Eigentlich meinte ich, über meinen Freund Otto Köhler aus verschiedenen Anlässen schon alles Wesentliche geschrieben zu haben, zuletzt in Ossietzky 7/2021 (»Aus den Schwarzen Bergen«). Nun aber hat mich die Redaktion um ein »Ständchen« für den Journalisten, Publizisten und Mit-Herausgeber gebeten, um ihn aus besonderem Anlass zu ehren: Am 10. Januar, einen Tag vor dem Erscheinen dieses Heftes, wurde Otto Köhler 90 Jahre alt.
Für alle Leserinnen und Leser, die ihn nicht kennen, stellt sich vielleicht die Frage: Wer ist Otto Köhler? Die Antwort hat er, auf die griechische Mythologie und Homers Ilias zurückgreifend, vor genau zehn Jahren, am 10. Januar 2015, unübertrefflich selbst gegeben, im Eröffnungsvortrag zu der von der Tageszeitung junge Welt in Berlin veranstalteten XX. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz:
Ja, ich bin es, Thersites – Schmäher aller Kriege,
ihrer Feldherrn, ihrer Propagandisten und ihrer Professoren.
Schmähen, das ist es. Es scheint, als wäre er als ein zum Schmähen Bestellter hervorgetreten aus dem Mief des von Adenauer geprägten CDU-Staats der 1960er Jahre mit seinen verkrusteten gesellschaftlichen Verhältnissen. Heute, im Rückblick, lässt sich von Otto Köhler sagen, dass er in den sechs Jahrzehnten journalistischer und publizistischer Tätigkeit zu einem der kritischsten Chronisten der Bundesrepublik Deutschland geworden ist, zu einem tadelnden Tabubrecher, zu einem polemischen Provokateur, zum Mitstreiter all jener, die wie er sich von der Devise leiten lassen, die über seinem Vortrag in Berlin stand: Mit uns könnt ihr nicht rechnen.
Thersites. Auch Goethe hat ihn kurz im Faust (Zweiter Teil) auftreten lassen, die Siegesgöttin Viktoria schmähend, weil es dieser, wo immer sie sich hinwende, dünke, ihr gehöre stets alles Volk und Land. Goethes Thersites schilt die Gottheit mit Worten, wie sie auch Otto Köhler hätte wählen können:
Doch, wo was Rühmliches gelingt, / Es mich sogleich in Harnisch bringt. / Das Tiefe hoch, das Hohe tief, / Das Schiefe grad, das Grade schief, / Das ganz allein macht mich gesund, / So will ich’s auf dem Erdenrund.
»Lumpenhund«, nennt ihn daraufhin der Herold und stößt ihn mit seinem Stab zu Boden, so wie Odysseus in der Ilias den aufmüpfigen Thersites mit seinem Zepter niederschlägt. Der einfache Soldat hatte eine Schmährede gegen den Trojanischen Krieg und gegen Agamemnon gehalten, in der er suggerierte, der Anführer der Griechen und Herrscher von Mykene setze den Krieg nur aus Selbstsucht und Beutegier fort. Und Thersites hatte versucht, das Heer zur Verweigerung des Gehorsams und zur Heimfahrt aufzustacheln.
Schmähen um aufzuklären; Götzen welcher Art und Provenienz auch immer vom Sockel zu stoßen, ihre Morschheit, ihre Hohlheit vorzuführen, sie in ihren Schafspelzen zu entlarven; aufzuzeigen, dass sie eigentlich »nackt« sind wie der Kaiser im Märchen von Christian Andersen, und dass sie zur Verstellung Kreide fressen wie der nach Geißlein gierende Wolf der Brüder Grimm: Solche Unbotmäßigkeiten, solche Regelverletzungen pflasterten von Anbeginn an und die Jahrzehnte hindurch den Weg des Journalisten und Schriftstellers Otto Köhler. Es scheint, als habe er den »aufrechten Gang«, von dem der Philosoph Ernst Bloch schrieb, gar nicht erst lernen müssen.
