Die meisten von uns blicken erschrocken auf das Geschehen im Nahen Osten seit dem 7. Oktober. Wir wollen keine Gewalt, kein gegenseitiges Gemetzel, keinen Krieg, keine toten Kinder und Frauen und Männer, keine zerfetzten Körper und keine vergewaltigten Frauen. Folgerichtig stellen wir die Frage nach Möglichkeiten, die Gewalt zu beenden oder zu verhindern, wünschen uns zivile Lösungen für Konflikte, zwischenmenschlich und international. Dabei berufen wir uns gern auf unsere Moral und unseren Humanismus.
Judith Butler ist bemüht, sich in einem Text mit dem Titel »Der Kompass des Trauerns« (London Reviews of Book, Vol. 45, No. 20, 19.10.2023, deutsch: in (Freitag, 42/2023, 19.10.2023) mithilfe moralischer Koordinaten den Ereignissen im Nahen Osten zu nähern, verdichtet in dem Satz: »Es muss unsere moralische Haltung nicht bedrohen, wenn wir uns etwas Zeit nehmen, um etwas über die Geschichte der kolonialen Gewalt zu lernen.« Ihre Worte machen einen Widerspruch sichtbar, der nicht nur ihren Text durchzieht, sondern auf unsere westliche Doppel-Moral verweist, die Claudia Rankine in ihrem Büchlein »Citizen«, in dem ich zufällig zeitgleich las, unerbittlich als eine unserer Lebenslügen entlarvt: Die herrschende Moral, drängen ihre Worte in unser Denken und unser Fühlen, ist die der Herrschenden, zu denen wir Bewohner des Nord-Westens gehören, wie die Israelis, mit denen wir gemeinsam im moralgetriebenen Boot sitzen. Zugleich werden wir von ihr beherrscht, denn wir müssen uns ihr unterwerfen, wenn wir in dieser Gesellschaft überleben, also nicht exkommuniziert oder ausgestoßen werden wollen. Wir alle stecken in der Falle der humanistisch-aufklärerischen Moral, was wir spätestens zu spüren bekommen und begreifen können, wenn sie – nicht nur – gewaltsames Aufbegehren gegen unerträgliche Lebensverhältnisse delegitimiert.
Als ich vor sechs Jahrzehnten »Die Verdammten dieser Erde« von Frantz Fanon las und das Vorwort von Jean-Paul Sartre, und als ich über die Gräuel des Vietnamkrieges gehört und gelesen hatte, veränderten sich nicht nur meine Gedanken, sondern auch meine Gefühle: Ich begann zu spüren, wie und weshalb der Hass der Kolonisierten so unbezähmbar war, und welche Verzweiflung dazu führte, sich untereinander anzugreifen, wenn sie ihn nicht gegen ihre Peiniger richten konnten. Ich begann, mich meinen eigenen Widersprüchen als Kolonialherr zu nähern. In der Verzweiflung, die Franco Basaglia im Nachwort zu dem Buch »Die negierte Institution oder Die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen« niederschrieb, fand ich mich wieder, spürte meine Ohnmacht: Es gibt keinen Ausweg aus dem Dilemma, als politischer Mensch Widerstand gegen die Folgen zerstörerischer Lebensumstände zu leisten und zugleich in der Rolle des Gesundheitsarbeiters – ähnlich Basaglia und Fanon – innerhalb des Systems an Anpassungsprojekten beteiligt zu sein. Sonst bliebe, so Franco Basaglia, nur der Weg Frantz Fanons, selbst zur Waffe zu greifen und mit den Kolonisierten für ihre Befreiung zu kämpfen, der uns versperrt ist.
