Die grauenvollen Nachrichten und Bilder aus dem Rest der Welt überschlagen sich täglich, und alle medial vermittelten Reaktionen darauf muten in unseren Breitengraden als erschreckend inadäquat an, um es euphemistisch auszudrücken. Wo immer offensichtlicher geplante Vertreibungen, wie die von unerwünschten Migranten aus Europa oder die der Bevölkerung Palästinas, die nicht nur in Gaza dezimiert wird, sowie das Sterben der Menschen in der Ukraine und inzwischen auch in Russland – um von vielen anderen Gemetzeln im Jemen, im Sudan und anderswo zu schweigen – verharmlosend als leider notwendige (Kriegs-)Handlungen dargestellt werden, wo die Ungleichheit unter den Menschen auch für die ungezählten Toten gilt, die nicht einmal mehr erinnert werden können, da erlischt das Vertrauen in unsere vielbeschworenen westlichen Werte. Sie erweisen sich mehr und mehr als Heuchelei und zeugen allemal von falschem Bewusstsein,
Im Gegensatz zu den erst äußerst langsam zur allgemeinen Kenntnis genommenen Verbrechen früherer Kriege, ereignen sich die o. g. heute offen vor aller Augen und Ohren. Niemand wird in Zukunft mehr sagen können, davon habe sie oder er nichts gewusst.
Das wichtige Plädoyer von Charlotte Wiedemann für ein zu konstituierendes Weltgedächtnis (2022), das ich erst in diesem Sommer lesen konnte, behandelt vor allem eben jene früher eingravierten Konturen historischer Erfahrungen und deren schwierige Überwindung.
Es geht dabei um die inzwischen wachsende Bewusstheit vielerorts auf der Welt von all dem immensen Unrecht, das Kolonialismus, Rassismus und Kriege in den letzten Jahrhunderten über die Menschheit gebracht haben. Die Autorin versteht es, die komplexe Problematik der Verbrechen in ihren vielfältigen historischen und geografischen Facetten zu benennen und auf jene sensible, eindringliche Weise zu verbinden und zu erhellen, die ihr eigen ist und auch andere ihrer Texte so gut lesbar macht.
Sie nimmt uns mit auf eine »sehr persönliche Reise entlang den großen ethischen Fragen dieser Zeit«, die der Klappentext ankündigt, und führt die Leser tatsächlich rund um den Erdball, jeweils ausgehend von und zurückkehrend zu deutschen Debatten und zur eigenen Befindlichkeit.
Mali, Algerien, Kambodscha, Indonesien, das Baltikum, Tansania, Treblinka, Israel, Palästina, die Ukraine und viele weitere Orte sind Stationen ihrer eigenen Erfahrungen. Sie lernte dort in diversen Kulturen die Perspektiven der Opfer, der Anderen kennen, und dass nur unter deren Einbeziehung die bisher dominanten Täter-Perspektiven aufgebrochen werden können und müssen: Es gilt, den Schmerz der Anderen wahrzunehmen und Empathie zu entwickeln.
Wiedemann stellt diverse Erinnerungen in einen nötigen größeren Zusammenhang. Die Anerkennung von unterschiedlichen Perspektiven setzt ja zunächst überhaupt eine Kenntnisnahme derselben voraus, was zwar eigentlich selbstverständlich sein sollte, es aber aus vielen historisch-politischen Gründen keineswegs ist und heute fast überall blockiert erscheint.
Diverse Beispiele, Quellen, Zitate erläutern diesen Erkenntnisprozess, die Autorin steht dabei nicht über den Dingen, sondern beschreibt, wie ihr eigener Horizont erweitert wurde durch eben diesen Blick auf Andere. Erinnerung wird somit als Prozess verdeutlicht, der vielfältigen Einflüssen unterliegt und kein einmal feststehendes Wissen beinhaltet. Gerade die mühsame, noch immer lückenreiche Erinnerungspolitik in Deutschland wird nur im Kontext sich wandelnder politischer Gegebenheiten verständlich.
