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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der Verbündete

Seit dem 7. Okto­ber 2023 gewäh­ren Deutsch­land, die EU und die USA einem ihrer eng­sten Ver­bün­de­ten poli­ti­schen Schutz und mate­ri­el­le Unter­stüt­zung. Sie begrün­den dies mit des­sen Recht auf Selbst­ver­tei­di­gung. Dabei über­se­hen sie aber kei­nes­wegs nur, dass der Ver­bün­de­te völ­ker­recht­lich als Besat­zungs­macht agiert und sich aus ver­schie­de­nen Grün­den nicht ohne Wei­te­res auf Arti­kel 51 der UNO-Char­ta beru­fen kann. Der ent­schei­den­de Punkt ist ein anderer.

Es ist näm­lich unter kei­nen Umstän­den erlaubt – weder als Ver­gel­tung für Gräu­el­ta­ten noch zum Zwecke legi­ti­mer Selbst­ver­tei­di­gung – eine Zivil­be­völ­ke­rung aus­zu­hun­gern, zu ver­trei­ben oder sie uner­träg­li­chen Lebens­be­din­gun­gen aus­zu­set­zen. Die­se und ande­re völ­ker­straf­recht­li­che Kern­ver­bre­chen nie wie­der zuzu­las­sen war ja gera­de der Sinn der gesam­ten Fort­ent­wick­lung des Völ­ker­rechts seit dem Zwei­ten Weltkrieg.

So wie man eine gan­ze Bevöl­ke­rung nicht töten darf, um eine Epi­de­mie zu stop­pen, so darf man sie auch nicht dezi­mie­ren, weil man unter ihr bewaff­ne­te Geg­ner ver­mu­tet. Es mag Zei­ten gege­ben haben, in denen man das anders sah. Aber seit dem Zivi­li­sa­ti­ons­bruch durch das NS-Regime woll­te die Welt­ge­mein­schaft sicher­stel­len, dass die Regie­run­gen der Welt der­lei nie wie­der zulas­sen und sich gegen­sei­tig streng kontrollieren.

Aus­ge­rech­net die­ser Ver­bün­de­te nun, des­sen Geschich­te und Trau­ma man kennt, hat sich tra­gi­scher­wei­se den bei­den ein­zi­gen Per­spek­ti­ven ver­schlos­sen, die ihm eine fried­li­che und lega­le Zukunft ermög­licht hät­ten. Er hat nicht zuletzt mit dem Natio­nal­staats­ge­setz von 2018 und wie­der­hol­ten Regie­rungs­pro­kla­ma­tio­nen sowohl das gleich­be­rech­tig­te Neben­ein­an­der in der Form einer Zwei­staa­ten­lö­sung als auch das Mit­ein­an­der in einem ein­zi­gen Staat auf dem Gebiet des ehe­ma­li­gen Man­dats­ge­biets für sich verworfen.

Sei­ne gegen­wär­ti­gen Taten, die ihn vor bei­den inter­na­tio­na­len Gerich­ten in Den Haag in sol­che Schwie­rig­kei­ten gebracht haben, las­sen sich nur als logi­sche Fol­ge des Tri­lem­mas ver­ste­hen, in das er sich mit dem Ver­zicht auf bei­de For­men der Gleich­be­rech­ti­gung selbst hin­ein­ma­nö­vriert hat. Denn nun hat er nur noch (allein oder in Kom­bi­na­ti­on) drei jeweils hoch­de­lin­quen­te Mög­lich­kei­ten. Er kann die ein­hei­mi­sche Bevölkerung:

  1. ver­trei­ben und damit ein Kriegs­ver­bre­chen nach Arti­kel 6, Abs. 2 b des Lon­do­ner Abkom­mens begehen;
  2. dau­er­haft unter­drücken und damit die UN-Char­ta und UN-Kon­ven­tio­nen gegen Ras­sis­mus (1965) und Apart­heid (1973) ver­let­zen sowie das völ­ker­recht­li­che Ver­bre­chen der Apart­heid nach Arti­kel 7 Abs. 2 h des Römi­schen Sta­tuts des Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hofs begehen;
  3. phy­sisch dezi­mie­ren und psy­chisch zugrun­de gehen las­sen, indem er wahl­lo­se Tötun­gen durch­führt, Gebur­ten ver­hin­dert und die Lebens­be­din­gun­gen so gestal­tet, dass er damit eine Ver­ur­tei­lung wegen des crime of all cri­mes ris­kiert, auf Deutsch: wegen der Bege­hung eines Völkermords.

Nun ist es nicht das erste Mal, dass sich die Regie­rung eines engen Ver­bün­de­ten (und mit ihm ein Groß­teil sei­ner Bevöl­ke­rung) so weit (und so selbst­be­wusst) von den Grund­prin­zi­pi­en der UNO-Char­ta und damit der inter­na­tio­na­len Gemein­schaft ent­fernt hat und sich ganz offen­bar aus sei­ner selbst­ge­schaf­fe­nen Ver­strickung nicht aus eige­ner Kraft zu befrei­en vermag.

