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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der Nahe Osten und die Moral

Die mei­sten von uns blicken erschrocken auf das Gesche­hen im Nahen Osten seit dem 7. Okto­ber. Wir wol­len kei­ne Gewalt, kein gegen­sei­ti­ges Gemet­zel, kei­nen Krieg, kei­ne toten Kin­der und Frau­en und Män­ner, kei­ne zer­fetz­ten Kör­per und kei­ne ver­ge­wal­tig­ten Frau­en. Fol­ge­rich­tig stel­len wir die Fra­ge nach Mög­lich­kei­ten, die Gewalt zu been­den oder zu ver­hin­dern, wün­schen uns zivi­le Lösun­gen für Kon­flik­te, zwi­schen­mensch­lich und inter­na­tio­nal. Dabei beru­fen wir uns gern auf unse­re Moral und unse­ren Humanismus.

Judith But­ler ist bemüht, sich in einem Text mit dem Titel »Der Kom­pass des Trau­erns« (Lon­don Reviews of Book, Vol. 45, No. 20, 19.10.2023, deutsch: in (Frei­tag, 42/​2023, 19.10.2023) mit­hil­fe mora­li­scher Koor­di­na­ten den Ereig­nis­sen im Nahen Osten zu nähern, ver­dich­tet in dem Satz: »Es muss unse­re mora­li­sche Hal­tung nicht bedro­hen, wenn wir uns etwas Zeit neh­men, um etwas über die Geschich­te der kolo­nia­len Gewalt zu ler­nen.« Ihre Wor­te machen einen Wider­spruch sicht­bar, der nicht nur ihren Text durch­zieht, son­dern auf unse­re west­li­che Dop­pel-Moral ver­weist, die Clau­dia Ran­ki­ne in ihrem Büch­lein »Citi­zen«, in dem ich zufäl­lig zeit­gleich las, uner­bitt­lich als eine unse­rer Lebens­lü­gen ent­larvt: Die herr­schen­de Moral, drän­gen ihre Wor­te in unser Den­ken und unser Füh­len, ist die der Herr­schen­den, zu denen wir Bewoh­ner des Nord-Westens gehö­ren, wie die Israe­lis, mit denen wir gemein­sam im moral­ge­trie­be­nen Boot sit­zen. Zugleich wer­den wir von ihr beherrscht, denn wir müs­sen uns ihr unter­wer­fen, wenn wir in die­ser Gesell­schaft über­le­ben, also nicht exkom­mu­ni­ziert oder aus­ge­sto­ßen wer­den wol­len. Wir alle stecken in der Fal­le der huma­ni­stisch-auf­klä­re­ri­schen Moral, was wir spä­te­stens zu spü­ren bekom­men und begrei­fen kön­nen, wenn sie – nicht nur – gewalt­sa­mes Auf­be­geh­ren gegen uner­träg­li­che Lebens­ver­hält­nis­se delegitimiert.

Als ich vor sechs Jahr­zehn­ten »Die Ver­damm­ten die­ser Erde« von Frantz Fanon las und das Vor­wort von Jean-Paul Sart­re, und als ich über die Gräu­el des Viet­nam­krie­ges gehört und gele­sen hat­te, ver­än­der­ten sich nicht nur mei­ne Gedan­ken, son­dern auch mei­ne Gefüh­le: Ich begann zu spü­ren, wie und wes­halb der Hass der Kolo­ni­sier­ten so unbe­zähm­bar war, und wel­che Ver­zweif­lung dazu führ­te, sich unter­ein­an­der anzu­grei­fen, wenn sie ihn nicht gegen ihre Pei­ni­ger rich­ten konn­ten. Ich begann, mich mei­nen eige­nen Wider­sprü­chen als Kolo­ni­al­herr zu nähern. In der Ver­zweif­lung, die Fran­co Basa­glia im Nach­wort zu dem Buch »Die negier­te Insti­tu­ti­on oder Die Gemein­schaft der Aus­ge­schlos­se­nen« nie­der­schrieb, fand ich mich wie­der, spür­te mei­ne Ohn­macht: Es gibt kei­nen Aus­weg aus dem Dilem­ma, als poli­ti­scher Mensch Wider­stand gegen die Fol­gen zer­stö­re­ri­scher Lebens­um­stän­de zu lei­sten und zugleich in der Rol­le des Gesund­heits­ar­bei­ters – ähn­lich Basa­glia und Fanon – inner­halb des Systems an Anpas­sungs­pro­jek­ten betei­ligt zu sein. Sonst blie­be, so Fran­co Basa­glia, nur der Weg Frantz Fanons, selbst zur Waf­fe zu grei­fen und mit den Kolo­ni­sier­ten für ihre Befrei­ung zu kämp­fen, der uns ver­sperrt ist.

