Am 3. Mai, dem Tag der Pressefreiheit, erwartete ich einen Bericht über die Situation Julian Assanges von NDR Info. Sein Schicksal steht seit mehr als einem Jahrzehnt, seit der Veröffentlichung der WikiLeaks-Dokumente über den Irakkrieg und seiner Verfolgung durch die US-Regierung im Licht der Öffentlichkeit. Er wird zunehmend zermürbt, und er ist weiterhin an Leib und Leben gefährdet.
Grund für NDR Info, einen Beitrag über ihn auszustrahlen? Ich verfolgte das Programm des Senders den Tag über, soweit es mir möglich war. Am Abend, einem Freitag gegen 19.30 Uhr, nahm ich an, dass nun nichts Neues zu erwarten sei. Das bisher Gesendete und von mir Gehörte war im Ergebnis überschaubar: In keiner Sendung war der Name »Assange« auch nur erwähnt worden. Ich wollte meinem subjektiven Eindruck jedoch nicht trauen und rief beim Sender an und trug mein Anliegen – die einfache »Ja/Nein«-Frage, ob ein Beitrag über Assange gesendet worden sei – der diensthabenden Telefonistin vor. Diese fragte, in befremdetem Ton, nach, ob ich jetzt noch, »am Samstagabend« (!) eine Person aus der Redaktion zu sprechen wolle. Ich stolperte nicht über die Fehlinformation, bekräftigte aber meinen Wunsch, mit der Redaktion verbunden zu werden, und so geschah es.
Anschließend wurde mir bewusst, dass ich womöglich mein Anliegen unterdrückt hätte, in der falschen Überzeugung, es sei schon Sonnabend. Daher rief ich noch einmal beim Sender an, sprach die Fehlinformation an und erreichte immerhin eine Entschuldigung der Telefonistin. Im Hintergrund stand allerdings die Frage, wieweit sie professionell im Abwimmeln potenziell unangenehmer Anrufe geschult war. Ein gewisses Einfühlungsvermögen in dieser Hinsicht war möglicherweise Berufsvoraussetzung (Muster: »Der Herr Direktor ist zurzeit nicht erreichbar«).
Am Montag erreichte mich in meiner Abwesenheit eine Nachricht der Redaktion auf dem AB: Gleich zu Beginn hieß es, es sei in der Tat so, dass Julian Assanges Situation in keinem Beitrag Thema gewesen sei. Allerdings sei Katharina Weiß, Pressesprecherin von »Reporter ohne Grenzen« interviewt worden, »und die setzen sich ja auch für Julian Assange ein«. Der Wikipedia-Artikel über »ROG« enthält einen umfangreichen Abschnitt zum Thema »Kritik«, und selbst, wer nicht alle Punkte überzeugend findet, wird schon ein wenig die Stirn runzeln.
Im dem ca. 3 Minuten langen Interview von NDR Info ging es vorwiegend um die Rangfolge der 180 untersuchten Länder hinsichtlich des Ausmaßes der Pressefreiheit. Das Interview bot Gelegenheit, das Lieblingsthema des Tages – »Cyberspionage«, Russlands natürlich – als eine der Gefahren für die Pressefreiheit darzustellen. Und, ja, die Auskunft, die gleich zu Beginn der AB-Nachricht gegeben worden war, war zutreffend: Julian Assange wurde nicht erwähnt.
Schon drei Jahre zuvor hatte ich mich am Tag der Pressefreiheit an NDR Info gewandt – und zwar per E-Mail: »Heute, am Tag der Pressefreiheit, möchte ich Ihnen gern etwas mitteilen: Es geht mir um die innere Pressefreiheit, also diejenige innerhalb Ihres Senders. Ihre internen Strukturen, Machtverhältnisse z. B., sind mir naturgemäß nicht bekannt. Auch kann ich Ihnen nur anhand von Beispielen und nicht in systematischer Weise deutlich machen, worum es mir geht.
Ich habe bereits einmal in einem Punkt versucht, Klarheit zu erlangen, und bin damit gescheitert: Es ging mir um die Frage, weshalb zwar alle möglichen Kreiszeitungen, nicht aber die bundesweit verbreitete junge Welt (im Gegensatz z. B. zur taz) in Ihren Pressestimmen nicht erwähnt wird. Das Ergebnis meines Scheiterns habe in einem Artikel (›Beschränkter Rundfunk‹, in: Ossietzky 8/2014) dargestellt.
Natürlich hätte ich mir die Frage auch selbst beantworten können: Die jW wird im VS-Bericht erwähnt. Hier nun aber kommt das Thema ›innere Pressefreiheit‹ ins Spiel: Wie stark sind die Versuche, dem so entstandenen Tabu zu widerstehen und dem Phänomen des ›Meutenjournalismus‹– ein Ausdruck, der zur Zeit der Jugoslawienkriege geprägt worden ist – entgegenzuwirken. Meine Vermutungen lassen mich pessimistisch werden. Hierfür nur zwei Beispiele, das erste von heute: In der internationalen Presseschau am Mittag werden drei Zeitungen mit derselben gegen die russische Politik gerichteten Tendenz zitiert. Es wird nicht berücksichtigt, dass die zugrundeliegenden Nachrichten journalistisch von Geheimdienst(des)informationen und politisch von einer Tendenz zur Aufrüstung der Nato geprägt sind. Das zweite Beispiel betrifft eine länger zu beobachtende Tendenz, die inhaltlich mit der ersten zusammenhängt: Über Nawalny wird laufend und dazu unkritisch berichtet; über die mangelhafte medizinische Behandlung Mumia Abu Jamal im Gefängnis, in dem er nun schon fast 40 Jahre sitzt, nichts, oder jedenfalls so wenig, dass es mir entgangen sein muss.«
Bleibt die Frage: Lohnt es sich, sich beim Sender zu beschweren? Wohl eher nicht; umso mehr, einen kleinen Bericht für Ossietzky zu schreiben. Dies tat ich damals nicht, wartete vielmehr einige Wochen lang auf eine Antwort des Senders. Da ich wochenlang keine Antwort erhalten hatte, hakte ich schließlich mit einer zweiten Mail nach, u. a. wegen der Nichterwähnung der Repression gegen die jW: »Ich habe in der Zwischenzeit erleben müssen, dass zwar überregionale Zeitungen und Zeitschriften (taz, SZ, nd, SPIEGEL) über das Thema ›Überwachung und Brandmarkung der überregionalen Tageszeitung junge Welt durch den Verfassungsschutz‹ berichtet haben; auf NDR Info habe ich nichts dergleichen vernommen, und dabei höre ich den Sender NDR Info regelmäßig und nicht nur punktuell.« Immerhin erhielt ich hierzu eine Antwort. Ein Detail erscheint aus heutiger Sicht wie ein schlechter Scherz: »Vielen Dank für Ihre Rückmeldung zu unserem Programm. Inhaltlich kann ich Ihnen nur zum Teil zustimmen: über das Bundesverfassungsgericht und die Zeitung junge Welt haben wir tatsächlich nicht berichtet, damals standen bei uns die Unruhen im Gaza-Streifen im Fokus.« Naja.
Hieraus politische Weitsicht zu folgern, täte dem Sender sicher zu viel der Ehre an.