Des­we­gen sind in die­ser histo­ri­schen Sekun­de – wie sei­ner­zeit gegen­über dem Apart­heid-Regime in Pre­to­ria – die Freun­de gefragt. Nach­dem man die Völ­ker­rechts­wid­rig­keit sei­ner Poli­tik lan­ge Zeit tole­riert (und unter­stützt) hat­te, hat­te das Anti-Apart­heid Move­ment 1986 erst­mals den US-Kon­gress zu einer so unmiss­ver­ständ­li­chen Hal­tung (Waf­fen­em­bar­go, Sank­tio­nen, Des­in­ve­sti­tio­nen) bewo­gen, dass auch das Veto des Prä­si­den­ten Ronald Rea­gan dage­gen nichts mehr aus­rich­ten konn­te. In der Fol­ge for­der­te nicht zuletzt die süd­afri­ka­ni­sche Wirt­schaft radi­ka­le Refor­men, die in die Haft­ent­las­sung Nel­son Man­de­las, die Abschaf­fung aller Apart­heid-Geset­ze und einen gemein­sa­men Weg in eine gleich­be­rech­tig­te und völ­ker­rechts­kon­for­me Zukunft mündete.

Ähn­li­ches wäre auch heu­te drin­gend erfor­der­lich. Aber ohne eine ähn­lich über­zeu­gen­de Bewe­gung in sei­nen Zivil­ge­sell­schaf­ten wird der Westen dem Ver­bün­de­ten gegen­über selbst nicht die Kraft zu einer ver­gleich­bar kon­se­quen­ten Hal­tung auf­brin­gen. Mit ande­ren Wor­ten: die Regie­run­gen in den USA, in Lon­don, in der EU und auch in Deutsch­land haben sich durch die fehl­ge­lei­te­te Äch­tung der BDS-Bewe­gung (Boy­cott, Divest­ment and Sanc­tions, eine poli­ti­sche Kam­pa­gne, die den Staat Isra­el iso­lie­ren will) auf die sie jetzt ange­wie­sen wären, selbst des Motors beraubt, der ihnen in einem demo­kra­ti­schen Pro­zess von der Basis der Kir­chen, der Hoch­schu­len, der Gewerk­schaf­ten und der Jugend­or­ga­ni­sa­tio­nen der Par­tei­en bis in die Par­la­men­te den Schwung und die Rich­tung im Sin­ne einer Prio­ri­sie­rung der Men­schen­rech­te ver­lei­hen könnte.

Das ist die Crux. Sei­ner­zeit war das Recht, sei­ne Mei­nung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu ver­brei­ten, noch eben­so intakt wie die Ver­samm­lungs-, die Wis­sen­schafts- und die Kunst­frei­heit. Heu­te sieht sich die wich­tig­ste Men­schen­rechts­be­we­gung, die sich nach dem Vor­bild der Anti-Apart­heid-Bewe­gung für die Mobi­li­sie­rung der Öffent­lich­keit in der west­li­chen Welt enga­giert, ihres Rechts auf freie Äuße­rung und Ver­brei­tung ihrer Mei­nung und For­de­run­gen beraubt und syste­ma­tisch dis­kri­mi­niert. Da wird ver­leum­det und bedroht, gekün­digt und gesäu­bert, da wird mit dem Ent­zug von För­der­mit­teln gedroht, da wer­den gro­ße Per­sön­lich­kei­ten erst ein- und dann auf ent­wür­di­gen­de Wei­se wie­der aus­ge­la­den. Da wird die eine Aus­stel­lung skan­da­li­siert und die ande­re gar nicht eröff­net. Da wer­den Lite­ra­tur­prei­se wie­der ein­kas­siert, da wer­den Fuß­ball­spie­ler und Kari­ka­tu­ri­sten denun­ziert und da wird ein Palä­sti­na-Kon­gress auf eine Art auf­ge­löst, dass es einem die Spra­che verschlägt.

Ein Land fei­ert sein Grund­ge­setz, wäh­rend sei­ne eige­ne Regie­rung es Stück für Stück abträgt und aus­höhlt, ohne zu mer­ken, wie sehr sie sich damit dis­qua­li­fi­ziert. Vie­le bie­gen in die­ser tri­sten Lage von der Mit­te nach rechts oder links ab. Das ist ihr gutes Recht. Aber noch wich­ti­ger ist es, solan­ge wir es noch kön­nen, die ver­blie­be­nen Frei­hei­ten zu nut­zen, um zunächst die Bedin­gun­gen wie­der­her­zu­stel­len, die es braucht, damit jeder und jede über­all sagen und dis­ku­tie­ren und for­dern kann, was er oder sie für rich­tig hält. Uns die gan­ze Rede- und Ver­samm­lungs­frei­heit, die unge­teil­te Wis­sen­schafts- und die Kunst­frei­heit wie­der zu erkämp­fen. Von uns und unse­ren Frei­hei­ten hängt es ab, dass sich die Zivil­ge­sell­schaft authen­tisch und wir­kungs­voll ver­stän­di­gen und orga­ni­sie­ren kann – und dann auch, hof­fent­lich, unse­re Regie­ren­den an ihre Freun­des­pflich­ten und ihre Pflicht zur Hil­fe­lei­stung nach dem Völ­ker­recht zu erin­nern. Wir brau­chen kein neu­es Ruan­da, und wir brau­chen kein neu­es Sre­bre­ni­ca. Wir kön­nen nicht schon wie­der alles sehen, alles wis­sen – und nichts tun.