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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der Schmerz der Anderen

Die grau­en­vol­len Nach­rich­ten und Bil­der aus dem Rest der Welt über­schla­gen sich täg­lich, und alle medi­al ver­mit­tel­ten Reak­tio­nen dar­auf muten in unse­ren Brei­ten­gra­den als erschreckend inad­äquat an, um es euphe­mi­stisch aus­zu­drücken. Wo immer offen­sicht­li­cher geplan­te Ver­trei­bun­gen, wie die von uner­wünsch­ten Migran­ten aus Euro­pa oder die der Bevöl­ke­rung Palä­sti­nas, die nicht nur in Gaza dezi­miert wird, sowie das Ster­ben der Men­schen in der Ukrai­ne und inzwi­schen auch in Russ­land – um von vie­len ande­ren Gemet­zeln im Jemen, im Sudan und anders­wo zu schwei­gen – ver­harm­lo­send als lei­der not­wen­di­ge (Kriegs-)Handlungen dar­ge­stellt wer­den, wo die Ungleich­heit unter den Men­schen auch für die unge­zähl­ten Toten gilt, die nicht ein­mal mehr erin­nert wer­den kön­nen, da erlischt das Ver­trau­en in unse­re viel­be­schwo­re­nen west­li­chen Wer­te. Sie erwei­sen sich mehr und mehr als Heu­che­lei und zeu­gen alle­mal von fal­schem Bewusstsein,

Im Gegen­satz zu den erst äußerst lang­sam zur all­ge­mei­nen Kennt­nis genom­me­nen Ver­bre­chen frü­he­rer Krie­ge, ereig­nen sich die o. g. heu­te offen vor aller Augen und Ohren. Nie­mand wird in Zukunft mehr sagen kön­nen, davon habe sie oder er nichts gewusst.

Das wich­ti­ge Plä­doy­er von Char­lot­te Wie­demann für ein zu kon­sti­tu­ie­ren­des Welt­ge­dächt­nis (2022), das ich erst in die­sem Som­mer lesen konn­te, behan­delt vor allem eben jene frü­her ein­gra­vier­ten Kon­tu­ren histo­ri­scher Erfah­run­gen und deren schwie­ri­ge Überwindung.

Es geht dabei um die inzwi­schen wach­sen­de Bewusst­heit vie­ler­orts auf der Welt von all dem immensen Unrecht, das Kolo­nia­lis­mus, Ras­sis­mus und Krie­ge in den letz­ten Jahr­hun­der­ten über die Mensch­heit gebracht haben. Die Autorin ver­steht es, die kom­ple­xe Pro­ble­ma­tik der Ver­bre­chen in ihren viel­fäl­ti­gen histo­ri­schen und geo­gra­fi­schen Facet­ten zu benen­nen und auf jene sen­si­ble, ein­dring­li­che Wei­se zu ver­bin­den und zu erhel­len, die ihr eigen ist und auch ande­re ihrer Tex­te so gut les­bar macht.

Sie nimmt uns mit auf eine »sehr per­sön­li­che Rei­se ent­lang den gro­ßen ethi­schen Fra­gen die­ser Zeit«, die der Klap­pen­text ankün­digt, und führt die Leser tat­säch­lich rund um den Erd­ball, jeweils aus­ge­hend von und zurück­keh­rend zu deut­schen Debat­ten und zur eige­nen Befindlichkeit.

Mali, Alge­ri­en, Kam­bo­dscha, Indo­ne­si­en, das Bal­ti­kum, Tan­sa­nia, Treb­linka, Isra­el, Palä­sti­na, die Ukrai­ne und vie­le wei­te­re Orte sind Sta­tio­nen ihrer eige­nen Erfah­run­gen. Sie lern­te dort in diver­sen Kul­tu­ren die Per­spek­ti­ven der Opfer, der Ande­ren ken­nen, und dass nur unter deren Ein­be­zie­hung die bis­her domi­nan­ten Täter-Per­spek­ti­ven auf­ge­bro­chen wer­den kön­nen und müs­sen: Es gilt, den Schmerz der Ande­ren wahr­zu­neh­men und Empa­thie zu entwickeln.

