gen. Eine Art Schnell­ge­richts­ver­fah­ren wie in Dik­ta­tu­ren. Der rei­ße­ri­sche Begriff »Sowjet­ge­ne­ral« soll signa­li­sie­ren, Gene­ral Kujat habe die Sei­ten gewech­selt und sei zu Putin über­ge­lau­fen, ein Ver­hal­ten, das schon bei ihm ange­legt gewe­sen sei, als er Vor­sit­zen­der des Nato-Russ­land-Rates war. U. a. heißt es im Zei­tungs­be­richt, Kujat koket­tie­re damit, als »ein­fa­cher Sol­dat« begon­nen zu haben, um sich umso bedeu­ten­der dar­zu­stel­len. Er erwecke »den Ein­druck eines all­zu ver­ständ­nis­vol­len Russ­land-Erklä­rers, der es mit den Fak­ten nicht so genau« neh­me. Mit sei­nen Aus­sa­gen zum Krieg des Putin-Regimes bedie­ne er bewusst »Kreml-Nar­ra­ti­ve«. Was sind eigent­lich Kreml-Nar­ra­ti­ve? Wären das nicht »Erzäh­lun­gen«, die den Krieg recht­fer­ti­gen würden?

Seli­ger behaup­tet, »Fak­ten« zu ermit­teln. Er will das Bild erschüt­tern, dass Harald Kujat »ein geach­te­ter und erfolg­rei­cher Gene­ral« ist. Mit »oft­mals ein­sei­ti­gen Schuld­zu­wei­sun­gen, Unge­nau­ig­kei­ten und Falsch­in­for­ma­tio­nen zum rus­si­schen Vor­ge­hen« scha­de er sei­nem Ruf. Wer heu­te für Gesprä­che, Ver­hand­lun­gen und Waf­fen­still­stand ein­tre­te, sei ein Feind »des« Westens.

Bei­spiel 1: Hat »der Westen« im März/​April 2022 einen Frie­dens­schluss zwi­schen Russ­land und der Ukrai­ne ver­hin­dert, wie Kujat behaup­te? Quel­len, wie etwa die Zeit­schrift For­eign Affairs der ein­fluss­rei­chen US-ame­ri­ka­ni­schen Denk­fa­brik Coun­cil on For­eign Rela­ti­ons, Aus­sa­gen von Per­sön­lich­kei­ten, die in die Ver­hand­lun­gen invol­viert waren, Infor­ma­tio­nen von Diplo­ma­ten und Fach­leu­ten unter­mau­ern Kujats The­se. Natür­lich hat die dama­li­ge bri­ti­sche Regie­rung unter John­son nicht offen­ge­legt, wor­über genau gespro­chen wor­den ist, das bleibt so geheim wie die Täter­schaft des ter­ro­ri­sti­schen Nord-Stream-Anschlags.  

Bei­spiel 2: Kujat habe das Gespräch, »das hät­te span­nend wer­den kön­nen«, ver­las­sen. Der Abbruch sei ein »Eklat« gewe­sen, so Redak­teur Seli­ger. Er habe ver­hin­dert, dar­über zu reden, »wie er die Rus­sen nach der Anne­xi­on in zahl­rei­chen Talk­show-Auf­trit­ten (…) ver­tei­digt hat. Man hät­te ihn auch fra­gen kön­nen, war­um er selbst jetzt noch das Land ver­tei­digt.« Die Stra­te­gie des »Qua­li­täts­jour­na­li­sten« (Selbst­be­zeich­nung) mit Unter­stel­lun­gen zu ope­rie­ren, ist unter jedem Niveau. Nicht Sach­fra­gen ste­hen im Mit­tel­punkt, auch nicht die unter­schied­li­chen Posi­tio­nen, son­dern per­sön­li­che Vor­hal­tun­gen und Ankla­gen. Das »Gespräch« war eine Art Schell­ge­richts­ver­fah­ren, das Kujat als »schul­dig« der Koope­ra­ti­on mit dem »rus­si­schen Feind« über­füh­ren sollte.