Das Ende des 2. Weltkrieges gilt zwar als Nahtstelle der Zeitgeschichte, aber das danach kodifizierte Völkerrecht schließt de facto noch immer einen großen Teil der Weltbevölkerung von der Garantie universaler Menschenrechte aus. Für die Kolonien galt und gilt eine andere Moral, daran haben auch die Erfahrungen des Nationalsozialismus und der Shoah nichts geändert. Damit verbundenes Leid hat sich zwar auch in außereuropäische, nichtwestliche Betrachtungen der Shoah eingeschrieben – bis in die deutsche Debatte darüber, wie sich die Shoah zu den Erfahrungen des Südens mit europäischer Gewalt verhält. Doch es konnte sich lange noch eine Art »weißer Immunität« durchsetzen, eine stillschweigend anerkannte Straflosigkeit der Täter. Bis heute müssen die Opfer der einstigen Kolonialmächte um Anerkennung und eventuelle Entschädigungen streiten und klagen, oft noch immer erfolglos.
Doch nicht nur diese Opfer stoßen auf Schweigen oder Ablehnung. Das Beispiel des Stalag 326 in Stukenbrock bei Bielefeld, das Wiedemann anführt, sei kurz zitiert. In jenem einstigen Kriegsgefangenlager waren unter anderen ca. 180.000 sowjetische Kriegsgefangene registriert, die als Zwangsarbeiter vernutzt wurden und zu einem großen Teil umkamen. Sie zeichnet nach, wie weit Schweigen und Straflosigkeit reichten. Denn erst 2015, siebzig Jahre nach Kriegsende, hat sich die anfangs aggressive Abwehr vonseiten der Bevölkerung des Ortes zur halbherzigen Akzeptanz und schließlich zum pflichtgemäßen Niederlegen eines Kranzes auf dem Friedhof gewandelt. (Ein ausführlicher Bericht darüber von Rolf Surmann ist aktuell auch in der Zeitschrift konkret 6/24 nachzulesen).
Wiedemann unterscheidet zwar zwischen dem jeweiligen Forschungsstand der Historiker und dem Eingang desselben ins öffentliche Bewusstsein, doch in der offiziellen Erinnerungspolitik ging es bisher keineswegs schneller. Das wird nicht zuletzt angesichts der aktuellen Kriegssituation im Osten deutlich: »Um der geschichtlichen Redlichkeit willen« sollten wir uns bewusst machen, was der Nationalsozialismus für die Ukraine bedeutet hat, fordert Wiedemann im Nachwort und erinnert uns: Die deutschen Besatzer haben in der Ukraine dreieinhalb Millionen Zivilisten ermordet, darunter mehr als eine Million jüdische Menschen. Weitere dreieinhalb Millionen starben als Soldaten der Roten Armee oder an den Kriegsfolgen. Insgesamt kam auch mehr als die Hälfte der seit 1941 ca. 5,7 Mio. sowjetischen Kriegsgefangenen in deutschen Lagern zu Tode, als intendierter Teil des Vernichtungskrieges gegen den Osten.
All diese Verbrechen haben bisher wenig Eingang ins offizielle Gedenken in Deutschland gefunden, was sich nicht zuletzt in der Dominanz aktueller anti-russischer Propaganda niederschlägt. Die ukrainischen Städtenamen, die seit zwei Jahren in den Nachrichten auftauchen, lösten denn auch kaum Assoziationen aus, stellt Wiedemann fest, und nun legen sich an denselben Schauplätzen neue Verbrechen über die immer noch unzureichend dokumentierten Spuren der alten.
Ähnliche Parallelen ließen sich auch anderswo nachzeichnen, und Wiedemann führt Beispiele vieler Widerstandskämpfe in Afrika gegen die Unterwerfung seiner Völker durch europäische Invasoren an. Die kosteten mehr als eine Million Tote in Afrika, sind aber im Gedächtnis nicht nur Deutschlands, sondern ganz Europas weitgehend getilgt, sofern sie überhaupt je bewusstwurden. Doch es sind gerade prinzipielle Setzungen von Opfern und Tätern, die im Zentrum der Geschichtsbetrachtung stehen müssen, wenn der grundsätzlich als »Verweigerung von Gleichheit« verstandene Kolonialismus gesühnt und überwunden werden soll. Davon scheinen die Zeiten heute allerdings wieder weiter entfernt, angesichts fortwährender imperialistisch-kolonialer Ambitionen mit ihren militärischen Aktionen, neuen Verbrechen und der erbarmungslosen Ausgrenzung der Nachkommen einst kolonialer Opfer insbesondere aus Afrika.
Der Schlusssatz des Buches setzt denn auch auf einen sehr, sehr langen Atem aller Nachgeborenen: »Eine planetare Ethik, orientiert am gleichen Recht auf Leben, Sicherheit und Glück wird nur von unten heranreifen können.«
Charlotte Wiedemann: Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis, Propyläen, Berlin 2022, 288 S., 22 €.