Mit Armut Geschlagene hat »das Schicksal« hart getroffen. Schlimmer als dieses Elend ist jedoch die Gefahr, die der Bürgergesellschaft daraus erstehen könnte, dass sich die Armen einen extremistischen Reim darauf machen. Und es gibt ja auch die statistische Korrelation zwischen prekärer Existenz und Stimmengewinnen für zur Wahl stehende Faschismusverdächtige. Allerdings ist dieses In-Beziehung-Setzen alles andere als die Angabe eines Grundes für extremes Wählerverhalten, so wenig wie eine hohe Storchpopulation auf dem Land die Ursache für dort im Vergleich zu Städten mehr Neugeborene ist. Aus Wahlerfolgen von Rechtsauslegern schließen Linke (z. B. BSW), dass sie vom Gegner lernen können, indem sie dessen »Volksnähe« kopieren und möglichst übertreffen. Einig sind sich jedoch alle Kontrahenten darin, dass Armut auf gar keinen Fall zu einem Spaltpilz des gesellschaftlichen Zusammenhangs mutieren darf. Armut ist kein Freibrief dafür, auf dumme Gedanken zu kommen, entsprechend fallen die Brandmauerreden der Politik und Appelle der »Omas gegen rechts« aus.
Wenn nicht aus ihrer Armut, woraus ergeben sich Schwenks armer Wähler nach rechts denn dann? Ihr Entschluss, nun eben wirklich durchgreifende Führungsfiguren zu wählen, folgt einem schon zuvor eingenommenen Standpunkt: Wie moderate bzw. bessergestellte Wähler auch setzen sie ihr Wohl mit dem Erfolg der Nation in eins und führen dessen Ungenügen auf die Windelweichheit Regierender und die Unterwanderung durch schädliche Subjekte zurück. Parteinahme für »unsere Stärke«, einen Nationalismus bei Arm und Reich schätzt ein demokratischer Staat; zu dem erzieht er, und den setzt er so wehrhaft ein, dass AfD-Desiderata von Rot-Grün-Gelb-Schwarz kompetent angepackt werden und sich schon die Frage stellt, wofür es die AfD (deren von Storch nicht einmal die Kinder bringt) überhaupt braucht.
Das sieht aber nicht jeder so. Rechte und Linke meinen zu wissen, was der per Staatsangehörigkeit hergestellten Volkseinheit eigentlich gerecht würde. Ihnen ist ein Gräuel, wie sich die nationale Demokratie mit dem Gebrauch von ihr eingerichteter inter- und supranationaler Bündnis- und Vereinbarungsorgane gegen zumindest zeitweilig anerkannte sowie feindliche Staaten durchsetzt. Solche Umständlichkeit gegenwärtiger Regierungsart ist nach Auffassung der auf den Populus wirklich Hörenden, die das von Demokraten als Entlarvung gemeinte Etikett »Populisten« als Ehrentitel verstehen, dem Volk nicht zuzumuten; die »Souveränisten« prangern Führungsschwäche des Politpersonals an, die einen skandalösen Abgrund an Landesverrat ergibt. Dieser ist Anlass für gerechte Empörung. Sie hebt sich, anders als von Stéphane Hessel gemeint, »erfrischend ehrlich« ab vom »Salbadern« und der »Sprachdiktatur« der das Volk desorientierenden Schmarotzer in Amt und Würden; sie bedient mit demonstrativer Missachtung parlamentarischer Etikette jene, die »klare Kante« schätzen: »Endlich sagt’s mal einer.«
Nochmals: Ist Armut per se nun eine Disposition für extremistisches/totalitaristisches Wählen? Der schon erwähnte, dem Trend zum Rechtswählen vorausgesetzte Nationalismus unter Armen fiel jedenfalls genauso wenig vom Himmel wie deren frühere Anfälligkeit für bolschewistische Anwandlungen. Er verdankt sich einer über mehr als ein Jahrhundert mit sozialdemokratischer Politik erfolgreich vollzogenen Integration des vormaligen Proletariats in eine Gemeinschaft grundgesetzlich Gleichberechtigter: als »Gesellschaftssäule«, in der konkrete Schädigungen zwar nach wie vor notwendig anfallen, aber mit Gleichstellung und Respekt ein für alle Mal abgegolten sind.
Wie andere Parteien auch vertritt die SPD keine »zu kurz Gekommenen« mehr. Diese behandelt sie stattdessen nach einer Bekehrung zur FDP-Position nun als »Minderleister«, denen Beine zu machen das Volk ihr zu Recht abverlangt. Ihre so inspirierte Sozialpolitik versteht sie dabei beileibe nicht als praktizierten Populismus, denn definitionsgemäß droht dieser von überall her, nur nicht von ihr. Nun haben sich dank ihrer Anleitung ihre vormaligen Adressaten im »Naturzustand«, berechtigte Schmiede ihres Glücks zu sein, eingerichtet; nun widmen sie sich engagiert, enttäuscht und empört ihrer Suche nach möglichst starker eigener Herrschaft, die sie in ihren Verhältnissen schützt – gegen innere und äußere (auch der SPD bekannten) Feinde nationalen gleich eigenen Wohls. Gegen »Rattenfänger« fällt den Parteien der Mitte zum einen die Beteuerung ein, auch für sie stehe ein »gesundes Nationalbewusstsein« außer Frage. Und zum anderen der Verdacht, das Volk in seiner grundsätzlichen Verführbarkeit schicke sich wieder einmal an, es mit dem grundsätzlich Guten zu übertreiben. Nachdem man sich seine Feinde ja frei, gleich und geheim aussuchen kann, ist es da solch ein Rätsel, wenn der demokratische Nationalismus seine Wahlkreuze noch populistischer variiert? Gegen »falsche Quittungen« aktualisiert die Regierung ständig echte Belege ihrer Tatkraft: »Wir machen mehr von dem, was ihr wollt.« Das sollte ein einsichtiges Volk doch auch mit Stimmen honorieren können.
Oder müsste sich die Regierung etwa ein anderes wählen? Das kann niemand wollen; wo fänden wir dann Heimat und Identität? Schlimmstenfalls gar im Wüstensand? Der ist für all die eine Alternative, die da hingehören; Deutschland kümmert sich rührig um die Rückführung derer, die in ihrer Hybris ihre Bestimmung zu Kameltreibern leugnen. Für eine erfolgreiche Verteidigung des »Abendlands« gegen fremde Unnütze benötigt das Migrationsmanagement der politischen Mitte rassistische Formulierungen nicht; auch ohne diese bietet der Bau der Festung Europa prophylaktisch-faktische Gewähr und erfüllt so auch populistische Wünsche. Dies aber – Stilfragen sind wichtig! – nüchtern, ohne Geifern und mit dem der Herausforderung entsprechenden Augenmaß. Das ist dann sicher nicht zu viel des Guten.