Bei­spiel 3: In einem Inter­view mit der Welt­wo­che soll Kujat den »Ein­druck« ver­mit­telt haben, »die Ukrai­ne sei an ihrer Lage selbst schuld«. Wenn sie nur end­lich auf­ge­be, wer­de nichts Schlim­me­res dar­aus, so der »Jour­na­list« Seli­ger. Ein »Ein­druck« ist aller­dings eine Inter­pre­ta­ti­on, die rich­tig oder falsch sein kann – inso­fern ist die Äuße­rung des »Qua­li­täts­jour­na­li­sten« Rhe­to­rik des kol­por­tier­ten Verdachts.

Bei­spiel 4: Für Kujat gäbe es »offen­bar« kei­ne Bewei­se, »dass das poli­ti­sche Ziel der ›mili­tä­ri­schen Spe­zi­al­ope­ra­ti­on‹ die Erobe­rung und Beset­zung der gesam­ten Ukrai­ne« sei und Russ­land danach einen Angriff auf die Nato-Staa­ten pla­ne. Des­sen »Ver­hand­lungs­vor­schlag« für einen Frie­dens­plan nennt Seli­ger »Pam­phlet«, eine Schmäh­schrift, die angeb­lich nicht den rus­si­schen Angriff als das bezeich­ne, was er ist: Doch auch die­se Behaup­tung Selig­ers ist falsch. Gleich im ersten Satz des Ver­hand­lungs­vor­schlags von Peter Brandt, Harald Kujat, Hajo Fun­ke und Horst Telt­schik heißt es dage­gen: »Seit dem Beginn des rus­si­schen Angriffs­kriegs am 24.  Febru­ar 2022 führt die Ukrai­ne einen legi­ti­men Ver­tei­di­gungs­krieg, in dem es um ihr Über­le­ben als Staat, ihre natio­na­le Unab­hän­gig­keit und Sicher­heit geht.« 

Dass der Angriff der rus­si­schen Trup­pen sich auf Kiew rich­te­te mit dem Ziel, die Regie­rung abzu­set­zen und nicht, um »die gan­ze Ukrai­ne ein­zu­neh­men«, scheint plau­si­bel: Die Zahl von 190 000 Sol­da­ten sei deut­lich zu nied­rig, argu­men­tiert Kujat, um ein Land die­ser Grö­ßen­ord­nung zu erobern und besetzt zu hal­ten, zumal die ukrai­ni­sche Armee deut­lich stär­ker, etwa 400 000 Sol­da­ten, vom Westen seit 2014 vor­be­rei­tet wor­den war. In der DDR hielt die Sowjet­uni­on etwa 300 000 Sol­da­ten sta­tio­niert, der Ver­nich­tungs­krieg der Wehr­macht gegen das gro­ße Land wur­de mit einer 2,5 Mio.-Armee begonnen.

Bei­spiel 5: Dann greift der Redak­teur zu Mit­teln der Yel­low-Press: Die NZZ habe mit »rang­ho­hen Gene­rä­len gespro­chen«, die Kujat aus sei­ner Mili­tär­zeit ken­nen wür­den: Sie cha­rak­te­ri­sie­ren ihn als »durch­trie­ben, mit­un­ter arro­gant und rück­sichts­los«, kar­rie­re­ori­en­tiert; Gene­ral Büh­ler wird zitiert, der beim öffent­lich-recht­li­chen MDR einen Pod­cast betrei­ben darf unter dem Titel »Was tun Herr Gene­ral?« – u. a. legi­ti­miert dadurch, dass Büh­ler unter Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster Schar­ping dien­te, als Kujat Gene­ral­inspek­teur war. »Bei­de ken­nen sich«. Das soll Gewicht verleihen!