Aus gutem Grund, wie die RAF offen­kun­dig gemacht hat­te, die in einer mora­lisch-poli­ti­schen Sack­gas­se stran­de­te: Ihre Begrün­dung, ein System zu bekämp­fen, des­sen Sub­stanz welt­wei­te Aus­beu­tung und Unter­drückung sind, war plau­si­bel und zwin­gend, aber es in einem Gue­ril­la-Kampf dort über­win­den zu wol­len, wo es jahr­hun­der­te­lang sei­ne auf geraub­ten Reich­tü­mern fest ver­an­ker­ten Fun­da­men­te in die Geschich­te gerammt hat­te, blieb bigott und ohne Bezug zu den Wur­zeln syste­mi­scher Gewalt. »Wir kön­nen uns die Moti­ve für den Wider­stand nicht von den Unter­drück­ten aus­lei­hen, wir brau­chen«, so hat­te es Basa­glia in sei­nem Buch »Befrie­dungs­ver­bre­chen« aus­ge­drückt, »eige­ne Moti­ve für den gemein­sa­men Kampf mit ihnen.« Die gab es damals nicht, es gibt sie bis heu­te nicht. Kolo­nia­lis­mus, Apart­heid und Ras­sis­mus tra­gen mehr denn je unse­ren eige­nen Wohl­stand und das eige­ne selbst­ge­fäl­li­ge Zivi­li­sa­ti­ons­be­wusst­sein, zusam­men­ge­flickt aus glo­ba­lem Die­bes­gut. Wir heu­cheln heu­te inter­na­tio­na­le Part­ner­schaf­ten, wo wir nach wie vor Raub­zü­ge und Aus­beu­tung mei­nen, ras­si­stisch und kolo­nia­li­stisch in moder­nem Gewan­de – und mit einem für unse­re Opfer hoff­nungs­los über­le­ge­nen Arse­nal an Gewalt­po­ten­zi­al vor­erst gesi­chert. Die moder­nen Sprach­re­ge­lun­gen und Ver­fah­rens­wei­sen ver­decken unse­ren Neo-Kolo­nia­lis­mus ele­gant und selbst­be­trü­ge­risch, und wenn sie uns nicht mehr hin­rei­chend schüt­zen, ver­dich­ten wir sie zu einer mör­de­ri­schen Abwehr der vor uns zu uns flüch­ten­den Men­schen, die von auf­ge­klär­ten und libe­ra­len Gei­stern zwar ver­bal vehe­ment ver­ur­teilt, aber letzt­lich so phleg­ma­tisch wie dank­bar hin­ge­nom­men wird. Die Flucht, zu der die­se dau­er­haft nicht zu ertra­gen­de Gefähr­dung ihres Daseins Men­schen zwingt, endet für vie­le in Mas­sen­grä­bern und vor Mau­ern und Zäu­nen, die unse­re Ant­wort auf ihre Aus­weg­lo­sig­keit sind.

Wir blei­ben sicher, denn Flücht­lin­ge kom­men nicht mit Kriegs­beil und Pfeil und Bogen, schon gar nicht mit Bom­ben und Pan­zer­fäu­sten. Wir wis­sen nur zu gut, dass wir sie jahr­hun­der­te­lang hin­rei­chend aus­ge­beu­tet und ihrer Res­sour­cen beraubt haben, so dass sie sich die Mit­tel, uns für das zu bestra­fen, was wir ihnen ange­tan haben, nicht lei­sten kön­nen. Wäre es anders, leb­ten wir längst in Angst und Schrecken und wür­den um unse­re Leben fürch­ten – aber auch die­se Gefüh­le exi­sten­zi­el­ler Bedro­hun­gen, ergänzt durch Ohn­macht und Hilf­lo­sig­keit, Ver­zweif­lung und Hoff­nungs­lo­sig­keit, haben wir ihnen zugeschoben.