Aus gutem Grund, wie die RAF offenkundig gemacht hatte, die in einer moralisch-politischen Sackgasse strandete: Ihre Begründung, ein System zu bekämpfen, dessen Substanz weltweite Ausbeutung und Unterdrückung sind, war plausibel und zwingend, aber es in einem Guerilla-Kampf dort überwinden zu wollen, wo es jahrhundertelang seine auf geraubten Reichtümern fest verankerten Fundamente in die Geschichte gerammt hatte, blieb bigott und ohne Bezug zu den Wurzeln systemischer Gewalt. »Wir können uns die Motive für den Widerstand nicht von den Unterdrückten ausleihen, wir brauchen«, so hatte es Basaglia in seinem Buch »Befriedungsverbrechen« ausgedrückt, »eigene Motive für den gemeinsamen Kampf mit ihnen.« Die gab es damals nicht, es gibt sie bis heute nicht. Kolonialismus, Apartheid und Rassismus tragen mehr denn je unseren eigenen Wohlstand und das eigene selbstgefällige Zivilisationsbewusstsein, zusammengeflickt aus globalem Diebesgut. Wir heucheln heute internationale Partnerschaften, wo wir nach wie vor Raubzüge und Ausbeutung meinen, rassistisch und kolonialistisch in modernem Gewande – und mit einem für unsere Opfer hoffnungslos überlegenen Arsenal an Gewaltpotenzial vorerst gesichert. Die modernen Sprachregelungen und Verfahrensweisen verdecken unseren Neo-Kolonialismus elegant und selbstbetrügerisch, und wenn sie uns nicht mehr hinreichend schützen, verdichten wir sie zu einer mörderischen Abwehr der vor uns zu uns flüchtenden Menschen, die von aufgeklärten und liberalen Geistern zwar verbal vehement verurteilt, aber letztlich so phlegmatisch wie dankbar hingenommen wird. Die Flucht, zu der diese dauerhaft nicht zu ertragende Gefährdung ihres Daseins Menschen zwingt, endet für viele in Massengräbern und vor Mauern und Zäunen, die unsere Antwort auf ihre Ausweglosigkeit sind.
Wir bleiben sicher, denn Flüchtlinge kommen nicht mit Kriegsbeil und Pfeil und Bogen, schon gar nicht mit Bomben und Panzerfäusten. Wir wissen nur zu gut, dass wir sie jahrhundertelang hinreichend ausgebeutet und ihrer Ressourcen beraubt haben, so dass sie sich die Mittel, uns für das zu bestrafen, was wir ihnen angetan haben, nicht leisten können. Wäre es anders, lebten wir längst in Angst und Schrecken und würden um unsere Leben fürchten – aber auch diese Gefühle existenzieller Bedrohungen, ergänzt durch Ohnmacht und Hilflosigkeit, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, haben wir ihnen zugeschoben.
Die scheinbar selbstkritische Schlussfolgerung, unsere westliche Moral würde im Mittelmeer gleich mit absaufen oder in Stacheldrahtzäunen zerfetzt, stimmt und ist zugleich ein raffinierter Trick zur eigenen Entlastung. Moral ist kein universelles Leitbild, dem die Entwicklung der menschlichen Gattung gefolgt wäre, sondern Ergebnis epochaler und materieller Existenzbedingungen. Unsere westliche Moral halten wir, kolonialistisch und rassistische verbohrt, selbstverständlich für ein humanistisches Gebot, das wir gern allen Menschen als verbindlich überstülpen würden. Die Moral der Hoffnungslosigkeit aber hat andere Wurzeln und andere Konsequenzen, denn sie dient denjenigen, denen wir Gewalt Ausbeutung, Unterdrückung, Völkermorde angetan haben, als Rechtfertigung für ihre gewalttätigen Antworten: Befreiungskämpfe sind blutig. Wenn wir ihnen mit unserer Moral begegnen, verfolgen wir das Ziel einer doppelten Immunisierung, wie tiefschürfend und edelmütig ihre Begründung auch sein möge: Wir versuchen, uns vor den materiellen, sozialen und psychischen Reparationsforderungen der von uns gequälten, beraubten, missachteten Menschen vor allem südlich des Äquators zu schützen, und wir wappnen uns gegen die Selbstentblößung als die eigentlichen De-Moralisierten.