Ent­schei­dend ist die Hal­tung zu Krieg und Frie­den. »Frie­den ist der Ernst­fall«, hieß es gegen die Tra­di­tio­na­li­sten des Krie­ge­ri­schen gerich­tet, die nach Vor­stel­lun­gen des Histo­ri­kers Sön­ke Neit­zel heu­te als »Deut­sche Krie­ger« ihre Wie­der­kunft fei­ern. Harald Kujat hält an sei­ner auf Lan­des­ver­tei­di­gung ori­en­tier­ten Frie­dens­stra­te­gie fest. Weil es gute Grün­de dafür gibt, dass Frie­den nicht her­bei­ge­bombt wer­den kann, Aus­lands­ein­sät­ze in Kata­stro­phen enden. Selbst­ver­tei­di­gung muss zeit­nah zum Ende kom­men. Über Waf­fen­still­stand zu Frie­dens­ver­hand­lun­gen. Auf Wie­der­auf­bau eines Lan­des kommt es an, bei dem Frie­den ober­stes Gebot ist.

Schließ­lich lässt Seli­ger als Zeu­ge der Ankla­ge gegen Kujat den ersten bedeu­ten­den Gene­ral­inspek­teur nach der »Wen­de« 1990, den spä­te­ren Nato-Mili­tär­aus­schuss-Vor­sit­zen­den Klaus Nau­mann (vor Kujat) für sich spre­chen, einem Beken­ner zu deut­schen mili­tä­ri­schen Tugen­den im Krieg. Er bezeich­net die Bun­des­wehr als »Armee im Ein­satz« und gilt als Anhän­ger mili­tä­ri­scher Inter­ven­tio­nen. Der tra­di­tio­nel­le deut­scher Krie­ger im moder­nen Gewand kann natur­ge­mäß mit Ent­span­nung und Ernst­fall Frie­den wenig anfan­gen. Heu­te wird Kriegs­tüch­tig­keit gefor­dert, indo­pa­zi­fi­sche Manö­ver in der Nähe Hai­tis mit 400 Sol­da­ten und einer Fre­gat­te abge­hal­ten. Wehr­machts­tra­di­tio­nen revi­ta­li­siert (taz vom 8.8.24). »Ver­ant­wor­tung« in der Welt zu über­neh­men, bedeu­tet ent­spre­chend die­ser Poli­tik, Inter­ven­ti­ons­fä­hig­keit zu üben für den Tag X.

Poli­tik der Ver­ant­wor­tung defi­nier­te Hel­mut Schmidt, nach dem die Bun­des­wehr-Uni­ver­si­tät in Ham­burg benannt wur­de, anders. Den Poli­ti­kern schrieb er ins Stamm­buch: »sich mit dem kom­ple­xen Auf­ga­ben­ge­biet von Rüstung, Rüstungs­kon­trol­le, Gleich­ge­wicht und Frie­dens­si­che­rung ver­traut (zu- J. K.) machen«. »Ohne den Wil­len zum Frie­den wird kaum jemals ein Krieg ver­mie­den. Aber der gute Wil­le allein reicht nicht aus. Son­dern Sach­kennt­nis, Ver­nunft und Urteils­kraft sind uner­läss­lich, um den Frie­den zu bewah­ren« (Det­lef Bald, Poli­tik der Ver­ant­wor­tung. Das Bei­spiel Hel­mut Schmidt, 2008; hier zitiert aus dem Vor­wort von Hel­mut Schmidt). In die­ser Tra­di­ti­on sieht sich Kujat. Aber an all den Schmidt’schen Grund­sät­zen der Ver­ant­wor­tung fehlt es den mei­sten Poli­ti­kern und vor allem den Medi­en, den aus­ge­bil­de­ten oder selbst­er­nann­ten »Mili­tär­ex­per­ten«.

Der Gene­ral ist ein Mei­ster sei­nes Faches, hat Nei­der und weil das so ist, ist es für den »Qua­li­täts­jour­na­li­sten« Mar­co Seli­ger erfolg­ver­spre­chen­der, ihn per­sön­lich zu dele­gi­ti­mie­ren, anstatt zu argu­men­tie­ren. Sym­bo­lik mit ver­fäl­schen­der Rhe­to­rik zum Gebrauch wür­de­lo­ser Angriffe.