Die schein­bar selbst­kri­ti­sche Schluss­fol­ge­rung, unse­re west­li­che Moral wür­de im Mit­tel­meer gleich mit absau­fen oder in Sta­chel­draht­zäu­nen zer­fetzt, stimmt und ist zugleich ein raf­fi­nier­ter Trick zur eige­nen Ent­la­stung. Moral ist kein uni­ver­sel­les Leit­bild, dem die Ent­wick­lung der mensch­li­chen Gat­tung gefolgt wäre, son­dern Ergeb­nis epo­cha­ler und mate­ri­el­ler Exi­stenz­be­din­gun­gen. Unse­re west­li­che Moral hal­ten wir, kolo­nia­li­stisch und ras­si­sti­sche ver­bohrt, selbst­ver­ständ­lich für ein huma­ni­sti­sches Gebot, das wir gern allen Men­schen als ver­bind­lich über­stül­pen wür­den. Die Moral der Hoff­nungs­lo­sig­keit aber hat ande­re Wur­zeln und ande­re Kon­se­quen­zen, denn sie dient den­je­ni­gen, denen wir Gewalt Aus­beu­tung, Unter­drückung, Völ­ker­mor­de ange­tan haben, als Recht­fer­ti­gung für ihre gewalt­tä­ti­gen Ant­wor­ten: Befrei­ungs­kämp­fe sind blu­tig. Wenn wir ihnen mit unse­rer Moral begeg­nen, ver­fol­gen wir das Ziel einer dop­pel­ten Immu­ni­sie­rung, wie tief­schür­fend und edel­mü­tig ihre Begrün­dung auch sein möge: Wir ver­su­chen, uns vor den mate­ri­el­len, sozia­len und psy­chi­schen Repa­ra­ti­ons­for­de­run­gen der von uns gequäl­ten, beraub­ten, miss­ach­te­ten Men­schen vor allem süd­lich des Äqua­tors zu schüt­zen, und wir wapp­nen uns gegen die Selbst­ent­blö­ßung als die eigent­li­chen De-Moralisierten.

Was haben Fanon und Basa­glia und Sart­re und wir Kolo­ni­sten mit dem Krieg im Nahen Osten zu tun? Wer die Lage der Palä­sti­nen­ser, vor allem der in Gaza leben­den, ohne irgend­ei­ne beschö­ni­gen­de Bril­le betrach­tet oder nicht von irgend­wel­chen poli­tisch-kor­rek­ten Inter­es­sen ver­ne­belt ist, muss tref­fend von Kolo­nia­lis­mus und ras­si­sti­scher Apart­heid durch die israe­li­sche Poli­tik spre­chen, wie Judith But­ler es tut. Wel­che Hoff­nung sol­len Men­schen woher neh­men und mit eige­nen mora­li­schen Maß­stä­ben abglei­chen, die in Gaza leben und erle­ben, wie Kri­tik an will­kür­li­chen Über­grif­fen israe­li­scher Sol­da­tIn­nen und Ver­trei­bun­gen durch Sied­ler mit­hil­fe der israe­li­schen Armee im West­jor­dan­land, von Euro­pä­ern und Ame­ri­ka­nern als anti­se­mi­tisch ent­kernt wird? Die Erfah­run­gen der Palä­sti­nen­ser in den letz­ten Jahr­zehn­ten sind geprägt von der Gewalt, die Judith But­ler ein­drück­lich beschreibt und an der ihre Moral zer­schellt. Blicken wir aus palä­sti­nen­si­scher Per­spek­ti­ve, sehen wir ein waf­fen­strot­zen­des und sein Gewalt­po­ten­zi­al gezielt ein­set­zen­des Isra­el. Wir sehen eine west­li­che Poli­tik, die an einer Befrie­dung der Palä­sti­nen­ser, also einer Zwei-Staa­ten-Lösung, nicht inter­es­siert ist, von gele­gent­li­chen mah­nen­den Flos­keln abge­se­hen. Wir sehen eine ara­bi­sche Welt, deren Inter­es­se an den Palä­sti­nen­sern gering ist – wer den Liba­non besucht und die palä­sti­nen­si­schen Slums am Stadt­rand von Bei­rut gese­hen und die ver­ächt­li­chen Wor­te liba­ne­si­scher über ihre ara­bi­schen Nach­barn gehört hat, gewinnt eine Vor­stel­lung. Gibt es einen Satz, eine Geste, eine ent­schlos­se­ne Initia­ti­ve etwa seit der Jahr­tau­send­wen­de, die irgend­ei­nem Palä­sti­nen­ser hät­te Hoff­nung machen kön­nen? Sub­stan­zi­ell ver­bin­det uns mit Isra­el nicht irgend­ei­ne inhalt­li­che kaum fass­ba­re Staats­rä­son, son­dern die Tat­sa­che, dass auch wir im glo­ba­len Nord-Westen Leben­den nach wie vor die Pro­fi­teu­re kolo­nia­li­sti­scher und ras­si­sti­scher Poli­tik und Gewalt in einem kaum abschätz­ba­ren Aus­maß sind. Die Leh­re aus der Geschich­te der letz­ten Jahr­zehn­te für jeden ein­zel­nen Palä­sti­nen­ser lau­tet: Euch wird nie­mand hel­fen – helft euch selbst.

