Wer Loriotfilme sieht, weiß mehr vom Leben. Dort gab es mal beim Scrabbeln das Wort »Schwanzhund«. Humorlose Menschen (im Film) riefen: Gibt’s nicht! Gültet nicht!
O doch! Gültet! Der Schwanzhund ist ein Fabelwesen, das es schafft, dass der Schwanz mit dem Hund wedelt. Ein US-amerikanischer Film nutzte vor einem Vierteljahrhundert dieses Bild, um die Lügen beim Präsidentenwählen zu entlarven. Nun sind die USA ja das Land, bei dem Mr. Trump eindrucksvoll mit dem Staat wedelt. Doch neuerdings gibt es einen Thüringer Schwanzhund.
Die CDU hat dort eine geringe Mitgliederzahl, schaffte es aber, das Land innerhalb von 25 Jahren mit schwarzem Filz zu bedecken. Die FDP konnte mit einer winzigen Zahl an Wählern 2019 die 5-Prozent-Hürde überspringen. Thüringen ist das nach Einwohnern zweitkleinste Bundesland, abgesehen von Saarland, Hamburg und Bremen. Doch an einem denkwürdigen 5. Februar gelang es, dass Thüringen als Schwanz mit der Bundes-CDU, der Bundes-FDP, dem Ostbeauftragten der Bundesregierung, den Bundesbürgern, der ganzen Republik und weiten Teilen des Auslandes wedelte. Sogar die Bundeschefin der CDU wankte – und fiel, sagen wir mal: um. Die heimischen Talk-Shows kannten nur ein Thema: Wie man in Thüringen Ministerpräsidenten aus-zählt.
Ausländische, also rheinisch-bayerische Zeitungen, die Thüringen gern mit Tübingen verwechseln, wussten auf einmal, was Erfurt, was Kemmerich und was eine Stimmenthaltung ist.
Doch beschreiben wir mal diesen 5. Februar, den Tag der Machtergreifung:
Blauer Himmel über weiten Teilen des Ländchens. Auf den Höhen gab es Schnee, auch Rodel war gut. Selbst nach 14:00 Uhr verkehrten die öffentlichen Busse. In den Läden gab es italienische und sogar tunesische Waren zu Billigpreisen. Ausländer wurden wie immer beschimpft. Ausländer keilten zurück: »Scheiß Deutscher!«
Auch in den vergangenen fünf Jahren, seit der Linke Ramelow mit zwei Stimmen Mehrheit regierte, war kein Kommunismus im Lande ausgebrochen, nicht einmal ein kommoder Sozialismus. Ein paar Gesetze mit linkem Anstrich kamen durchs Parlament. Diesmal hatte seine Koalition 42 Abgeordnete hinter sich (Linke 31 Prozent – SPD 8,2 Prozent – Grüne 5,2 Prozent), vier Stimmen zu wenig. Die Rechten hingegen, die glauben, sie seien eine »bürgerliche« Mitte, hatten genau 26 Stimmen im Parlament. Nazifreunde, Schwulenfeinde und Klimawandelleugner unter dem Faschisten B. Höcke schafften etwas weniger: 22 Stimmen.
An diesem 5. Februar aber war ein Friseurkettenbesitzer, der allüberall in seinen Salons verkünden ließ: »Ich liebe meine Haare!« an die Thüringer Macht gekommen. Er selbst trug nebst Reitstiefeln eine glänzende Platte. Sein Wahlwerbespot war martialisch (siehe Ossietzky 22/2019). Doch seine Frau namens Ute Kemmerich wusste schon immer: »Die Aura hat mich umgehauen. Der betritt einen Raum, man schaut ihn an, er hat eine Stimme, da kann man zuhören. Das war so ›oh‹.«
Die Machtergreifung – ›oh‹ – selbst war ein Lehrstück in Sachen Schwanzhund: Man muss nur richtig wedeln, lügen und biedermännisch vorspiegeln können.
