Die alte Frage stellt sich immer neu: Was wollen wir essen und trinken? Zum Entree in das Jahr 2022, mit lauter Unbekannten, darf es gern was Deftiges sein: mehrgängig, massiv, traditionsbeladen. Für Nichtvegetarier zudem unbedingt fleischlich. Das Richtige geschrieben für diesen Appetit hat der Goncourt-Preis gekrönte Mathias Énard mit seinem Roman »Das Jahresbankett der Totengräber«.
Deftig geht es eher auf dem Lande zu. Und da spielt der Roman: im Westpoitou und in der benachbarten Vendée, grob gesagt im Hinterland von La Rochelle. Dorthin, genauer in das Dörfchen La Pierre-St. Christophe, verschlägt es den Pariser Ethnologen David Mazon. Seine Doktorarbeit will er hier schreiben, und zwar über das Dorf und seine Menschen, in offen ironischer Parallele zu den »Primitiven«, die die Anthropologie einst erfand, um über sie schreiben und dabei den eigenen Kulturzustand bespiegeln zu können.
Der Plot gibt dem Roman seine Form. Angelehnt an Bronislaw Malinowskis berühmtes Feldtagebuch bildet ein Tagebuch den Rahmen etwa der knappen Hälfte des Texts. Erst spät und unerwartet bricht Davids Tagebuch ab und geht in eine objektivierende, zugleich multiperspektivische Erzählung über, die den Hauptteil bildet. Er wird am Ende wieder vom Tagebuch abgelöst.
Das Landleben und sein dörfliches Konzentrat üben einen wachsenden Sog aus, auf den Erzähler wie auf den Leser. Ob im Anglercafé das allabendlich gleiche Personal sich über die Dorfdinge updated, ob auf der Farm von Mathilde und Gary, Davids Vermietern, der Reichtum der Ernte mit der Vielzahl der dazu nötigen Verrichtungen konkurriert, ob die Gemüsebäuerin Lucie ihre gescheiterte Ehe verdaut, ob sie mit den im Dorf tonangebenden Viehzüchtern und Metzgern ins Gehege kommt – immer fühlt sich das Geschilderte prall an, ohne dass recht besehen viel passiert. Vorlage des bukolisch-brokatenen Tableaus ist passender Weise der Renaissancedichter Francois Rabelais, den David im Tornister mit durchs Forschungsgelände trägt, den er erzählerisch nachahmt – und der für das Kernstück, die knapp hundertseitige Fress- und Sauforgie einer überregionalen Totengräberinnung, auf direkte Weise den Inhalt liefert. Denn es werden Reden gehalten, wie üblich nach jedem Gang, von den üblichen des Redenkönnens Verdächtigen. Und die bedienen sich der Vorlagen aus Rabelais‘ monströsem Fabelbuch vom Riesen Gargantua und seinem Sohn Pantagruel. Rabelais‘ Geschichten werden fortgesetzt, man lässt ihn und die schäumende Freiheitsperiode des Postmittelalters wiederauferstehen. Das ist ein Erzählprogramm, das nicht nur Spaß macht, sondern auch Konventionen umstürzt. Die fünf Sinne werden in alte Rechte wiedereingesetzt – Großstadtvergangenheit des Erzählers hin, allmächtige Digitalisierung her. Es wird gevögelt, gevöllert und geböllert, was Küche, Keller, Schlafzimmer und Arsenal hergeben, unschuldig, soweit große Kinder als schuldunfähig durchgehen.
Einwände gegen das Buch können auch gemacht werden. Der Fabulierwille des Autors sprengt sich einen Weg frei ins Willkürliche, wenn er seine Figuren zu Zwischengliedern von Inkarnationsketten erklärt. So wird aus einem Priester ein Wildschwein, aus einer Bäuerin das Pferd des Frankenkönigs Chlodwig und so weiter. Zeitlich dergestalt entgrenzt beinhaltet der Roman in der Folge Schlachtengemälde von einiger Konventionalität, problematisch, weil das Bunte und Freche nunmehr verschwimmt mit kruden Gewaltfantasien. Andererseits gelangt der Roman auf die Weise zu einer wichtigen Aussage: Das augenblickliche Leben vollzieht sich auf einem Friedhof von Gewaltopfern, ist selbst vom Giftgas einer gewalttätigen Geschichte umgeben und belastet.
Fehlende Originalität könnte man Énard ebenfalls vorwerfen. Ein Jahresbankett von Totengräbern hat vor wenigen Jahren erst Erik Fosnes Hansen erzählt in dem Roman »Ein Hummerleben« (der hier dringend empfohlen sei). Das Ineinander von Todernst und Lebensrausch gestaltet Hansen vielschichtiger. Andererseits schreit eine so unvergessliche Szene danach, von einem anderen Autor aufgegriffen zu werden; zu viel Potenzial steckt in ihr. Énard macht sein Bankett zum konkurrenzlosen Prunkstück des Buchs, mehr noch durch die glanzvolle Rhetorik der Toasts als durch die verführerische Speisenfolge. Das Reinkarnationsmotiv wirkt ebenfalls übernommen, und zwar aus Mo Yans Hauptwerk »Der Überdruss« (allerdickste Empfehlung!). Und hier muss man sagen: Mo Yan macht es besser, wenn er fern aller Beliebigkeit die Komik und Exzentrik tierischer Protagonisten ebenso nutzt wie den Generationen (alias Inkarnationen) übergreifenden Längsschnitt durch die Geschichte Rotchinas.
Trotzdem ist ein veritabler Festbraten, was Énard uns da auftischt. Genießende sollten ihn sich keinesfalls versagen. Ihn aufsparen ist auch keine Option: Eh man sich’s versieht, ist Aschermittwoch.
Mathias Énard: Das Jahresbankett der Totengräber. Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Hanser Berlin, 2021. 481 S., 28 €.