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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Deutsche Zustände. Europäische Zustände

»Russ­lands Angriffs­krieg in der Ukrai­ne hat die Lage erschwert« – so kom­men­tiert der Grü­ne Anton Hof­rei­ter das grot­ten­schlech­te Ergeb­nis sei­ner Par­tei bei den Wah­len zum EU-Par­la­ment. Man­fred Weber, CSU, for­dert die Unter­stüt­zung der demo­kra­ti­schen Mit­te; Euro­pa müs­se aus der Mit­te regiert wer­den. Nach die­sen »Ana­ly­sen« geht das Spit­zen­per­so­nal der Par­tei­en an die Arbeit, beschließt wei­te­re Auf­rü­stung, kun­gelt die Wie­der­wahl von der Ley­ens, son­diert eine mög­li­che Zusam­men­ar­beit mit den rechts­extre­men »Brü­dern Ita­li­ens« aus, schließt Kran­ken­häu­ser und straft alle mit Über­wa­chung, Ver­bot und Ver­fol­gung, die sich der Staats­rä­son und den Maß­nah­men der Macht­eli­te wider­set­zen. »Wer rechts­extrem wählt, schwächt die Demo­kra­tie«, ruft der DGB. Rich­tig, aber umge­kehrt wird auch ein Schuh dar­aus: Wer die Demo­kra­tie schwächt, stärkt Rechtsextreme.

Also, lie­be Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker, gestat­ten Sie uns, dem Volk, eini­ge Fra­gen und Anmer­kun­gen. Wir stim­men Ihnen ja zu, dass die­se Rechts­ent­wick­lung abscheu­lich und gefähr­lich ist. Aller­dings wäre eine ehr­li­che Ana­ly­se der Ursa­chen des rech­ten Auf­mar­sches hilf­reich. Er kommt näm­lich nicht über uns wie ein Gewit­ter. Schon vor vie­len Jah­ren gab es gründ­li­che Unter­su­chun­gen zu sei­nen Hin­ter­grün­den und War­nun­gen vor den Fol­gen. Erin­nern Sie sich an die Lang­zeit­stu­die »Grup­pen­be­zo­ge­ne Men­schen­feind­lich­keit«, deren Ergeb­nis­se von 2002 bis Ende 2011 in zehn Bän­den unter dem Titel »Deut­sche Zustän­de« ver­öf­fent­licht wur­den? Über einen Zeit­raum von eben zehn Jah­ren wur­den Tau­sen­de von Men­schen befragt und Stu­di­en­lei­ter Wil­helm Heit­mey­er fass­te die wich­tig­sten Ein­sich­ten zusam­men. Er kon­sta­tier­te eine »Demo­kra­tie­ent­lee­rung«, die mit Ver­trau­ens­ver­lust und einem Gefühl der Macht­lo­sig­keit ein­her­geht: »Warn­si­gna­le, da die Anfäl­lig­keit für rechts­po­pu­li­sti­sche Mobi­li­sie­run­gen auf­fäl­lig ist.«

Schau­en wir wei­ter auf die Ergeb­nis­se von Umfra­gen, die eben­falls schon Anfang der 2010er Jah­re durch­ge­führt wur­den. So deck­te ein Report der Fried­rich-Ebert-Stif­tung 2011 eine tie­fe Kluft auf zwi­schen dem Wesen der Demo­kra­tie und dem Aus­maß sei­ner Umset­zung. Sozia­le Gerech­tig­keit gehört für 67 Pro­zent der Men­schen dazu; dass sie ver­wirk­licht sei, den­ken aber nur 12 Pro­zent. Ähn­lich schief ist die Rela­ti­on auch bei den Merk­ma­len »glei­che Lebens­chan­cen«: 54 zu 9 Pro­zent. Und »Ori­en­tie­rung der Poli­tik an den Wün­schen der Bür­ger«: 53 zu 7 Pro­zent. Die Bür­ger müs­sen so infor­miert wer­den, dass sie sich betei­li­gen kön­nen, sagen 46 Pro­zent; umge­setzt sieht das aber nicht ein­mal jeder Zehn­te. Je ärmer die Leu­te sind, desto häu­fi­ger bekla­gen sie, dass die Demo­kra­tie nicht funk­tio­niert: 70 Pro­zent! Und sie haben Recht. Die ärme­re Hälf­te der Bevöl­ke­rung hat kei­nen Ein­fluss auf poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen, bele­gen Untersuchungen.

