»Goethe hatte Hämorrhoiden.« Welch ein Romananfang. Es ist der Auftakt des neuen Buchs »Rauch und Schall« des Schweizer Drehbuchautors und Schriftstellers Charles Lewinsky. Der Dichterfürst ist auf der Rückkehr von einem längeren Aufenthalt in der Schweiz. Die tagelange Kutschfahrt auf den holprigen Wegen verstärkt noch seine Sitzbeschwerden und die blutige Pein.
In Weimar angekommen, muss Goethe erst einmal die eigenen Glieder neu ordnen. Aber noch viel mehr drückt ihn ein Termin, den er seit Wochen vernachlässigt, ja, einfach vergessen hat. Der Herzog hatte sich von ihm ein Festgedicht zum bevorstehenden Geburtstag der Herzogin erbeten, nein, bestellt. Der Geburtstag soll ein höfisches Ereignis werden, auf das der Herzog besonderen Wert legt. Goethes Lieferfrist endet in vier Tagen, doch bisher hat er noch keinen Gedanken daran verschwendet, geschweige denn eine Zeile zu Papier gebracht.
Da bleibt bei aller Reisemüdigkeit wohl nichts anderes übrig, als die verbliebenen Nächte zu arbeitssamen Tagen am Stehpult zu machen. Wohlklingende Verse sollen es sein. Mehr nicht. Solche Geburtstagsverse hat Goethe schon ein Dutzend Mal verfasst – ohne jede Anstrengung. Aber jetzt will ihm partout nichts einfallen. Panische Angst überfällt ihn. Würde der enttäuschte Herzog ihm vielleicht seine Gunst entziehen?
Da ist guter Rat oder Hilfe nötig … und die kommt ausgerechnet von Christian August Vulpius, dem Bruder seiner geliebten und treusorgenden Christiane. Für Goethe ist er zwar ein tüchtiger Bibliotheksregistrator, aber sonst ein Vielschreiber, zu wahrer Kunst nicht berufen. Doch die besorgte Christiane spielt die Vermittlerin zwischen zukünftigem Gatten und Bruder. Aber Goethe wehrt sich dagegen, mit diesem Dilettanten zusammenzuarbeiten. Ihm missfällt auch der Rollentausch, in dem er vom sonstigen Wohltäter plötzlich zum Bittsteller wird. Das geht auf keinen Fall, nein! … absolut nicht …. oder doch? In der Not muss er in den sauren Apfel beißen, denn die Musen haben ihn verlassen.
Vulpius liefert die Verse, die Orpheus nicht gerade neidisch machen würden, aber der Herzog wird damit sicher zufrieden sein. Außerdem überredet er Goethe, zur Beseitigung seiner Schreibblockade eine Räuberpistole mit Pulverdampf, Säbel und einer keuschen Jungfrau zu verfassen. So etwas würde sich leicht schreiben. Über diese seltsame Kur ist Goethe zunächst entsetzt, doch überraschend schnell fliegen ihm die Verse nur so zu, über die ganz Weimar allerdings denken wird, der Herr Geheimrat sei schon mitten am Tag betrunken gewesen. Und zu allem Unglück landet das Manuskript über den italienischen Räuberhauptmann Rinaldo Rinaldini, auf welchem Weg auch immer, noch bei einem Verleger und wird zu einem Erfolg: »Seit dem Werther war so eine Sensation nicht mehr da.«
Dem Ende soll nicht vorgegriffen werden. Nach 300 Seiten ist der Dichterfürst jedenfalls so glücklich wie schon lange nicht mehr. Und auch seine Hämorrhoiden sind kaum noch spürbar. Unterhaltsam und humorvoll berichtet Lewinsky in der fiktiven Geschichte von der Schreibblockade des Geheimrates. Außerdem gibt er einen amüsanten Einblick in die Weimarer Gesellschaft.
Goethe-Kenner wissen natürlich, dass Vulpius der eigentliche Autor der Räuberkomödie war, die damals schnell ein Bestseller wurde, was Goethe regelrecht eifersüchtig machte. Trotzdem eine köstliche Satire um die beiden unterschiedlichen Schriftsteller-Charaktere und ein vergnüglicher Lesespaß.
Charles Lewinsky: Rauch und Schall, Diogenes Verlag, Zürich 2023. 304 S., 25 €.