Wenn überall in der katholischen Welt um 12 Uhr mittags die Kirchenglocken läuten, hat das mit einem alten Narrativ der ungarischen Geschichte zu tun. Es soll gemäß päpstlicher Order an die Abwehr eines heidnischen Angriffes aus dem Osten erinnern – konkret an den Angriff der osmanischen Türken unter Sultan Mehmet, aber darüber hinaus an vergleichbare vorangegangene Stürme. Denn vielfach hatten schon lange zuvor Reiternomaden aus dem Osten, die Skythen, Sarmaten, die Hunnen oder Awaren, das mittlere Europa in Schrecken versetzt. Tief in der Erinnerung blieb der mittelalterliche Mongoleneinfall vom 13. Jahrhundert, in Ungarn »Tatarensturm« genannt, der das Land weitgehend entvölkerte. Die gegenwärtige radikal-restaurative Regierung in Budapest knüpft an dieses Narrativ an, indem sie sich als Bollwerk abendländischer Kultur gegen einen (Migranten-)Ansturm aus dem Osten – neuerdings auch aus dem Westen – geriert.
Batu, ein Enkel des legendären Reichsgründers Dschingis Khan, führte nach der Eroberung Mittelasiens ein starkes mongolisches Reiterheer gegen die Fürstentümer der Rus. Innerhalb von vier Jahren war Russland erobert, der Weg nach Westen stand offen, und Batu wandte sich nach Ungarn, während sein General Burundäj die Städte Lublin, Kraków und große Teile Polens verwüstete. Bei Liegnitz wurde ein polnisch-deutsches Ritterheer nahezu vernichtet. Im westlichen Europa brach Panik aus, selbst weit entfernte Städte wie Lübeck und Nürnberg rüsteten fieberhaft zur Verteidigung.
Über den berühmten Gebirgs-Pass von Verecke (durch den schon Fürst Árpád die landsuchenden Madjaren geführt hatte) betrat das tatarische Heer unter Batu im März 1241 ungarischen Boden. Alten Chroniken zufolge sollen es über 100.000 Reiter gewesen sein, was wohl gewaltig übertrieben ist. König Béla gelang es, ein an Zahl ebenbürtiges Heer aus Ungarn und verbündeten Böhmen, Serben und Walachen aufzustellen. Am Flüsschen Sajó verschanzte man sich dummerweise in einer Wagenburg. »Wie eine Herde in einem Pferch eingeschlossen«, so frohlockte der feindliche Anführer. Nach der Umzingelung konnten die Mongolen mit ihren Pfeilen die Zelte der Madjaren leicht in Brand stecken und Verwirrung stiften.
Am 10. und 11. April 1241 kam es zum entscheidenden Kampf. Die Ortschaft Mohi im Komitat Borsod, heute ein 500-Einwohner-Dorf nahe dem berühmten Weinzentrum Tokaj, wurde zum Schlachtfeld, auf dem wohl mehr als zwei Drittel der Verteidiger umkamen. Mohi steht für eine der größten Katas-trophen in Ungarns Geschichte. Der Sieg Batus war vollständig, nur ein wichtiges Ziel wurde verfehlt: Der Person König Bélas wurde man nicht habhaft.
Die Mongolen besetzen nun große Teile Ungarns, metzeln Tausende sinnlos nieder, verschonen die kapitulationsbereiten Orte und richten bei der überlebenden Landbevölkerung eine vorläufige Verwaltung ein. Der detaillierte Bericht des Klerikers Rogerius, der getarnt als Diener eines Kollaborateurs überlebt, trägt den Titel Trauriges Lied über den Tatarensturm. Er beschreibt, wie sich die Eroberer in den Dörfern auf Dauer einzurichten scheinen.
König Béla flieht über Wien – wo ihm Herzog Friedrich von Österreich als Durchreisegebühr den königlichen Goldschatz abnimmt – bis nach Dalmatien ans Adriatische Meer. Die Königin Maria Laskaris wird zu der Zeit schwanger. In seiner Not gelobt Béla: Sollte sein Land die Katastrophe überstehen, würde er das erwartete Kind dem Dienste Gottes weihen. Als die Tochter Margarete 1242 geboren wird, sind die feindlichen Besatzer tatsächlich überraschend aus Ungarn abgezogen – über den Grund dafür streitet man –, und Béla hält sein Gelübde. Margarete (ungarisch: Árpádházi Szent Margit) wird mit vier Jahren in ein Dominikanerinnen-Stift gegeben. Ihr Vater lässt ihr alsbald ein eigenes Kloster auf der Haseninsel zwischen Buda und Pest bauen, »für Margarete, die liebste Tochter«, wie die Gründungsurkunde vermerkt. Hier wird sie wegen ihrer wohltätigen Arbeit für die Armen und Ärmsten beliebt. Nach ihr, der bald heiliggesprochenen Margit, erhielt die Insel einen neuen Namen. Ihre Statuette steht neben den freigelegten Ruinen des Monasteriums. Die Besucher der Parkanlage ahnen nicht, dass sie – hätte es den Tatarensturm nicht gegeben – hier auf der Hasen-, statt Margareten-insel weilen würden.
Was den Khan der Mongolen betrifft: Nach Ende des Europafeldzuges setzen sich die Truppen Batu Khans im Gebiet am Unterlauf der Wolga fest, wo seit 1243 der mongolisch-tatarische Staat der Goldenen Horde für 250 Jahre vom Schwarzen Meer bis Westsibirien besteht. Der Gründer des Khanats soll, einer der Deutungen zufolge, in einer goldenen Jurte gewohnt haben.