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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der Tatarensturm

Wenn über­all in der katho­li­schen Welt um 12 Uhr mit­tags die Kir­chen­glocken läu­ten, hat das mit einem alten Nar­ra­tiv der unga­ri­schen Geschich­te zu tun. Es soll gemäß päpst­li­cher Order an die Abwehr eines heid­ni­schen Angrif­fes aus dem Osten erin­nern – kon­kret an den Angriff der osma­ni­schen Tür­ken unter Sul­tan Meh­met, aber dar­über hin­aus an ver­gleich­ba­re vor­an­ge­gan­ge­ne Stür­me. Denn viel­fach hat­ten schon lan­ge zuvor Rei­ter­no­ma­den aus dem Osten, die Sky­then, Sar­ma­ten, die Hun­nen oder Awa­ren, das mitt­le­re Euro­pa in Schrecken ver­setzt. Tief in der Erin­ne­rung blieb der mit­tel­al­ter­li­che Mon­go­len­ein­fall vom 13. Jahr­hun­dert, in Ungarn »Tata­ren­sturm« genannt, der das Land weit­ge­hend ent­völ­ker­te. Die gegen­wär­ti­ge radi­kal-restau­ra­ti­ve Regie­rung in Buda­pest knüpft an die­ses Nar­ra­tiv an, indem sie sich als Boll­werk abend­län­di­scher Kul­tur gegen einen (Migranten-)Ansturm aus dem Osten – neu­er­dings auch aus dem Westen – geriert.

Batu, ein Enkel des legen­dä­ren Reichs­grün­ders Dschin­gis Khan, führ­te nach der Erobe­rung Mit­tel­asi­ens ein star­kes mon­go­li­sches Rei­ter­heer gegen die Für­sten­tü­mer der Rus. Inner­halb von vier Jah­ren war Russ­land erobert, der Weg nach Westen stand offen, und Batu wand­te sich nach Ungarn, wäh­rend sein Gene­ral Burun­däj die Städ­te Lub­lin, Kraków und gro­ße Tei­le Polens ver­wü­ste­te. Bei Lie­gnitz wur­de ein pol­nisch-deut­sches Rit­ter­heer nahe­zu ver­nich­tet. Im west­li­chen Euro­pa brach Panik aus, selbst weit ent­fern­te Städ­te wie Lübeck und Nürn­berg rüste­ten fie­ber­haft zur Verteidigung.

Über den berühm­ten Gebirgs-Pass von Verecke (durch den schon Fürst Árpád die land­su­chen­den Madja­ren geführt hat­te) betrat das tata­ri­sche Heer unter Batu im März 1241 unga­ri­schen Boden. Alten Chro­ni­ken zufol­ge sol­len es über 100.000 Rei­ter gewe­sen sein, was wohl gewal­tig über­trie­ben ist. König Béla gelang es, ein an Zahl eben­bür­ti­ges Heer aus Ungarn und ver­bün­de­ten Böh­men, Ser­ben und Wala­chen auf­zu­stel­len. Am Flüss­chen Sajó ver­schanz­te man sich dum­mer­wei­se in einer Wagen­burg. »Wie eine Her­de in einem Pferch ein­ge­schlos­sen«, so froh­lock­te der feind­li­che Anfüh­rer. Nach der Umzin­ge­lung konn­ten die Mon­go­len mit ihren Pfei­len die Zel­te der Madja­ren leicht in Brand stecken und Ver­wir­rung stiften.

Am 10. und 11. April 1241 kam es zum ent­schei­den­den Kampf. Die Ort­schaft Mohi im Komi­tat Bor­sod, heu­te ein 500-Ein­woh­ner-Dorf nahe dem berühm­ten Wein­zen­trum Tokaj, wur­de zum Schlacht­feld, auf dem wohl mehr als zwei Drit­tel der Ver­tei­di­ger umka­men. Mohi steht für eine der größ­ten Katas-tro­phen in Ungarns Geschich­te. Der Sieg Batus war voll­stän­dig, nur ein wich­ti­ges Ziel wur­de ver­fehlt: Der Per­son König Bélas wur­de man nicht habhaft.

Die Mon­go­len beset­zen nun gro­ße Tei­le Ungarns, met­zeln Tau­sen­de sinn­los nie­der, ver­scho­nen die kapi­tu­la­ti­ons­be­rei­ten Orte und rich­ten bei der über­le­ben­den Land­be­völ­ke­rung eine vor­läu­fi­ge Ver­wal­tung ein. Der detail­lier­te Bericht des Kle­ri­kers Roge­rius, der getarnt als Die­ner eines Kol­la­bo­ra­teurs über­lebt, trägt den Titel Trau­ri­ges Lied über den Tata­ren­sturm. Er beschreibt, wie sich die Erobe­rer in den Dör­fern auf Dau­er ein­zu­rich­ten scheinen.

König Béla flieht über Wien – wo ihm Her­zog Fried­rich von Öster­reich als Durch­rei­se­ge­bühr den könig­li­chen Gold­schatz abnimmt – bis nach Dal­ma­ti­en ans Adria­ti­sche Meer. Die Köni­gin Maria Las­ka­ris wird zu der Zeit schwan­ger. In sei­ner Not gelobt Béla: Soll­te sein Land die Kata­stro­phe über­ste­hen, wür­de er das erwar­te­te Kind dem Dien­ste Got­tes wei­hen. Als die Toch­ter Mar­ga­re­te 1242 gebo­ren wird, sind die feind­li­chen Besat­zer tat­säch­lich über­ra­schend aus Ungarn abge­zo­gen – über den Grund dafür strei­tet man –, und Béla hält sein Gelüb­de. Mar­ga­re­te (unga­risch: Árpád­há­zi Szent Mar­git) wird mit vier Jah­ren in ein Domi­ni­ka­ne­rin­nen-Stift gege­ben. Ihr Vater lässt ihr als­bald ein eige­nes Klo­ster auf der Hasen­in­sel zwi­schen Buda und Pest bau­en, »für Mar­ga­re­te, die lieb­ste Toch­ter«, wie die Grün­dungs­ur­kun­de ver­merkt. Hier wird sie wegen ihrer wohl­tä­ti­gen Arbeit für die Armen und Ärm­sten beliebt. Nach ihr, der bald hei­lig­ge­spro­che­nen Mar­git, erhielt die Insel einen neu­en Namen. Ihre Sta­tu­et­te steht neben den frei­ge­leg­ten Rui­nen des Monaste­ri­ums. Die Besu­cher der Park­an­la­ge ahnen nicht, dass sie – hät­te es den Tata­ren­sturm nicht gege­ben – hier auf der Hasen-, statt Mar­ga­re­ten-insel wei­len würden.

Was den Khan der Mon­go­len betrifft: Nach Ende des Euro­pa­feld­zu­ges set­zen sich die Trup­pen Batu Khans im Gebiet am Unter­lauf der Wol­ga fest, wo seit 1243 der mon­go­lisch-tata­ri­sche Staat der Gol­de­nen Hor­de für 250 Jah­re vom Schwar­zen Meer bis West­si­bi­ri­en besteht. Der Grün­der des Kha­nats soll, einer der Deu­tun­gen zufol­ge, in einer gol­de­nen Jur­te gewohnt haben.