Otto Köhler wurde in Schweinfurt geboren, in einem Elternhaus, das er selbst einmal als »unpolitisch« bezeichnete. Gegen Ende des Krieges, als Zehnjähriger, war er ein junger, naiv-gläubiger Hitlerjunge. Seinen Vater beschrieb er als «Feuerwehrmann und vom Fronteinsatz freigestellt, katholisch, Mitglied in einem Sängerverein. Kein Nazi, aber auch kein Antinazi«. (Anm. K.N.: Die Eigenzitate Otto Köhlers stammen aus dem nachlesenswerten Interview mit dem Journalisten Stefan Huth, veröffentlicht am 10. Januar 2015 in der Wochenendbeilage der jungen Welt.) Köhler besuchte das Progymnasium im fränkischen Hammelburg, die letzten beiden Jahre bis zum Abitur dann das Gymnasium in Schweinfurt. »Da wurde man doch mit anderen Dingen konfrontiert, mit der weiten Welt, mit der US-Literatur, aber auch mit Sartre, der mich sehr beeinflusst hat.«
Es folgte von 1953 bis 1963 das Studium der Philosophie, Germanistik, Geschichte und Volkswirtschaftslehre in Würzburg und an der FU in West-Berlin, »wo selbst auf den Blättern des Klopapiers stand, dass es sich um die ›Freie Universität‹ handelte«. Jetzt bestimmte das universitäre Sein das Bewusstsein des Kommilitonen Köhler. Er engagierte sich beim Sozialistischen Deutschen Studentenbund, protestierte gegen »faschistische Veteranentreffen« und »Politprominenz brauner Herkunft«.
Als 1955 in Würzburg im Studentenhaus ein Fallschirmjägertreffen stattfand, an dem ein in Frankreich wegen Kriegsverbrechens beim Kampf um die Atlantikfestung Brest verurteilter und inzwischen aus der Haft entlassener überzeugter Nationalsozialist und General der Fallschirmtruppe der Wehrmacht teilnahm, hängte der zwanzigjährige Student Köhler das Gedicht »Wenn wir den Krieg gewonnen hätten« von Erich Kästner in den studentischen Schaukasten – »der Chef des Studentenwerkes, ein CSU-Mann, hat das dann schnell entfernt« – und schrieb eine Reportage über das Treffen für Die Andere Zeitung: »Das war die sozialistische Zeitung der frühen Bundesrepublik – und der Beginn meiner journalistischen Laufbahn.«
Der weitere Werdegang, im Zeitraffer: Mitarbeiter der in der Anfangszeit vor allem im studentischen Milieu verbreiteten linkssozialistischen Zeitschrift konkret unter Chefredakteur Klaus-Rainer Röhl. Gelegentlicher Mitarbeiter der eher antikommunistisch ausgerichteten und – wie Jahre später offenbar wurde – von der CIA alimentierten internationalen Zeitschrift Monat unter Chefredakteur Fritz René Allemann. Frühe Karriere vom Redakteur der literarisch-satirischen Zeitschrift Pardon zum Medien-Kolumnisten beim Spiegel – bis zur Kündigung durch Augstein, der ihn 1966 zum Spiegel geholt hatte, ihn dann aber 1972 im Streit um ein redaktionelles Mitbestimmungsstatut vor die Tür setzte. Redakteur bei konkret; später dann Mitarbeiter von WDR und Deutschlandfunk sowie diverser Zeitungen und Zeitschriften. Unter anderem veröffentlichte er im Stern, der Zeit, der Gewerkschaftszeitung Metall, den Tageszeitungen junge Welt und nd sowie in der Wochenzeitung Freitag – und schließlich in Ossietzky, der 1997 von Eckart Spoo, seinem Freund und Journalisten-Bruder von gleichem Geiste, begründeten Zweiwochenschrift.
