Als kleiner Junge habe ich regelmäßig den Kinderfunk des WDR gehört. In der Welt des Bergbaus, aus der ich stamme, waren künstlerische Anregungen selten, deshalb war der Kinderfunk für mich eine willkommene Abwechslung. So saß ich denn vor unserem »Loewe Opta«, und bis heute klingt mir die Erkennungsmelodie vom Kuckuck, der aus dem Wald ruft, in den Ohren. Kleine Erzählungen, in die ich mich ganz einfinden konnte, gehörten zum Programm, dazu auch Sachgeschichten. Sie haben meine Kindheit bereichert.
Seit Jahren muss nun festgestellt werden, dass die öffentlich-rechtlichen Sender ihre Kinderprogramme streichen, mindestens eindampfen oder in die Podcasts ins Internet verlagern. Beim Deutschlandradio Kultur läuft der »Kakadu« nur noch sonntags im linearen Hörfunkprogramm, ansonsten als Podcast. Ähnlich beim MDR Kultur, da ist »Figarino« aufgelöst worden. Der Saarländische Rundfunk hatte mal eine tägliche Gute-Nacht-Geschichte, diese Geschichte ist inzwischen längst selbst Geschichte geworden. Die Reihe ließe sich noch lange – leider – fortführen.
Nun soll es einer der erfolgreichsten Kinderhörfunkreihen, die seit über 30 Jahren läuft und Generationen von Kindern bereichert hat, an den Kragen gehen. Dem »Ohrenbär« nämlich, der vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) produziert wird und bisher vom WDR und vom NDR übernommen wurde. Jeden Abend läuft dort eine achtminütige Kindererzählung, oft sind es sieben Folgen, die zu einer Gesamtgeschichte verbunden sind. Prominente Schauspieler lesen die Ohrenbärgeschichten: Leslie Malton, Imogen Kogge, Boris Aljinovic, auch diese Reihe ließe sich lange fortführen. »Ohrenbär« hat also Qualität. Der WDR ist inzwischen schon ausgeschieden, der NDR ziert sich noch, bevor er zugeben wird, dass er bald folgen will. »Der Ohrenbär, der geht jetzt schlafen«, heißt es jeden Abend im Abspann, aber die Fortsetzung des Satzes, dass er nämlich »morgen wieder da ist«, stimmt bald nicht mehr. Der »Ohrenbär« soll gänzlich in einen Dauerschlaf geschickt werden, denn auch der rbb äußert sich nicht klar.
Warum ist das so schlimm? Hörfunkerzählungen schaffen ein Kopfkino, die Bilder entwickeln die Kinder selber, anders als bei Filmen, ihre Phantasie wird angeregt. Aber vielleicht sollen Kinder das gar nicht mehr, Phantasie entwickeln, denn wer Phantasie hat, kann sich die Welt immer auch anders vorstellen, als sie gerade ist. Und das ist manchem vielleicht zu brisant.
Ansonsten wird von den Rundfunkmachern argumentiert, dass Kinder gar nicht mehr in der Lage seien, eine achtminütige Erzählstrecke durchzuhalten. Woher sie das wissen, bleibt ihr Geheimnis, sicher ist jedenfalls, wenn es mit den Kindern nicht geübt wird, können sie es bald wirklich nicht mehr. Vor allem gilt: Wenn diese Annahme stimmen würde, müssten Kindern doch gerade längere Erzählstrecken angeboten werden.
Oft wird über die fehlende Sprachkompetenz der Jugend gestöhnt. Ihr Wortschatz sei gering, Kinder und Jugendliche seien nicht mehr in der Lage, Texte von ein, zwei Seiten zu lesen, die Rechtschreibleistung sei sowieso katastrophal. Aber woher soll Sprachkompetenz kommen, woher Leselust, wenn die Bereiche, in denen sie erworben werden, abgebaut werden? Kompetenzentwicklung ist als ein Gesamtsystem zu sehen, in dem der Kinderhörfunk einen Baustein bildet, der Lust auf Lesen weckt und den Sprachschatz erweitert.
Zeitungsverleger, die über sinkende Auflagen stöhnen, Unternehmer, die bei den Auszubildenden Mängel im Sprach-, vor allem auch Schreibvermögen beklagen, Universitätsprofessoren, die niveaulose Seminararbeiten eingereicht bekommen – haben sie eigentlich mal über die Zusammenhänge nachgedacht? Nein, sie sehen immer nur die Einzelphänomene, nicht das Gesamtpaket.
Dazu gehört auch, dass demnächst, wenn wieder mal über brutale Auftritte von Jugendlichen berichtet wird, als Erklärung angeboten wird, dass ihnen Empathie fehle, sonst würden sie ja nicht so rücksichtslos auf andere Menschen einschlagen. Ja, wo um Himmels Willen sollen sie denn lernen, Empathie zu empfinden, wenn nicht mit anregenden Geschichten, mit Charakteren, in die sie sich hineinversetzen können, mit denen sie leiden oder sich freuen können? Bei den RTL-Serien etwa, bei den Gewaltfilmen im Kino oder Internet?
Beim Kinderfunk wird an einer wichtigen Stelle abgebaut, oft unter dem Vorwand, Geld sparen zu müssen, und es werden die vielfältigen Folgen nicht bedacht. Nur wenn sie dann eintreten, sind alle erstaunt, sehen aber noch immer nicht den Zusammenhang.
Tatsächlich sind es geringe Summen, die der Kinderfunk kostet. Es wird mal wieder, wie allgemein in der Gesellschaft, bei den Schwächsten gespart.
Der PEN hat heftig gegen den Abbau des Kinderfunks protestiert, gut so. Der Verband tut das im Interesse der Kinder, aber auch ein wenig für seine Autoren, die Kindergeschichten für den Funk schreiben und denen eine wichtige Einnahmequelle wegbricht. Auch dies gehört zum Gesamtpaket.
Und nicht zuletzt gehört dazu, dass es für Kinder einfach schön ist, mit einer Gute-Nacht-Geschichte, in die man sich wunderbar hineindenken kann, einzuschlafen. Das bereichert die Träume, das bereichert Kindheit allgemein, ganz zweckfrei, und es hat Nebenfolgen, die im späteren Leben in vielen Zusammenhängen helfen.
Wer bremst die Radiomacher in ihrer oberflächlichen Zerstörungswut? Manchmal lässt einen diese Oberflächlichkeit verzweifeln.