Den Unterstützern des europäischen Integrationsprozesses ist bewusst, dass der Nationalismus Katalysator für grausame Verbrechen, Elend und Zerstörung war. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es das oberste Gebot, für Frieden in Europa zu sorgen. Die Idee der europäischen Integration basiert auf genau diesem Friedensanspruch und darauf, dem Nationalismus den Nährboden zu entziehen. Klar war den Gründern der europäischen Idee, dass dies nur gelingen kann, wenn die europäischen Nationen ihre Souveränität reduzieren und analog neue supranationale Strukturen geschaffen werden. Mit dem Schengen-Abkommen, der Einführung des Euros als gemeinsame Währung und dem europäischen Binnenmarkt wurden Entgrenzungsprozesse in Gang gesetzt, die die Europäer enger zusammenbrachten.
Dennoch erleben wir seit einigen Jahren, dass der Nationalismus in vielen Ländern wieder zunimmt. Österreich, Frankreich, Deutschland, Italien, Niederlande, Ungarn, Polen – in Europa haben nationale Kräfte in den vergangenen Jahren deutliche Stimmgewinne bei Wahlen verzeichnet. Gepaart mit dem nationalen Gedankengut sind zumeist ein ausgeprägter Europaskeptizismus und Ethnozentrismus. Die eigene Nation wird gegenüber anderen Nationen überhöht; das eigene, vermeintlich homogene Nationalvolk als überlegen betrachtet. Nicht nur auf staatlicher, sondern ebenso auf regionaler Ebene formieren sich nationalistische Bestrebungen: so wie bei den Bewegungen im Baskenland, in Katalonien, auf Korsika oder in Nordirland.
Nationalistische Bewegungen prägen demokratische Systeme und stellen für diese eine erhebliche Herausforderung dar. Nationalistische Ideologien fördern auf der einen Seite gemeinsame Werte und Identitäten, folglich können sie die Entwicklung sozialer Solidarität zwischen denjenigen, die der »Nation« angehören, begünstigen. Diese Zugehörigkeit begründet sich meist aufgrund von einer geglaubten gemeinsamen Abstammung, Kultur oder Sprache. Auf der anderen Seite legitimieren nationalistische Werte Diskriminierung und schließen Menschen aus.
Vielfach wird diese Ideologie zum individuellen politischen Machterhalt genutzt. Sie verspricht leichte Antworten auf komplexe Fragestellungen. Das Festhalten an nationalen Ideologien liegt aber auch daran, dass ein Europa ohne Nationen für viele unvorstellbar ist. Wählbar scheinen insbesondere Politiker, die sich für die vermeintlichen nationalen und regionalen Interessen einsetzen. Der Nationalismus wird denn auch von der politischen Mitte und nicht nur von rechten Rädern unterstützt.
Die Vergangenheit hat aber auch gezeigt, dass vieles, was unvorstellbar erschien, doch eingetreten ist. So hat die ETA im Baskenland nach jahrzehntelangem Terror die Waffen niedergelegt, in Nordirland setzte ein Friedenprozess ein, die Sowjetunion implodierte, und die Berliner Mauer fiel.
Eine Nation mit Potenzial muss laut Keating, einem Professor der Universität Aberdeen, verschiedene Bedingungen erfüllen, die sich vier Dimensionen zuordnen lassen. Dazu gehören:
die ökonomische Dimension mit internationaler Wettbewerbsfähigkeit;
die soziale Dimension mit der Förderung und Aufrechterhaltung der sozialen Integration;
die kulturelle Dimension mit der Förderung und Aufrechterhaltung einer kollektiven Identität, Sprache sowie Kultur und
die politische Dimension mit der Installation eines legitimierten Systems, so dass die Nation imstande ist, politische Aufgaben, Probleme und Fragen in einer akzeptierten Weise zu lösen.
Schaut man sich die Bedingungen an, muss man zweifelsohne feststellen, dass die nationalistische Ideologie ausgedient hat und ihr Potenzial erschöpft ist. Die Grenzziehungen zwischen denjenigen, die dazugehören, und denen, die ausgeschlossen bleiben, verhindern letztlich eine fruchtbare soziale Integration, das Herausbilden gemeinsamer Identitäten und die Option, Aufgaben sowie Probleme in einer adäquaten und anerkannten Weise zu lösen.
Stattdessen fragmentieren nationalistische Bestrebungen Gesellschaften, indem sie eingrenzend, begrenzend und ausgrenzend wirken. Ökonomisch betrachtet, verhindern Eingrenzungen, Begrenzungen und Ausgrenzungen darüber hinaus eine internationale Wettbewerbsfähigkeit. Längst ist unser Leben supranational geprägt. Sicherheit, Klimaschutz, Lieferketten und wirtschaftliche Verwobenheit – all diese Themen machen nicht vor nationalen Grenzziehungen halt. Die Vorstellungen von der eigenständigen, gar autarken Nation müssten objektiv betrachtet eigentlich längst der Vergangenheit angehören.
Obgleich die nationalistische Idee ausgedient haben müsste, erlebt sie eine Renaissance. Vergleicht man die Genese und Entwicklungswege nationalistischer Bewegungen, lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede finden. Sie können Aufschlüsse darüber geben, was den Nationalismus katalysiert und prägt.
Grundsätzlich begünstigen kollektive Identitätsprobleme die Entstehung nationalistischen Bestrebens; das haben komparative Analysen solcher Bewegungen ergeben. Dabei können sich die Faktoren, die diese kollektiven Identitätsprobleme begünstigen, durchaus unterscheiden. Das können u. a. empfundene Repressionen, sozioökonomische Strukturveränderungen, die Angst vor einer vermeintlichen Reduktion gemeinsamer Wert- und Identitätsmuster, das Gefühl des Verlusts sozialer Verbundenheit, eine als ungerecht empfundene Ressourcenverteilung und Benachteiligung, eine kollektiv empfundene Unzufriedenheit oder die Angst vor einem Reduktionismus kulturell empfundener Andersartigkeit sein.
Will man nationalistischen Ideologien begegnen, müssen also, sehr viel entschiedener als bisher, die genannten Ursachen, die die Genese und Entwicklungswege nationalistischer Bestrebungen prägen, in den Fokus rücken. Supranationale Strukturen müssen verstärkt Antworten auf ökonomische, soziale, kulturelle und politische Herausforderungen in einer akzeptierten Art und Weise finden und ein Miteinander fördern sowie Identitätsanker bieten.
Problematisch ist es insbesondere, wenn große Teile der Bevölkerung nicht partizipieren. Dadurch werden Demokratien langfristig instabil. Besonders prekär wird es, wenn Menschen ihre Hoffnung auf soziale Mobilität verlieren. Wenn sie sich langfristig aufgrund von mangelnden Erfolgsaussichten aus Politik, Zivilgesellschaft und dem Arbeitsmarkt verabschieden, reduziert sich auch die gesamtgesellschaftliche Leistungsfähigkeit; Gesellschaft wird fragil. Bei einer 2013 erfolgten Erhebung haben erstmals seit 1955 mehr Menschen das Gefühl: »Die einen sind oben, die anderen sind unten.« Bis 2013 sind die meisten Befragten noch der Ansicht, dass jeder seines Glückes Schmied sei. Der Glaube an die soziale Mobilität geht verloren. Sofern der Glaube an sie nicht mehr existent ist, wird sie real auch immer seltener werden. Die Folge sind dann die kollektiven Identitätsprobleme, die nationalistische Bestrebungen begünstigen.