Otto Köhler ist Mitglied des PEN, auf dessen Jahresversammlungen er schon so manches Mal für Turbulenzen sorgte, wenn er Themen anschnitt oder per Antrag zur Abstimmung stellte, die der Vorstand lieber nicht angeschnitten hätte. Köhler hat sich jedoch nicht nur als Journalist einen Namen gemacht, sondern auch als Publizist. Ehren und würdigen wir ihn daher, indem wir einige seiner Bücher mal wieder zur Hand nehmen oder sie uns ins Gedächtnis rufen. Allein schon die Titel signalisieren ein ums andere Mal: Hier schreibt jemand, der wider den Stachel löckt, der sich dem Mainstream widersetzt, mit intellektueller Kreativität, gewürzt mit einer guten Portion Respektlosigkeit und einer Ironie, die ihre Schärfe nicht verbirgt.
Ich nehme aus dem Bücherregal:
»…und heute die ganze Welt« (1986): Für eine erste umfangreiche Arbeit über die IG Farben, erschienen in konkret unter dem Titel »Eine bürgerliche Vereinigung«, erhielt Köhler 1983 den Deutschen Journalistenpreis der Industriegewerkschaft Druck und Papier. In der Buchausgabe beschreibt er auf 350 Seiten die Geschichte der Interessengemeinschaft Farben, »ohne die Deutschland den Ersten Weltkrieg aus Munitionsnot nach einem halben Jahr hätte beenden müssen. Und das Dritte Reich wäre vielleicht nie gegründet worden«. Köhler: »Am furchtbarsten Ort der Weltgeschichte entstand aus dem Pakt zwischen Hitler und der IG die Interessengemeinschaft Auschwitz. Damit schien 1945 das Ende der IG gekommen. Doch deren Väter BAYER, BASF und HOECHST sind heute ihre Söhne. Jeder für sich größer und mächtiger als einst die ganze IG zusammen.«
»Wir Schreibtischtäter« (1989): »Was ist, so fragte Thomas Mann 1945, mit den Journalisten der Nazi-Presse, den Zeitschriften-Herausgebern, die zwölf Jahre lang das Volk mit den verderblichen geistigen Drogen fütterten und verdarben?« Otto Köhlers Antwort ist »differenziert, aber schonungslos«. Er beschreibt die erstaunlichen Karrieren und Camouflagen von mehr als einem Dutzend unter Hitler tätigen Journalisten in der Bundesrepublik. Die meisten sind heute in Vergessenheit geraten, erinnerlich sind vielleicht noch die Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann aus Allensbach am Bodensee, Beraterin von Adenauer und Kohl und Trägerin des Großen Bundesverdienstkreuzes, oder Werner Höfer, bekannt geworden als Moderator des Internationalen Frühschoppens, der zwischen Januar 1952 und Dezember 1987 insgesamt 1874mal ausgestrahlt wurde, und natürlich: Kurt Georg Kiesinger, der »wissenschaftliche Hilfsarbeiter der NS-Propaganda« und von 1966 bis 1969 dritter Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Das letzte Kapitel des Buches trägt die bezeichnende Überschrift: Ja, ich bin es, Thersites! Unverschämter Geist des Widerspruchs und der Verneinung.
»Rudolf Augstein« (2002): Im Juni 2002 erschien in der Literarischen Welt des Axel-Springer-Verlags eine Buchrezension von Ulrich Clauß über einen »ganz linken Gottesmord«. Die sechsspaltige, blattbreite Unterzeile lautete (Fettdruck des Namens so auch im Original): Was wolltest du mit dem Dolche, sprich? Den »Spiegel« von Augstein befrein. Dann musst du Otto Köhler sein! Köhler hatte mit seiner politischen Biografie über »ein Leben für Deutschland« die, wie es im Klappentext heißt, »helle und die dunkle Seite des Aufklärers Augstein sichtbar gemacht, der zugleich ein ›großdeutscher‹ Nationalist war«. Zur »dunklen Seite« der Macht des Verlegers zählt Köhler, dass Augstein »zwei bewährte NS-Propagandisten (…) zu Ressortleitern machte«. Ebenso gehören der Gestapo-Chef Rudolf Diels und Bernhard Wehner, ein enger Mitarbeiter des Chefs der Kriminalpolizei während der Nazi-Zeit, dazu. Ihnen habe Augstein in seinem Nachrichtenmagazin »ein Forum geboten, so dass sie ihre eigenen Taten historisch rechtfertigen konnten.« Köhlers ehemaliger Spiegel-Kollege Hermann Schreiber verurteilte das Buch als «Pamphlet«, und der schon erwähnte Ulrich Clauß hielt die Biografie für »einen ideologischen Selbst-Entlausungsversuch« Köhlers.