Mit Blick auf Hamas oder His­bol­lah ist es an der Zeit, unse­re Argu­men­te mora­lisch zu recy­celn. Solan­ge die Kolo­nia­li­sten im Nord-Westen jede mani­fe­ste oder sub­ti­le Form der Gewalt gegen die Men­schen in Afri­ka, in Mit­tel- und Süd­ame­ri­ka, in Asi­en und auch im Nahen Osten für rech­tens hal­ten, wird es kei­ne fried­li­chen Lösun­gen geben; solan­ge sie ihre öko­no­mi­sche und mili­tä­risch Macht unge­straft aus­üben und zur Recht­fer­ti­gung ihres Tuns oder zur Ver­ur­tei­lung von Gegen­wehr die Moral­keu­le schwin­gen, wer­den sie sich auf befrei­en­de Gewalt, deren mora­li­sche Begrün­dung sie selbst letzt­lich gelie­fert haben, ein­stel­len müs­sen. Wir soll­ten die Gewalt der Hamas als eine so schreck­li­che wie ange­mes­se­ne Äuße­rung der Moral der Unter­drück­ten und Aus­ge­grenz­ten begrei­fen, für die es nur ein Ethos geben kann: mit allen Mit­teln frei wer­den, Hoff­nung haben. Indi­en, Bra­si­li­en, afri­ka­ni­sche und ande­re Län­der in Mit­tel­ame­ri­ka set­zen sich auf ihre Wei­se und durch­aus effek­tiv zur Wehr. Die Palä­sti­nen­ser aber sind das ver­ges­se­ne Volk, seit fast acht­zig Jahren.

Wir soll­ten begrei­fen, dass wir alle, mögen wir uns noch so kri­tisch oder ableh­nend gegen­über dem Drang­sa­lie­ren eines gan­zen Vol­kes wäh­nen, mit­ver­ant­wort­lich für die Gräu­el sind, die wir jetzt erle­ben: Aus die­ser Ein­sicht könn­te eine nicht mehr kolo­nia­li­stisch und ras­si­stisch, son­dern tat­säch­lich eine uni­ver­sell begrün­de­tet Moral ent­ste­hen. Sie wäre eine Basis für Annä­he­rung an die Palä­sti­nen­ser, an die Hamas und die His­bol­lah, für fried­li­che Lösun­gen, nach denen Judith But­ler zu Recht fragt. Aber hat sie, haben wir uns für das Lebens­recht der Palä­sti­nen­ser so ent­schlos­sen und unnach­gie­big ein­ge­setzt, dass bei ihnen Hoff­nung hät­te kei­men kön­nen? Ein gleich­be­rech­tig­tes Mit­ein­an­der, fai­rer Han­del, respekt­vol­le Begeg­nun­gen auf allen mensch­li­chen, sozia­len und poli­ti­schen Ebe­nen, die Grund­la­ge gemein­sa­mer mora­li­scher Hal­tung sein könn­ten, haben wir nicht anzu­bie­ten. Solan­ge neo-kolo­nia­li­sti­sche Inter­ven­tio­nen und ras­si­sti­sche Miss­ach­tung von Inter­es­sen, Bedürf­nis­sen und Lei­dens­pro­zes­sen der Men­schen im Süden wie im Nahen Osten das Den­ken und Ver­hal­ten der Men­schen im Nord-Westen prä­gen, muta­tis mut­an­dis ohne Aus­nah­me, wer­den wir viel­leicht 500 Jah­re der eige­nen Qua­len und Äng­ste vor uns haben. Judith But­ler hat sich vor die­ser Ein­sicht gedrückt, Clau­dia Ran­ki­ne hat ihre Unaus­weich­lich­keit in auf­rüt­teln­de Wor­te gekleidet.