Las­sen wir den Stem­pel »rechts/​links« bei­sei­te. Hal­ten wir fest, dass vie­le Men­schen Erfah­run­gen gemacht haben, die sie als tie­fe Kluft zwi­schen den gefei­er­ten Wer­ten der Demo­kra­tie und ihrer Umset­zung in der Rea­li­tät emp­fin­den. Das schafft nicht nur Ver­trau­ens­ver­lust; vie­le füh­len sich als Stimm­vieh miss­braucht, ver­wert­bar als Arbeits­kraft und Ver­brau­cher ohne rea­len Ein­fluss. Unan­tast­ba­re Men­schen­wür­de? Hören wir noch ein­mal, was Heit­mey­er dazu geschrie­ben hat: Wir soll­ten »der rohen Bür­ger­lich­keit (…) unse­re Auf­merk­sam­keit wid­men, einer Bür­ger­lich­keit, die sich bei der Beur­tei­lung sozia­ler Grup­pen an den Maß­stä­ben der kapi­ta­li­sti­schen Nütz­lich­keit, der Ver­wert­bar­keit und Effi­zi­enz ori­en­tiert und somit die Gleich­wer­tig­keit von Men­schen sowie ihre psy­chi­sche und phy­si­sche Inte­gri­tät antast­bar macht und zugleich einen Klas­sen­kampf von oben insze­niert.« Zeit, hin­zu­hö­ren, lie­be Politiker!

Sie, die Sie die Regie­rungs­ko­ali­tio­nen der letz­ten drei­ßig Jah­re gestellt haben, bekämp­fen »Rechts« und »Links« und tum­meln sich in der »Mit­te«. Wes­sen Inter­es­sen ver­tre­ten Sie da? Könn­te es sein, dass Sie den Kon­takt zur Mehr­heit ver­lo­ren haben, die Sie dafür ange­stellt hat, ihre Inter­es­sen und Bedürf­nis­se zu ver­tre­ten? Die mei­sten Men­schen wol­len Frie­den, sozia­le Sicher­heit und einen beschei­de­nen Wohl­stand. Sie wol­len als Mensch aner­kannt sein und sich nicht ohn­mäch­tig den ego­isti­schen, mora­lisch ver­bräm­ten Bestre­bun­gen von rei­chen Heuch­lern aus­ge­setzt füh­len. Heit­mey­er beschreibt die Men­ta­li­tät einer Eli­te, die von der grund­ge­setz­li­chen Maxi­me »Eigen­tum ver­pflich­tet« nichts wis­sen will, sich aus der Soli­dar­ge­mein­schaft zurück­zieht und ver­sucht, eige­ne Zie­le mit rabia­ten Mit­teln durchzusetzen.

Aber die Rechts­ent­wick­lung trifft ja nicht nur Deutsch­land, son­dern ganz Euro­pa – Frank­reich, Ita­li­en, Öster­reich, die Nie­der­lan­de und so wei­ter; Nazis an der Macht, oder doch kurz davor! Ja, der beschrie­be­ne Pro­zess von Ver­wert­bar­keit, Ent­so­li­da­ri­sie­rung und Demo­kra­tie­ent­lee­rung gras­siert in den mei­sten Staa­ten und er hat auch einen Namen: neo­li­be­ral radi­ka­li­sier­ter Kapi­ta­lis­mus. Die Lage ist durch die Krie­ge noch gefähr­li­cher gewor­den. Aber auch hier­bei schei­nen Sie, lie­be Poli­ti­ker, eine sehr selek­ti­ve Wahr­neh­mung zu pfle­gen und uns dabei eine retro­gra­de Amne­sie auf­zu­zwin­gen. Woll­ten etwa wir, das Volk, die Krie­ge in Afgha­ni­stan, Irak, Liby­en, Syri­en? Ist unse­re Mei­nung gefragt, ob wir die US-Poli­tik der Welt­herr­schaft unter­stüt­zen wol­len? Konn­ten wir über die Nato-Ost­erwei­te­rung befin­den oder der­zeit über die deut­schen Kriegs­schif­fe im Süd­chi­ne­si­schen Meer? Nein. Die Leu­te haben es in Umfra­gen immer wie­der deut­lich gesagt: Kei­ne Bun­des­wehr im Aus­land, kei­ne Waf­fen­lie­fe­run­gen für noch mehr Krieg, ver­han­delt end­lich! Im Deutsch­land­trend Juli 2023 for­der­ten gera­de mal 14 Pro­zent der Befrag­ten mehr Waf­fen für die Ukrai­ne. Als wich­tig­ste Auf­ga­be des Staa­tes nann­ten sie statt­des­sen sozia­le Gerech­tig­keit. Wer will denn deut­sche Kriegs­be­tei­li­gung, wer will Mos­kau mit deut­schen Rake­ten beschie­ßen – außer Kie­se­wet­ter, Strack-Zim­mer­mann, Hof­rei­ter, Habeck und Co.?

