Seit dem 7. Oktober 2023 gewähren Deutschland, die EU und die USA einem ihrer engsten Verbündeten politischen Schutz und materielle Unterstützung. Sie begründen dies mit dessen Recht auf Selbstverteidigung. Dabei übersehen sie aber keineswegs nur, dass der Verbündete völkerrechtlich als Besatzungsmacht agiert und sich aus verschiedenen Gründen nicht ohne Weiteres auf Artikel 51 der UNO-Charta berufen kann. Der entscheidende Punkt ist ein anderer.
Es ist nämlich unter keinen Umständen erlaubt – weder als Vergeltung für Gräueltaten noch zum Zwecke legitimer Selbstverteidigung – eine Zivilbevölkerung auszuhungern, zu vertreiben oder sie unerträglichen Lebensbedingungen auszusetzen. Diese und andere völkerstrafrechtliche Kernverbrechen nie wieder zuzulassen war ja gerade der Sinn der gesamten Fortentwicklung des Völkerrechts seit dem Zweiten Weltkrieg.
So wie man eine ganze Bevölkerung nicht töten darf, um eine Epidemie zu stoppen, so darf man sie auch nicht dezimieren, weil man unter ihr bewaffnete Gegner vermutet. Es mag Zeiten gegeben haben, in denen man das anders sah. Aber seit dem Zivilisationsbruch durch das NS-Regime wollte die Weltgemeinschaft sicherstellen, dass die Regierungen der Welt derlei nie wieder zulassen und sich gegenseitig streng kontrollieren.
Ausgerechnet dieser Verbündete nun, dessen Geschichte und Trauma man kennt, hat sich tragischerweise den beiden einzigen Perspektiven verschlossen, die ihm eine friedliche und legale Zukunft ermöglicht hätten. Er hat nicht zuletzt mit dem Nationalstaatsgesetz von 2018 und wiederholten Regierungsproklamationen sowohl das gleichberechtigte Nebeneinander in der Form einer Zweistaatenlösung als auch das Miteinander in einem einzigen Staat auf dem Gebiet des ehemaligen Mandatsgebiets für sich verworfen.
Seine gegenwärtigen Taten, die ihn vor beiden internationalen Gerichten in Den Haag in solche Schwierigkeiten gebracht haben, lassen sich nur als logische Folge des Trilemmas verstehen, in das er sich mit dem Verzicht auf beide Formen der Gleichberechtigung selbst hineinmanövriert hat. Denn nun hat er nur noch (allein oder in Kombination) drei jeweils hochdelinquente Möglichkeiten. Er kann die einheimische Bevölkerung:
- vertreiben und damit ein Kriegsverbrechen nach Artikel 6, Abs. 2 b des Londoner Abkommens begehen;
- dauerhaft unterdrücken und damit die UN-Charta und UN-Konventionen gegen Rassismus (1965) und Apartheid (1973) verletzen sowie das völkerrechtliche Verbrechen der Apartheid nach Artikel 7 Abs. 2 h des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs begehen;
- physisch dezimieren und psychisch zugrunde gehen lassen, indem er wahllose Tötungen durchführt, Geburten verhindert und die Lebensbedingungen so gestaltet, dass er damit eine Verurteilung wegen des crime of all crimes riskiert, auf Deutsch: wegen der Begehung eines Völkermords.
Nun ist es nicht das erste Mal, dass sich die Regierung eines engen Verbündeten (und mit ihm ein Großteil seiner Bevölkerung) so weit (und so selbstbewusst) von den Grundprinzipien der UNO-Charta und damit der internationalen Gemeinschaft entfernt hat und sich ganz offenbar aus seiner selbstgeschaffenen Verstrickung nicht aus eigener Kraft zu befreien vermag.