Wie aber war der Kemmerich-Coup, das Falsche Depperte Protzen, das Wedeln, der Schwanzhundpartei gelungen? Die Truppe AfD hatte einen Freizeitbürgermeister, der erfolglos bei der CDU kandidiert hatte, ins Präsidentenrennen geschickt. Der bekam im zweiten Wahlgang genau die 22 Stimmen, über die die AfD verfügte. Der bisherige Landesvater Ramelow verbuchte zwei Stimmen über seine Anhängerschaft hinaus. Das waren mit 44 aber noch immer genau zwei zu wenig. Doch im dritten …
Im dritten Wahlgang wollte plötzlich kein AfD-Abgeordneter mehr den von der eigenen Partei vorgeschlagenen Mann wählen. Niemand überhaupt im 90-Mann-Kader der Abgeordneten. Dafür wählten 45 den Friseurkettenmagnaten. Eine Stimme mehr als Ramelow. Der Freizeitbürgermeister saß auf der Tribüne – und freute sich. Und freute sich. Und freute sich.
Natürlich war nichts abgesprochen. Überhaupt nichts. Nur Leute mit mathematischer Bildung – zu denen ich mich zähle, weshalb ich als Politiker untauglich wäre – hätten dies voraussehen können.
Was ich nicht voraussah: Das niemand von den CDU-Abgeordneten den heimlichen Mut hatte, sich der Stimme zu enthalten. Lieber Nazis triumphieren ließ. Aber CDU-Parteigänger sind, wir wollen ihnen das verzeihen, per se Zahlen nicht gewogen.
Doch. Drei haben für Ramelow gestimmt oder sich enthalten. Einer mehr hätte das Blatt gewendet. Einer. Alle anderen haben Seit an Seit mit Höcke und Brandner gewählt: Bühl, Emde, Gottweiss, Henkel, Herrgott, Heym, Kellner, König, Kowalleck, Malsch, Meissner, Mohring, Schard, Tiesler, Tasch, Tischner, Urbach, Voigt, Walk, Worm, Zippel.
In Anlehnung an Stefan Heym, als er aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde, darf ich nachfragen: »Wie habt ihr euch damals verhalten, Meister der Demokratie, als es darauf ankam, sich zählen zu lassen?«
Der MDR, das ist jener AfD- – Quatsch! – ARD-Sender, der ansonsten für viele Kessel Buntes nebst Dresdner Opernball zuständig ist, produzierte Extra- und »Fakt ist!«-Sendungen. Es gelang dem Sender, viele AfD-Wähler einzuladen. Sozusagen den netten Volksnazi-Rand der Gesellschaft. Thüringer aber – das muss man ihnen einfach bescheinigen – können wunderbar herumdrucksen. Sind nie ganz deutlich für ihren Führer. »Aber man muss doch mal sagen können … Der SED-Mann Ramelow … Gewählt ist – nicht wahr? – gewählt …«
Gleich nach der Friseursalon-Wahl gingen erstaunliche Menschenmengen in Erfurt und anderen Thüringer Städten auf die Straße. Riefen »Kemmerich muss weg!« Die hörte und sah ich allerdings nur in schnellen Schnitten beim – sagen wir mal freundlich: CDU-Sender Mitteldeutschlands.
Der Geliebte seiner Haare trat, geschockt vom massiven Protest, 24 Stunden nach seiner Vereidigung zurück, wiederholte den Rücktritt Tage später, führt aber die Regierungsgeschäfte (welche wohl?) bis zur Verfertigung dieses Beitrags weiter.
Ach ja, einem gewissen »Ermächtigungsgesetz«, das am 23. März 1933 in Deutschland beschlossen wurde, stimmten auch die Abgeordneten der Deutschen Staatspartei, inklusive eines nachmaligen Bundespräsidenten Heuss, zu. Diese Partei war – damit wir zu einem Resümee dieses Schwanzhundelebens kommen – Vorgängerin der FDP.