Die impe­ria­len Ambi­tio­nen stüt­zen sich nicht auf Mehr­hei­ten. In Ver­bin­dung mit der erleb­ten Ver­ach­tung für die Bedürf­nis­se der Bevöl­ke­rung begün­sti­gen sie rech­te Par­tei­en und Grup­pie­run­gen. Und wenn wir »rechts« cha­rak­te­ri­sie­ren als Ten­denz, die Gleich­wer­tig­keit von Men­schen zu bestrei­ten, Sozi­al­dar­wi­nis­mus statt Soli­da­ri­tät zu stär­ken und natio­na­le Füh­rung anzu­stre­ben, dann ist die in Deutsch­land vor­herr­schen­de Poli­tik rechts, obwohl alle Regie­rungs­par­tei­en behaup­ten, die Mit­te zu sein. Der Neo­li­be­ra­lis­mus ist demo­kra­tie- und men­schen­feind­lich – übri­gens auch gegen­über dem kriegs­zer­stör­ten Land Ukrai­ne: Der US-ame­ri­ka­ni­sche Jour­na­list Ben Nor­ton berich­te­te schon Mit­te 2022, dass der Westen die Nach­kriegs-Ukrai­ne mit neo­li­be­ra­ler Schock­the­ra­pie aus­zu­plün­dern will. »West­li­che Regie­run­gen und Unter­neh­men tra­fen sich in der Schweiz, um eine har­te neo­li­be­ra­le Wirt­schafts­po­li­tik zu pla­nen, die der Nach­kriegs-Ukrai­ne auf­ge­zwun­gen wer­den soll. Sie for­der­ten, die Arbeits­ge­set­ze zu kür­zen, Märk­te zu öff­nen, Zöl­le zu sen­ken, Indu­strien zu dere­gu­lie­ren und staat­li­che Unter­neh­men an pri­va­te Inve­sto­ren zu ver­kau­fen.« In unse­rem Namen?

Wider­stand gegen die­se Poli­tik, die die mensch­li­chen Bedürf­nis­se nicht nur igno­riert, son­dern desta­bi­li­siert und per­ver­tiert, ist nur von links zu erwar­ten, nicht von der Mit­te. Die­se Mit­te, der Staat und sei­ne Insti­tu­tio­nen, ist schnell bei der Hand, jede Kri­tik zu can­celn, Grund­rech­te ein­zu­schrän­ken, lin­ke Publi­ka­tio­nen zu ver­bie­ten oder als ver­fas­sungs­wid­rig zu brand­mar­ken. Und wäh­rend Hun­dert­tau­sen­de gegen rech­te »Remigrations«-Gelüste unter gro­ßem Bei­fall der Poli­tik auf die Stra­ße gin­gen, beschloss das Par­la­ment ein »Rück­füh­rungs­ver­bes­se­rungs­ge­setz«.

Sie, lie­be Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker, betrei­ben selbst die »ver­fas­sungs­schutz­re­le­van­te Dele­gi­ti­ma­ti­on des Staa­tes«, die der Ver­fas­sungs­schutz ver­folgt. Die Wucht eines Klas­sen­kamp­fes von oben, den die Eli­ten insze­nie­ren, die sozia­le Käl­te und die Abwer­tung schwa­cher Grup­pen zei­gen nach Heit­mey­er, dass »eine gewalt­för­mi­ge Des­in­te­gra­ti­on auch in die­ser Gesell­schaft nicht unwahr­schein­lich ist.« Es ist höch­ste Zeit, gegen Ver­ro­hung durch Kriegs­tüch­tig­keit und gegen die Zer­set­zung der gesell­schaft­li­chen Soli­da­ri­tät mit Auf­klä­rung und men­schen­freund­li­chen Aktio­nen Wider­stand zu leisten.

Ausgabe 15.16/2024