»Die große Enteignung« (1994 / erweitere Ausgabe 2011): Es ist Köhlers letztes Buch. Der Untertitel sagt alles über den Inhalt: »Wie die Treuhand eine Volkswirtschaft liquidierte«. Einen Tag nach dem Mauerfall legten, so steht es in dem Buch, zwei Männer dem Bundesfinanzminister einen Plan vor, wie diese historische Stunde genutzt werden könnte. Ihre Namen: Horst Köhler, der spätere Bundespräsident, und Thilo Sarrazin, das später rechtsdrehende Enfant terrible mit SPD-Parteibuch. Gegenstand des Plans dieser beiden »Schreibtischtäter aus dem Bundesfinanzministerium« (Köhler): die schnelle Wirtschafts- und Währungsunion. Die Treuhand nahm ihre Tätigkeit auf, schätzte das Vermögen der DDR auf 600 Milliarden D-Mark. Otto Köhler: »Nach fünf Jahren waren daraus 275 Milliarden D-Mark Schulden geworden, ganz zu schweigen vom Verlust von 2,5 Millionen Arbeitsplätzen.«
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Mein Streifzug durch das berufliche Leben Otto Köhlers soll hier enden. Eines jedoch muss ich noch einfügen, was ich schon ausführlich in meinem erwähnten Ossietzky-Text aus dem Jahr 2021 beschrieben habe: Wer über Otto Köhler schreibt, kommt an Monika Köhler nicht vorbei. Und umgekehrt. Nichts ging in all den Jahren ohne Monika, die an der Seite ihres Mannes journalistisch arbeitete, und dies von Anfang an. Gemeinsam recherchierten sie viele brisante Themen. Daher steht in den hier vorgestellten Büchern nach Autor und Buchtitel zu Recht: »Unter redaktioneller Mitarbeit von Monika Köhler« oder: »Für Monika. Sie half.«
Hilfe braucht Otto auch jetzt, wo er nur noch selten journalistisch arbeitet, dafür aber mit der einen oder anderen Widrigkeit fertig werden muss, die 90 Jahre dem Menschen auf den Buckel laden. Er ist nun einmal nicht mehr der Jüngste, auch wenn er das nicht so richtig wahrhaben möchte. Das Alter fordert seinen Tribut, auch von dem, der »alt wie ein Baum« werden möchte.
Apropos Baum. Stellen wir uns vor, es ist Abend, die Dämmerung sinkt herab. Otto, der sich in all den Jahrzehnten nie hat verbiegen lassen, tritt hinaus ins Dämmerlicht des das Haus umschließenden mystisch-verwucherten Gartens. Er geht einige Schritte bis zu seinem geliebten Essigbaum, den Monika und er vor über 40 Jahren gepflanzt haben, kurz nachdem sie das Haus bezogen hatten. Auch der Baum ist alt geworden, silbriges Moos bedeckt den Stamm und die von Stehhilfen gestützten brüchigen Zweige. Und wenn Otto dann wie gedankenverloren bei ihm steht, kann es manchmal so aussehen, als lege der Baum einen Ast auf seine Schulter. Vielleicht flüstern die beiden sich etwas zu? Vielleicht halten sie ein Zwiegespräch? »Na, alter Freund, wir schaffen doch noch einen Winter? Lass uns doch einfach so weitermachen, Jahr um Jahr …«
Autor, Verlag, Herausgeber und Redaktion gratulieren Otto Köhler zum 90. Geburtstag.