Wie­demann stellt diver­se Erin­ne­run­gen in einen nöti­gen grö­ße­ren Zusam­men­hang. Die Aner­ken­nung von unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven setzt ja zunächst über­haupt eine Kennt­nis­nah­me der­sel­ben vor­aus, was zwar eigent­lich selbst­ver­ständ­lich sein soll­te, es aber aus vie­len histo­risch-poli­ti­schen Grün­den kei­nes­wegs ist und heu­te fast über­all blockiert erscheint.

Diver­se Bei­spie­le, Quel­len, Zita­te erläu­tern die­sen Erkennt­nis­pro­zess, die Autorin steht dabei nicht über den Din­gen, son­dern beschreibt, wie ihr eige­ner Hori­zont erwei­tert wur­de durch eben die­sen Blick auf Ande­re. Erin­ne­rung wird somit als Pro­zess ver­deut­licht, der viel­fäl­ti­gen Ein­flüs­sen unter­liegt und kein ein­mal fest­ste­hen­des Wis­sen beinhal­tet. Gera­de die müh­sa­me, noch immer lücken­rei­che Erin­ne­rungs­po­li­tik in Deutsch­land wird nur im Kon­text sich wan­deln­der poli­ti­scher Gege­ben­hei­ten verständlich.

Das Ende des 2. Welt­krie­ges gilt zwar als Naht­stel­le der Zeit­ge­schich­te, aber das danach kodi­fi­zier­te Völ­ker­recht schließt de fac­to noch immer einen gro­ßen Teil der Welt­be­völ­ke­rung von der Garan­tie uni­ver­sa­ler Men­schen­rech­te aus. Für die Kolo­nien galt und gilt eine ande­re Moral, dar­an haben auch die Erfah­run­gen des Natio­nal­so­zia­lis­mus und der Sho­ah nichts geän­dert. Damit ver­bun­de­nes Leid hat sich zwar auch in außer­eu­ro­päi­sche, nicht­west­li­che Betrach­tun­gen der Sho­ah ein­ge­schrie­ben – bis in die deut­sche Debat­te dar­über, wie sich die Sho­ah zu den Erfah­run­gen des Südens mit euro­päi­scher Gewalt ver­hält. Doch es konn­te sich lan­ge noch eine Art »wei­ßer Immu­ni­tät« durch­set­zen, eine still­schwei­gend aner­kann­te Straf­lo­sig­keit der Täter. Bis heu­te müs­sen die Opfer der ein­sti­gen Kolo­ni­al­mäch­te um Aner­ken­nung und even­tu­el­le Ent­schä­di­gun­gen strei­ten und kla­gen, oft noch immer erfolglos.

Doch nicht nur die­se Opfer sto­ßen auf Schwei­gen oder Ableh­nung. Das Bei­spiel des Sta­lag 326 in Stu­ken­b­rock bei Bie­le­feld, das Wie­demann anführt, sei kurz zitiert. In jenem ein­sti­gen Kriegs­ge­fan­gen­la­ger waren unter ande­ren ca. 180.000 sowje­ti­sche Kriegs­ge­fan­ge­ne regi­striert, die als Zwangs­ar­bei­ter ver­nutzt wur­den und zu einem gro­ßen Teil umka­men. Sie zeich­net nach, wie weit Schwei­gen und Straf­lo­sig­keit reich­ten. Denn erst 2015, sieb­zig Jah­re nach Kriegs­en­de, hat sich die anfangs aggres­si­ve Abwehr von­sei­ten der Bevöl­ke­rung des Ortes zur halb­her­zi­gen Akzep­tanz und schließ­lich zum pflicht­ge­mä­ßen Nie­der­le­gen eines Kran­zes auf dem Fried­hof gewan­delt. (Ein aus­führ­li­cher Bericht dar­über von Rolf Sur­mann ist aktu­ell auch in der Zeit­schrift kon­kret 6/​24 nachzulesen).