Was haben Fanon und Basaglia und Sartre und wir Kolonisten mit dem Krieg im Nahen Osten zu tun? Wer die Lage der Palästinenser, vor allem der in Gaza lebenden, ohne irgendeine beschönigende Brille betrachtet oder nicht von irgendwelchen politisch-korrekten Interessen vernebelt ist, muss treffend von Kolonialismus und rassistischer Apartheid durch die israelische Politik sprechen, wie Judith Butler es tut. Welche Hoffnung sollen Menschen woher nehmen und mit eigenen moralischen Maßstäben abgleichen, die in Gaza leben und erleben, wie Kritik an willkürlichen Übergriffen israelischer SoldatInnen und Vertreibungen durch Siedler mithilfe der israelischen Armee im Westjordanland, von Europäern und Amerikanern als antisemitisch entkernt wird? Die Erfahrungen der Palästinenser in den letzten Jahrzehnten sind geprägt von der Gewalt, die Judith Butler eindrücklich beschreibt und an der ihre Moral zerschellt. Blicken wir aus palästinensischer Perspektive, sehen wir ein waffenstrotzendes und sein Gewaltpotenzial gezielt einsetzendes Israel. Wir sehen eine westliche Politik, die an einer Befriedung der Palästinenser, also einer Zwei-Staaten-Lösung, nicht interessiert ist, von gelegentlichen mahnenden Floskeln abgesehen. Wir sehen eine arabische Welt, deren Interesse an den Palästinensern gering ist – wer den Libanon besucht und die palästinensischen Slums am Stadtrand von Beirut gesehen und die verächtlichen Worte libanesischer über ihre arabischen Nachbarn gehört hat, gewinnt eine Vorstellung. Gibt es einen Satz, eine Geste, eine entschlossene Initiative etwa seit der Jahrtausendwende, die irgendeinem Palästinenser hätte Hoffnung machen können? Substanziell verbindet uns mit Israel nicht irgendeine inhaltliche kaum fassbare Staatsräson, sondern die Tatsache, dass auch wir im globalen Nord-Westen Lebenden nach wie vor die Profiteure kolonialistischer und rassistischer Politik und Gewalt in einem kaum abschätzbaren Ausmaß sind. Die Lehre aus der Geschichte der letzten Jahrzehnte für jeden einzelnen Palästinenser lautet: Euch wird niemand helfen – helft euch selbst.
Mit Blick auf Hamas oder Hisbollah ist es an der Zeit, unsere Argumente moralisch zu recyceln. Solange die Kolonialisten im Nord-Westen jede manifeste oder subtile Form der Gewalt gegen die Menschen in Afrika, in Mittel- und Südamerika, in Asien und auch im Nahen Osten für rechtens halten, wird es keine friedlichen Lösungen geben; solange sie ihre ökonomische und militärisch Macht ungestraft ausüben und zur Rechtfertigung ihres Tuns oder zur Verurteilung von Gegenwehr die Moralkeule schwingen, werden sie sich auf befreiende Gewalt, deren moralische Begründung sie selbst letztlich geliefert haben, einstellen müssen. Wir sollten die Gewalt der Hamas als eine so schreckliche wie angemessene Äußerung der Moral der Unterdrückten und Ausgegrenzten begreifen, für die es nur ein Ethos geben kann: mit allen Mitteln frei werden, Hoffnung haben. Indien, Brasilien, afrikanische und andere Länder in Mittelamerika setzen sich auf ihre Weise und durchaus effektiv zur Wehr. Die Palästinenser aber sind das vergessene Volk, seit fast achtzig Jahren.
Wir sollten begreifen, dass wir alle, mögen wir uns noch so kritisch oder ablehnend gegenüber dem Drangsalieren eines ganzen Volkes wähnen, mitverantwortlich für die Gräuel sind, die wir jetzt erleben: Aus dieser Einsicht könnte eine nicht mehr kolonialistisch und rassistisch, sondern tatsächlich eine universell begründetet Moral entstehen. Sie wäre eine Basis für Annäherung an die Palästinenser, an die Hamas und die Hisbollah, für friedliche Lösungen, nach denen Judith Butler zu Recht fragt. Aber hat sie, haben wir uns für das Lebensrecht der Palästinenser so entschlossen und unnachgiebig eingesetzt, dass bei ihnen Hoffnung hätte keimen können? Ein gleichberechtigtes Miteinander, fairer Handel, respektvolle Begegnungen auf allen menschlichen, sozialen und politischen Ebenen, die Grundlage gemeinsamer moralischer Haltung sein könnten, haben wir nicht anzubieten. Solange neo-kolonialistische Interventionen und rassistische Missachtung von Interessen, Bedürfnissen und Leidensprozessen der Menschen im Süden wie im Nahen Osten das Denken und Verhalten der Menschen im Nord-Westen prägen, mutatis mutandis ohne Ausnahme, werden wir vielleicht 500 Jahre der eigenen Qualen und Ängste vor uns haben. Judith Butler hat sich vor dieser Einsicht gedrückt, Claudia Rankine hat ihre Unausweichlichkeit in aufrüttelnde Worte gekleidet.