Deswegen sind in dieser historischen Sekunde – wie seinerzeit gegenüber dem Apartheid-Regime in Pretoria – die Freunde gefragt. Nachdem man die Völkerrechtswidrigkeit seiner Politik lange Zeit toleriert (und unterstützt) hatte, hatte das Anti-Apartheid Movement 1986 erstmals den US-Kongress zu einer so unmissverständlichen Haltung (Waffenembargo, Sanktionen, Desinvestitionen) bewogen, dass auch das Veto des Präsidenten Ronald Reagan dagegen nichts mehr ausrichten konnte. In der Folge forderte nicht zuletzt die südafrikanische Wirtschaft radikale Reformen, die in die Haftentlassung Nelson Mandelas, die Abschaffung aller Apartheid-Gesetze und einen gemeinsamen Weg in eine gleichberechtigte und völkerrechtskonforme Zukunft mündete.
Ähnliches wäre auch heute dringend erforderlich. Aber ohne eine ähnlich überzeugende Bewegung in seinen Zivilgesellschaften wird der Westen dem Verbündeten gegenüber selbst nicht die Kraft zu einer vergleichbar konsequenten Haltung aufbringen. Mit anderen Worten: die Regierungen in den USA, in London, in der EU und auch in Deutschland haben sich durch die fehlgeleitete Ächtung der BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions, eine politische Kampagne, die den Staat Israel isolieren will) auf die sie jetzt angewiesen wären, selbst des Motors beraubt, der ihnen in einem demokratischen Prozess von der Basis der Kirchen, der Hochschulen, der Gewerkschaften und der Jugendorganisationen der Parteien bis in die Parlamente den Schwung und die Richtung im Sinne einer Priorisierung der Menschenrechte verleihen könnte.
Das ist die Crux. Seinerzeit war das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten, noch ebenso intakt wie die Versammlungs-, die Wissenschafts- und die Kunstfreiheit. Heute sieht sich die wichtigste Menschenrechtsbewegung, die sich nach dem Vorbild der Anti-Apartheid-Bewegung für die Mobilisierung der Öffentlichkeit in der westlichen Welt engagiert, ihres Rechts auf freie Äußerung und Verbreitung ihrer Meinung und Forderungen beraubt und systematisch diskriminiert. Da wird verleumdet und bedroht, gekündigt und gesäubert, da wird mit dem Entzug von Fördermitteln gedroht, da werden große Persönlichkeiten erst ein- und dann auf entwürdigende Weise wieder ausgeladen. Da wird die eine Ausstellung skandalisiert und die andere gar nicht eröffnet. Da werden Literaturpreise wieder einkassiert, da werden Fußballspieler und Karikaturisten denunziert und da wird ein Palästina-Kongress auf eine Art aufgelöst, dass es einem die Sprache verschlägt.
Ein Land feiert sein Grundgesetz, während seine eigene Regierung es Stück für Stück abträgt und aushöhlt, ohne zu merken, wie sehr sie sich damit disqualifiziert. Viele biegen in dieser tristen Lage von der Mitte nach rechts oder links ab. Das ist ihr gutes Recht. Aber noch wichtiger ist es, solange wir es noch können, die verbliebenen Freiheiten zu nutzen, um zunächst die Bedingungen wiederherzustellen, die es braucht, damit jeder und jede überall sagen und diskutieren und fordern kann, was er oder sie für richtig hält. Uns die ganze Rede- und Versammlungsfreiheit, die ungeteilte Wissenschafts- und die Kunstfreiheit wieder zu erkämpfen. Von uns und unseren Freiheiten hängt es ab, dass sich die Zivilgesellschaft authentisch und wirkungsvoll verständigen und organisieren kann – und dann auch, hoffentlich, unsere Regierenden an ihre Freundespflichten und ihre Pflicht zur Hilfeleistung nach dem Völkerrecht zu erinnern. Wir brauchen kein neues Ruanda, und wir brauchen kein neues Srebrenica. Wir können nicht schon wieder alles sehen, alles wissen – und nichts tun.