Wie­demann unter­schei­det zwar zwi­schen dem jewei­li­gen For­schungs­stand der Histo­ri­ker und dem Ein­gang des­sel­ben ins öffent­li­che Bewusst­sein, doch in der offi­zi­el­len Erin­ne­rungs­po­li­tik ging es bis­her kei­nes­wegs schnel­ler. Das wird nicht zuletzt ange­sichts der aktu­el­len Kriegs­si­tua­ti­on im Osten deut­lich: »Um der geschicht­li­chen Red­lich­keit wil­len« soll­ten wir uns bewusst machen, was der Natio­nal­so­zia­lis­mus für die Ukrai­ne bedeu­tet hat, for­dert Wie­demann im Nach­wort und erin­nert uns: Die deut­schen Besat­zer haben in der Ukrai­ne drei­ein­halb Mil­lio­nen Zivi­li­sten ermor­det, dar­un­ter mehr als eine Mil­li­on jüdi­sche Men­schen. Wei­te­re drei­ein­halb Mil­lio­nen star­ben als Sol­da­ten der Roten Armee oder an den Kriegs­fol­gen. Ins­ge­samt kam auch mehr als die Hälf­te der seit 1941 ca. 5,7 Mio. sowje­ti­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen in deut­schen Lagern zu Tode, als inten­dier­ter Teil des Ver­nich­tungs­krie­ges gegen den Osten.

All die­se Ver­bre­chen haben bis­her wenig Ein­gang ins offi­zi­el­le Geden­ken in Deutsch­land gefun­den, was sich nicht zuletzt in der Domi­nanz aktu­el­ler anti-rus­si­scher Pro­pa­gan­da nie­der­schlägt. Die ukrai­ni­schen Städ­te­na­men, die seit zwei Jah­ren in den Nach­rich­ten auf­tau­chen, lösten denn auch kaum Asso­zia­tio­nen aus, stellt Wie­demann fest, und nun legen sich an den­sel­ben Schau­plät­zen neue Ver­bre­chen über die immer noch unzu­rei­chend doku­men­tier­ten Spu­ren der alten.

Ähn­li­che Par­al­le­len lie­ßen sich auch anders­wo nach­zeich­nen, und Wie­demann führt Bei­spie­le vie­ler Wider­stands­kämp­fe in Afri­ka gegen die Unter­wer­fung sei­ner Völ­ker durch euro­päi­sche Inva­so­ren an. Die koste­ten mehr als eine Mil­li­on Tote in Afri­ka, sind aber im Gedächt­nis nicht nur Deutsch­lands, son­dern ganz Euro­pas weit­ge­hend getilgt, sofern sie über­haupt je bewusst­wur­den. Doch es sind gera­de prin­zi­pi­el­le Set­zun­gen von Opfern und Tätern, die im Zen­trum der Geschichts­be­trach­tung ste­hen müs­sen, wenn der grund­sätz­lich als »Ver­wei­ge­rung von Gleich­heit« ver­stan­de­ne Kolo­nia­lis­mus gesühnt und über­wun­den wer­den soll. Davon schei­nen die Zei­ten heu­te aller­dings wie­der wei­ter ent­fernt, ange­sichts fort­wäh­ren­der impe­ria­li­stisch-kolo­nia­ler Ambi­tio­nen mit ihren mili­tä­ri­schen Aktio­nen, neu­en Ver­bre­chen und der erbar­mungs­lo­sen Aus­gren­zung der Nach­kom­men einst kolo­nia­ler Opfer ins­be­son­de­re aus Afrika.

Der Schluss­satz des Buches setzt denn auch auf einen sehr, sehr lan­gen Atem aller Nach­ge­bo­re­nen: »Eine pla­ne­ta­re Ethik, ori­en­tiert am glei­chen Recht auf Leben, Sicher­heit und Glück wird nur von unten her­an­rei­fen können.«

Char­lot­te Wie­demann: Den Schmerz der Ande­ren begrei­fen. Holo­caust und Welt­ge­dächt­nis, Pro­py­lä­en, Ber­lin 2022, 288 S., 22 €.