Der Beginn des »Unternehmens Barbarossa« (ursprünglich »Fall Barbarossa«) am 22. Juni 1941 wird gemeinhin als »Überfall auf die Sowjetunion« bezeichnet. Was hier geschah, war aber weit mehr als das. Die Offensive sollte kein »Beutezug« werden, sie diente nicht in erster Linie der »Landnahme«. Sie war von vornherein durch Hitler, seine Generale und Wirtschaftsführer als monströser Vernichtungsfeldzug geplant, der dann von »ganz normalen Männern« (Christopher Browning) exekutiert wurde. Daran gilt es immer wieder mahnend zu erinnern.
Das ist unangenehm, zweifellos. Jahrestage reißen zwangsläufig die stets gleichen Wunden auf. »Man«, also die Öffentlichkeit oder gar der Bundestag, könnten/sollten dennoch dieses Jahrestages gedenken, als der verbrecherische Krieg des Deutschen Reiches gegen die Sowjetunion seinen Anfang nahm. Bundestagspräsident Schäuble lehnt dies jedoch ab und meint, wir sollten »an der bisherigen parlamentarischen Übung einer ungeteilten Erinnerung an den gesamten Verlauf des Zweiten Weltkrieges und des von ihm ausgegangenen Leids festhalten« (zit. in neues deutschland, 6.4.2021). Dafür stehen die Jahrestage von Kriegsbeginn und Kriegsende.
Das sehen nicht alle so. Fünf Wochen vor dem Jahrestag veranlasste die Partei Die Linke mit einem Antrag »80 Jahre deutscher Überfall auf die Sowjetunion – Für eine Politik der Entspannung gegenüber Russland und eine neue Ära der Abrüstung« eine Debatte im Bundestag. So mussten sich alle Parteien der historischen Verantwortung stellen und waren gezwungen, über Erinnerungspolitik zu reden. Die gute Nachricht: Der Krieg gegen die Sowjetunion wurde von niemandem gerechtfertigt oder in seinen verbrecherischen Dimensionen geleugnet – von ganz rechts bis links in dem Hohen Haus. Die Sprecherin der CDU/CSU, Elisabeth Motschmann, bekannte: »Angriffskriege sind damals wie heute unverantwortlich und grausam. Niemals darf auf dem Rücken von Soldaten und der Zivilgesellschaft ein Angriffskrieg zur Durchsetzung von politischen Zielen geführt werden.« So weit, so gut. Nur schob sie – im Einklang mit ihren Kolleginnen und Kollegen von SPD, FDP, Bündnisgrünen – nach, dass »die Linken (…) in ihrem Antrag die Erinnerung an den Überfall vor 80 Jahren allerdings mit unsäglichen Forderungen nach einer neuen Russlandpolitik, die angeblich im Zeichen von Entspannung und Abrüstung stehen soll«, verbinden (Bundestags-Drucksache 19/229). »Unsäglich«, denn für den Westen, wieder parteiübergreifend, steht Putins Russland für »Konfrontation, Eskalation und Aufrüstung«, also für all dass, was die Linken von einer erneuerten westlichen, deutschen Russlandpolitik überwunden sehen wollen. Das gleiche Spiel bei einer weiteren Debatte Anfang Juni (Bundestags-Drucksache 19/932).
All die Jahrestage um den Zweiten Weltkrieg, die faschistische Aggressionspolitik insbesondere in Richtung Osten, der Überfall zunächst auf Polen, knapp zwei Jahre später auf die Sowjetunion, der Verlauf dieses Krieges, die Siege und bald tödlichen Niederlagen der Wehrmacht und ihrer Verbündeten, einschließlich der Mordbrenner in den schwarzen Uniformen der SS oder den grünen von Polizeiverbänden, die unvermeidliche Kapitulation (die nur schwer auch im westlichen Teil Deutschlands als Befreiung begriffen wurde) – all diese Gedenk-Anlässe laufen immer wieder auf die eine Frage hinaus: Wollen wir aus diesem mörderischen Krieg lernen und verhindern, dass wieder von deutschen Boden oder mit deutsche Hilfe ein Krieg im Herzen Europas stattfindet? Und vor allem: Wie wollen wir mit der entscheidenden Macht umgehen, die im Osten diesen Krieg führte und im Osten und für den Westen, mit Alliierten, den Faschismus vernichtete und Deutschland die Chance für einen Neuanfang bot – wenn auch mit unterschiedlichen Intentionen, Entwicklungswegen, Konflikten, die aber, wie es schien, 1990 so glimpflich endeten?
Geschichte ist immer geronnene Politik und Erinnerungspolitik – im Widerstreit der politischen Interessen –, ist also stets sehr aktuelle Politik. Hier stört ein starkes, sich seiner Kraft wieder sicher werdendes Russland (wie auch China), ein Land, das sich seiner Opfer und seines historischen Sieges bewusst ist.
Gleichwohl: 76 Jahre nach dem Sieg der Roten Armee und ihrer Verbündeten in der Antihitler-Koalition scheinen dieser Sieg und der Sieger vergessen. Die Macht, die damals unter riesigen Opfern, 27 Millionen Sowjetbürgern aller Nationalitäten und Ethnien, den Sieg errungen hat, wird heute geschmäht und zunehmend isoliert. Ein Sieg im Osten Europas, mit weltweiter Wirkung, der Osteuropas Völkern Befreiung von faschistischem Terror, von Mord und Auspressung gebracht hat, der entscheidend für die Befreiung der Deutschen war und der zur Emanzipation in den Kolonien beitrug, wird infrage gestellt. Ein Sieg, der für fast fünf Jahrzehnte eine neue Weltordnung begründete, deren Folgen bis jetzt wirken – im Positiven wie im Negativen.
Die heutige Geschichtserzählung über den Zweiten Weltkrieg hat nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus und dem Zerfall der Sowjetunion die geschichtlichen Fakten auf den Kopf gestellt. Dieser Krieg, den Nazideutschland planmäßig vorbereitet und entfesselt hat, wird zu Hitlers Krieg. Die langfristige Strategie des deutschen Großkapitals und der nicht nur militärischen Eliten bestand darin, die Weltherrschaft zu erobern und so Revanche für die militärische Niederlage von 1918 wie für den Erfolg der Arbeiterbewegung und den Aufstieg eines Staates, der ein Sechstel der Erde einnahm – der Sowjetunion – zu nehmen.
Es gehört zu den modernen Legenden, dass es in diesem Krieg um die Juden, die Verhinderung des Holocaust gegangen wäre. Hitlers Begründung, die jüdisch-bolschewistische-plutokratische Weltverschwörung zu zerschlagen, ist ebenso Lüge wie die Unterstellung, dass es den Alliierten in ihrem Krieg um die Rettung der Juden gegangen wäre. Ihr Sieg, die Befreiung von Auschwitz, Majdanek, Bergen-Belsen, Stutthof, Buchenwald, hat Zehntausenden das Leben gerettet, auch Juden. Aber die Chance, den Holocaust zu verhindern oder zu begrenzen, haben sie damals nicht genutzt. Es ging in diesem Zweiten Weltkrieg, und zuallererst in der Kriegspolitik des Deutschen Reiches, seiner Nazi-Führung und seines Großkapitals um das, was immer wieder Kriege befeuert: neue Territorien, Absatzmärkte, Arbeitskräfte, Rohstoffe – um die in diesem Fall als endgültig und vernichtend gemeinte Niederwerfung der Konkurrenz. Dass der sowjetische, der sozialistische Faktor dazukam, machte dies nur komplizierter, denn hier gab es am Vorabend des Krieges durchaus Interessenübereinstimmungen zwischen den westlichen Demokratien und den faschistischen Regimen. Die Völker Chinas, Spaniens, der Tschechoslowakei, Polens mussten dafür als erste bluten.
Dieser Zweite Weltkrieg und erst recht der »Überfall« auf die Sowjetunion sind ohne den ewigen Drang der feudalen und bürgerlichen Eliten nach Osten nicht denkbar. Insofern ist der Begriff »Überfall« ein Euphemismus. Dieser Krieg wurde von langer Hand von den deutschen Eliten vorbereitet, kaum war die Tinte von Versailles 1919 trocken. Darum gewann dieser Krieg am 22. Juni 1941 eine neue Qualität, die mit der Vorgeschichte dieses Überfalls seit September 1939 in Europa nicht identisch ist. Es ging um Rohstoffe, Getreide, vielleicht Märkte, um billige Arbeitskräfte, idealerweise Sklaven der neuen »Herrenmenschen«. Es war ein Eroberungskrieg mit dem Ziel der totalen Unterwerfung und Kolonisierung des Ostens. Die Menschen dort, in der Sowjetunion, aber auch in Polen oder der Tschechoslowakei sollten Arbeitssklaven werden, auf niedrigstem Lebens- und Bildungsniveau gehalten und im Zweifelsfall Hunger und Mord überantwortet als »nutzlose Esser« und potenzielle Feinde. Wohlgemerkt, es ging nicht nur um Juden, Sinti und Roma, es ging um die Slawen. Es war ein Vernichtungskrieg mit dem Ziel der Unterwerfung und Ausrottung. Leningrad und Moskau sollten ausgehungert und dem Erdboden gleichgemacht werden, über drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene ließen Wehrmacht und SS verrecken, verhungern, ermorden. Das Perfide der faschistischen Ideologie, allerdings auch ihrer Hellsichtigkeit, war die Einsicht, dass die Sowjetbürger potenzielle Träger der kommunistischen Ideologie, einer sozial gerechten, ausbeutungsfreien Gesellschaft waren. Antisowjetismus, Antikommunismus, rassistische Ausmerzungs- und Mordpolitik gingen eine mörderische Symbiose ein. Es war ein Weltanschauungskrieg.
Daran zu erinnern, erscheint heute so dringlich wie eh und je. Denn die weltpolitischen Konfliktlagen lassen keine große Hoffnung keimen, dass aus den Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts die richtigen Lehren gezogen wurden.